608 A. Oberste Zivjigerichtsinstanz. !. Materiellrechfliche
Entscheidungen.

95. Jst-teil der I. Divilabtetlung vom 15. Bloomber1912 m Sachen genna in
geringen, Kl. und Hauptber.-Kl. gegen Him-[i, Bekl. und Anschlussber.-Kl.

Burgschaft. Unverbindliohkeit wegen Betruges durch den Gläubiger
nerd alm _Hauplsulmidner. Bezieutung unrichtiger Angaben der
Gedulagern], em Biergscfeein über die Naim der Hazeptsciessuld and
ilm- dleherheséen. Eigenart der Bürgschaft als Vertrag, bei dem sich
hauptsac'lm'ch. nur der eine Teil verpflichtet seen-i zudem zu Gunsten
eines Dritten. Erhöhte Î Vahssz'lm'lspflicllt (les Gla'eràigez-s und des
Bereit-pisclmldnee's _qegmüöer dem Beh-gen. Stellung des Hauptschuldners
als l'e'ri-retvrs des Gläubigers bei der Einholung der Bù'rgschqfl:
der Gläubiger muss daher ee'w absickéle'che Tritt-Felsweg des Bitt-geil
durch deze. Hreuptscssuldner gegen sich gelten fassen.

Das Bundesgericht hat auf Grund folgender Prozesslage:

A. Mit Urteil vom 3. Mai 1912 hat das Obergericht des Kantons Aargau die
von der Bank in Zosingen gegen Joses Stierli erhobene Klage auf Bezahlung
von 80,000 Frnebst Zins zu 5 0/0 dom Datum der Klagezufiellung (31. "da:
nuar 1911) an abgewiesen. N

B. Gegen dieses den Parteien am 8. Juni 1912 zugesiellte Urteil hat
die Klägerin rechtzeitig dieBerufung an das Bundesgericht erklärt,
mit dem Antrag auf Aufhebung des obergerichtlichen Urteils und Zusprnch
der Klage; eventuell sei die Sache zur Erganzung der Veweisaufnahme und
neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen

C:·Der Beklagte hat sich der Berufung innert Frist angeschlossen, mit
dem Begehren, es wolle dasBundesgericht, wennes nicht zur Bestätigung
des oder-gerichtlichen Urteils gelange von einer Rückweisung der
Akten an die kantonale Instanz Umgang nehmen, sofort die weiteren vom
Beklagten erhobenen Einwendungen prüer und auf Grund derselben die
Klage abweisen. Sollte das Bundesgericht Rückweisung beschliessen,
so sei die kantonale Instanz zu beauftragen, alle vom Beklagten weiter
erhobenen Fixireden zu prüer und hernach die Sache neuerdings zu beuret
en.4. Obligationenrecht. N° 95. 609

D. In der heutigen Verhandlung haben die Parteivertreter diese Anträge
erneuert und begründet; der Vertreter des Beklagteu hat in erster Linie
Abweisung der Hauptberufung und Bestätigung des angefochtenen Urteils
beantragt; --

in Erwägung:

i. Die Firma Meier, Schmid & Cie. in Altdorf schuldete der Klägerin
Anfangs Dezember 1905 insgesamt 436,689 Fr. 45 Cis. Diese Forderung war
durch Selbstzahlerschaft des Dr. Alban Müller in Altdorf, sowie durch
10 Hypothekartitel zu je 10,000 Fr. mit Pfandrecht auf die Fabrik,
denen indessen 155,000 Fr. 'vorgingen, und eine im Lagerhans Zofingen
auf den Namen der Klägerin eingelagerte Partie Waren sichergestellt.
Als die Firma Meier, Schmid & Cie. wegen schlechten Geschäftsganges
in Liquidation trat und die Fabrik an die neugebitdete Schuppeund
Cordonnetspinnerei Altdorf A.-G. überging, übernahm Dr. Müller auf
Verlangen der Klägerin die ganze Schuld von 436,689 Fr. 45 Cis. Diese
Transaktion erfolgte am ö. Dezember 1905 und wurde dem Schuldübernehmer
von der Klägeriu mit Brief vom gleichen Tage bestätigt Ein Teil der
Schuld (43,265 Fr. 75 CIB.) wurde mit einem Guthaben des Dr. Müller an
die Klägerin verrechnet, während Dr. Müller den Rest mit 393,423 Fr. 70
Ets. aus einem ihm angeblich von der Bank in Zosingen gegen Verpfändung
von Wertschriften eingeräumten Kredit bar ausbezahlt haben soll. Gegen
diese Vezahlung trat die Bank dem Dr. Müller alle ihre Rechte gegenüber
Meier, Schmid & Cie. ab, insbesondere das Fanftpfandrecht an den 10
Hypothekartiteln zu je 10,000 Fr. und an den in Zofingen eingelagerten
Waren; sie liess sich aber Titel und Waren alsbald wieder als Faustpfand
für den Kredit von 393,423 Fr. 70 Cisbeitellen und zwar als teilweise
Sicherheit und zu dem ihr gutscheinenden Wert".

Ju der Folge, d. h. mit Brief vom 9. November 1906, erklärte die Klägerin
ihrem neuen Schuldner-, dass sie vom Kreditsaldo, welcher nunmehr 345,051
Fr. 65 Cis. plus Zinsen seit 30. Juni 1906 betrage, 80,000 Fr. als
ungedeckt betrachte und dafür bis Ende November bezahlt oder durch gute
Bürgschaft gedeckt sein wolle. Die Hinterlagen und die warrantierten Waren

610 A. Oberste Zivilgerichtsinstanz. _ I. Materîellrechuiche
Entscheidungen.

stellten nur einen Wert von 266,500 Fr. dar. Die Klägerin fugte bei:
Sollte sich die Realisation des noch hier Liegenden Pfandbriefes von
100,000 Fr. (sc. der 10 Hypothekartitel zu je 10,000 Fr.) bis Ende dieses
Jahres verwirklichen, so sind wir gerne Bereit bis dahin zuzuwarten." Auf
Verlangen des Dr. Ytüller verlängerte die Bank die Frist bis Ende 1906. Da
die Frist unbenutzt ablief, wurde die Bank am 7. Januar 1907 neuerdings
bei Dr. Müller vorstellig. Dieser hatte jene tags zuvor brieftich um
Bescheinigung ersucht, dass für die zu verbürgenden 80,000 Fr. noch
Hypothekartitel ab Fabrik im Betrage von 100,000 Fr. haftetenz es würde
ihm das die Beschaffung des Burgen erleichtern. Dabei solle sie auch
anführen, welche Beträge den 100,000 Fr. auf der Fabrik vorangingen, und
ihm direkt den Bürgschaftsakt mit jener Bescheinigung senden. Er würde
dann sur mehrere Bürgen sorgen, wofür er sich aber in Anbetracht des
grossen Betrages eine längere Frist ausbedingen müsse. Daneben fanden
Besprechungen zwischen der Bank und Müller an. Am 4.· Februar 1907
übermachte ihm die Bank den Bürgscbaftsakt, unt dem Ersuchen, ihn bis
Mitte Februar mit den bezüglict)en amtlich begtanbigten Unterschriften-
versehen zurückzusenden und mit dem Beifügen, dass es sich natürlich
um habhafte Unterschriften handeln müsse. Mit Brief vom 14. Februar
1907 an Bankdirektor Richard antwortete Dr. Midler: ..... Jch hätte nun
einen Bürgen in Herrn Apotheker Stierlis in Altdorf gefunden, den andern
muss ich erst noch finden ..... Als zweiten Bürgen hfitie ich vorgesehen
meinen Nepoten Alfons Curti von Ratspersw1l ..... nun ist aber Herr Curti
ein sehr launischer Mensch; wenn ich nicht bis zu den Osterferien warten
kann, wo er jeweilen 8 10 Tage in Altdorf bei mir zubringt, so werde ich
bei ihm kein positives Resuitat erreichen; ich muss eine gute Laune bei
ihm abwarten, denn wenn er einmal nein gesagt hat,

dann List jede weitere Bemühung Umsonst ..... Wenn es Ihnen "rechi ist,
tverde ich nächsten Montag in dieser Angelegenheit personlich bei Ihnen
in Zofingen vorsprechen ..... Am 26. Fe-

bruar 1907 telegraphierte Dr. Müller an Direktor Richard: Angelegenheit
St. geregelt und am 27. Februar übersandte er der Bank den von Stierli
unterschriebenen Bürgschaftsakt, dessen Empfang die Bank mit Brief vom
1. März 1907 bestätigte

4. Obsigatianenrecht. N° 95. an

Der Bürgschaftsschein lautet wörtlich: Bür"gschaftsverpslichtung '

Die Bank in Zofingen hat dem Herrn Dr. Alban Müller in Alidorf einen
Kredit eingeräumt, der zum grössten Teil durch Werttitel gedeckt isf.

Als nicht vollständig sicher gedeckt, betrachtet die Glänbigerin
einen Betrag von zirka 80,000 Fr. Es sind allerdings für diese Summe
Obligationen der Firma Meier, Schmid & Cie. in Altdorf, beziehungsweise
deren Rechtsnachfolger im Betrage von 100,000 Fr. als Faustpfand
verschrieben; der Wert dieser Titel .,kann aber heute noch nicht mit
Sicherheit bestimmt werden.

an weitern Sicherheit für einen allfälligen Ausfall bis auf 80,000
Fr. verpflichten sich als Bürge und Selbstzahler die Unterzeichnete:t.

Zosingen und Altdorf, den 4. Februar 1907.

sig. Hans Stierli, Apotheker.

sur Beglaubigung der Echtheit der Unterschrift des Herrn Hans Stierli,
Apotheker

Altdorf, den 27. Februar 1907. Gemeindekanzlei Altdorf

Der Gemeindeschreiber: sig. Walker.

Es finden sich im letzten Satz folgende Korrekturem im ursprünglichen Wort
verpslichten ist das n durch ein t ersetzt; die ist mit ber überschrieben;
im Worte Unterzeichneten ist das Schluss-n gestrichen. Endlich befindet
sich am Ende des Wortes Bürge eine Rasur. ss

2. Der Bürge Stierli starb am 12. April 1909. Seine Erbschaft wurde
von allen Erben mit Ausnahme des Beklagten ausgeschlagen. Die Klägerin
belangte diesen am 28. Januar 1911 aus Bezahlung von 80,000 Fr. Sie
machte zur Begründung geltend, die Schuld des Dr. Müller sei durch
Kündigung und Betreibung fällig geworden; Ür. Müller habe aber seinen
Verpflichtungen nicht nachkommen können. Mit seinem Einverständnisse
habe die Klägerin die verpsändeten Titel bestmöglich liquidiert. Die
Pfandtitel von 100,000 Fr. aus die Spinnerei seien im Konkurs, der im
Jahre 1910 über die Schappeund Cordonnetspinnerei

i Simmel.)

612 A. Oberste Zivilgerichisinstanz. ]. Materielirechtîiche
Entscheidungen.

Altdorf ausbrach, vollständig verloren gegangen. Die Voraussetzungen
für die Haftung des Beklagten aus der von Hans Stierli eingegangenen
Bürgschaft seien daher erfüllt. Der Beklagte hat der Klage folgende
Einwendungen entgegengehalten: Die Klägerin sei für ihr Gnthaben an Müller
durch die Ersparniskasse Uri befriedigt worden. (Jn Wirklichkeit hat
die Erfparniskasse un der Klägerin unterm 80. Juli 1909/11. April 1910,
gegen Sistierung der gegen die Spinnerei eingeleiteten Betreibung, für
den Eingang der durch Stierli verbürgten Forderung Garantie geleistet.)
Ferner sei die Bürgschaft für den Beklagten nnverbindlich, weil
dein Burgen über die Hauptschuld irreführende Angaben gemacht worden
seien. Es sei nicht richtig, dass die Klägerin dem Dr. Müller einen
Kredit eingeräumt babe. Vielmehr habe Müller die Schuld der Firma Meier,
Schmid & (Sie. an die Klägerin übernommen, wobei die Klägerin keinen
Gegenwert in das Vermögen Müllers eingekehrt habe. Jrreführend sei auch
der weitere Inhalt des Bürgscheines: es habe der Anschein erweckt werden
wollen, der sog. Kredit sei durch die Obligationen- von 100,000 Franken
wenigstens annähernd gedeckt; es sei verschwiegen worden dass jene Titel
ganz wei-flo? gewesen seien, indem ihnen ein Vorstand von 155,000 Fr·
vorangegangen sei. Die Bürgschaft sei daher wegen wesentlichen Irrtums
oder weg-en Betruges unverbindlich Eventuell hafte der Beklagte nur für
die Hälfte von 80,000 Fr., da ein zweiter Barge in Aussicht genommen
worden sei und Stierli in dieser Meinung und Erwartung die Bürgschaft
eingegangen sei. Übrigens sei die Bürgschaft auch aus diesem Grunde
für ihn ganz unverbindlich Endlich sei sie infolge Aufgebens der
Sicherheiten durch die Klägerin erloschen. Auch müsste, da es sich um
eine Schadlosbürgschast handle, die Klägerin den Ausfall beweisen; ein
solcher bestehe aber gar nicht. Beide kanionaien Jitstanzen haben sich
auf die Prüfung der Einrede des Irrtums und Betruges beschränkt und sind
in Gntheissnng dieser Einrede zur Abweisung der Klage gelangt. Die obere
kantonale Instanz hat den von der Klägerin offerierten Beweis über ihre
Behauptung, dass Stierli über die Verhältnisse aufgeklärt worden fei,
durch Einvernahine des Dr. Alban Müller in der Strafanstalt Altdorf
abgenommen

4. Obligationenrecht. N° 95. 613

3. Es steht fe, dass der Inhalt der Bürgschaftsverpflichtung in mehrfacher
Hinsicht den tatsächlichen Verhältnissen nicht entspricht. Unrichtig und
irreführend ist schon die Angabe, die Bank in Zofingen habe dem Dr. Alban
Müller einen Kredit eingeräumt. Unter Krediteinräuinung versieht man in
der Untgangssprache Gewährung eines Darlehens, insbesondere durch eine
Bank, ans Grund eines Krediteiöffnungsvertrages. Nun hat die Klägerin
mit Müller einen solchen Vertrag nicht abgeschlossen; Müller hat bei ihr
ein Darlehen überhaupt nicht aufgenommen Die fog. Krediteinräuniung
vom ö. Dezember 1905 war nur eine finanzielle Operation, durch welche
Dr. Müller als Bürge und Selbstzahler für Meier, Schmid & Cie. den über
sein Guthaben bei der Klägerin hinausgehenden Restbetrag der Schuld
jener Firma an die Klägerin mit 393,423 Fr. 70 Cis. bezahlte. Mit
andern Worten: Müller trat an Stelle der ursprünglichen Schuldner-in
in das Schuldverhältnis ein; er übernahm die Schuld ohne irgend einen
Gegenwert dafür zu erhalten. Es hatte nicht einmal eine vorgängige
Krediteinriiuinung stattgefunden, in der Weise, dass der Kredit zur
Tilgnng der Schuld von Meier, Schand & Cie. verwendet wurde. Müller wurde
einfach mit dem sogen. Kreditbetrag belastet, der in Wirklichkeit ein
Schuldübernahinebv trag war, und verpfändete der Klägerin gleichzeitig
die auf ihn übergegangenen Faustpfänder von Mein-, Schmid & Cie., sowie
eine Anzahl weiterer Titel.

Wenn es im Bürgschein weiter heisst, dass die Bank einen Betrag von
zii-ka 80,000 Fr. als nicht vollständig sicher gedeckt betrachte,
es seien allerdings für diese Summe Obligationen der Firma Meier,
Schmid & (Sie. bezw. deren Rechtsnachfolger tin Betrage von 100,000
Fr. als Faustpfand verschrieben, der Wert dieser Titel könne aber
noch nicht mit Sicherheit bestimmt-werden, so liegt auch hierin eines
Verschleierung des wirklichen·Sachverhalls. Die Klägerin wusste, dass die
10 Hypothekartitel zuge 10,000 Fr. mit Pfandrecht auf die Fabrik (datum
handelt es sich und nicht um Obligationen der Schappespinnerei Altdorf)
in Wirklichkeit wertlos waren oder jedenfalls einen sehr geringen Wert
dar-stellten. Gingen doch diesen Titeln andere im Betrag von vollen
155,000 Fr. vor. Die Klägerin hat denn auch in der

624 A. Übersee Zivilgerichlsinstanz. _ [. Materiellrechfliche
Entscheidungen-

Korrespondenz mit Dr. Müller jene Titel selber wiederholt als wertlos
bezeichnet. Dazu kommt, dass die angeblichen Obligationen der Klägerin
nicht speziell für den if,nicht vollständig sicher gedeckten Betrag von
80,000 Fr. verschrieben waren.

Alle diese Unrichtigkeiten mussten im Bin-gen irrtümliche Vorstellungen
erwecken, wie die Vorinstanzen zutreffend ausgeführt haben. Das
nämliche gilt vom Schlusssatz, worin die Bürgschaftssumme umschrieben
wird als der allfällige Ausfall bis auf 80,000 Fett-, während doch aus
der Korrespondenz zwischen der Klägerin und dem Hauptschuldner deutlich
hervorgeht, dass die Bürgschaft für den ganzen tatsächlich ungedeckten
Betrag von 80,000 Fr. gewollt war.

4. Es fragt sich nun, welche rechtliche Folge diesen Tatsachen zukommt,
insbesondere, ob die Bürgschaft infolge der unrichtigen Angaben über
ihren Inhalt für den Bürgen under-bindlich ist. Dass ein Jrrtum im Burgen
erregt wurde, ist zweifellos-, wenigstens hinsichtlich des Charakters
der Hauptschuld und ihrer Sicherheiten, und wurde heute vom Vertreter
der Klägerin ohne Grund bestritten. Zuzugeben ist lediglich, dass der
Kredit im Bürgschaftsakt nicht als ein erst zu erteilender bezeichnet ist,
was indessen von den Vorinsianzen auch nicht behauptet wurde. Fraglich
ist nur, ob der Jrrtum ein wesentlicher im Sinne von Art. 18 und 19
aOR sei oder ob er durch betrügerische Handlungen der Klägerin im Sinne
von Art. 24 aOR herbeigeführt wurde. Es empfiehlt sich, letztere Frage
zunächst zu untersuchen.

Zum zivilrechtlichen Betruge oder zur absichtlichen Täuschung nach dem
Sprachgebrauch des revidierten OR gehört neben der Jertumserregung
einmal Rechtswidrigkeit, sodann Absichtlichkeit und endlich der
Kansalzusammenhang zwischen Irrtum und Verrragsabschluss, d. h. es muss
der Betrogene durch die Täuschung zum Abschluss des Vertrages verleitet
worden sein.

Bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit erhebt sich die schwierige Frage,
wie weit die Nechtspflicht der Wahrhaftigkeit im Verkehr reicht. Mit Recht
gehen Doktrin und Praxis im allgemeinen davon aus, dass sie grundsätzlich
grösser ist, wenn positive Tatsachen behauptet, als wenn Tatsachen
verschwiegen werden. (Vergl. v. zum, Mängel des Vertragsabschltisses,
in Zeitschr-. f. schw.

4. Obligationenrecht. N° 95. 615

R. 17 S. 6 ff., sowie Oser, Komm. z. OR, ad Art. 28 S. 118 f. u. die
dort. girate.) Beim vorliegenden Bürgschein, der zugegebenermassen
durch die Klägerin ausgesetzt wurde, handelt es sich aber weniger um das
Verschweigen bestimmter Tatsachenals um positive unrichtige Angaben über
die Hauptschuld und ihre Sicherheiten, über ihren rechtlichen Charakter
und ihre finanzielle Tragweite. Bei der Würdigung dieser unrichtigen
Behauptungen ist vorab auf die Natur der Bürgschaft abzustellen als eines
Vertrages-, bei dem sich hauptsächlich nur der eine Teil verpflichtet
und zwar zu Gunsten eines Britten, des Hauptschuldvers. Dabei sind an
die Verkehrstreue, an die Wahrheitspflicht des Gläubigers im besondern,
höhere Anforderungen zu stellen als wenn die Vertragsparteien sich im
Gegensatz der Interessen gegenüberstehen wie beim Kauf. M. a. W.: die
Bürgschaft steht kraft ihrer Eigenart in erhöhtem Masse im Schutz der
Bestimmungen über Treu und Glauben im Rechtsverkehr (Art. 2 Abs.1
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
1    Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
2    Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.
ZGB),
wie auch aus dem Erfordernis der schriftlichen Vertragsform erhellt. Jst
dem so, so erscheinen derart unrichtige Angaben über Verhältnisse, die für
den Bürgen von erheblicher Bedeutung waren, als rechtswidrig, zumal wenn
die persönlichen Verhältnisse der Beteiligten in Betracht gezogen werden,
was die Vorinstanz unterlassen hat: als Gläubigerin eine Bank, zu deren
Wort der tun Bürgschaft Angegangene naturgemäss Vertrauen zu haben pflegt
und Vertrauen haben darf; als Bürge ein Freund des Hauptschuldners, ein
von ihm viel in Anspruch genommener, in Finanzsachen offenbar nicht sehr
gewandter, älterer Mann. Richtig ist freilich, dass der Gläubiger den
Bürgers nicht über alle finanziellen Verhältnisse des Hauptschuldners
aufzuklären hat (vergl. BGE 25 II S. 574 f. (Sir-w. 4). Es hiesse aber
die tatsächlichen Verhältnisse und die besonderen Umstände des Falles
verkennen, wenn man es dem Bürgen Stierli zum Verschulden anrechnen
wollte. dass er sich vor Eingebung der Vitrgschaft über die Beschaffenheit
der zu verbürgenden Schuld nicht selber weiter erkundigt hat.

Erfüllt ist in casu auch das Erfordernis der Absichtlichkeit der
Jrrtumserregung und zwar liegt sowohl Vorsatz als Absicht im engeren
Sinne vor (vergl. Oser, S. 119). Einerseits ergibt sich aus den Akten
mit Bestimmtheit, dass der Klägerin die Unrichtig-

616 A. Oberste Zivilgerichtsinstanz. l. Materieurechtliche Entscheidungen.

keit der im Bürgschaftsakt enthaltenen Angaben bekannt war, und anderseits
war die Absicht, den Burgen durch die falschen Angaben zur Eingebung der
Bürgschaft zu verleiten, jedenfalls beim Hauptschuldner vorhanden. Bei
der Einholnng der Bürgschaft handelte aber der Hauptschuldner Müller
als Vertreter der Klagerin, da ja die Bürgschaft ein Vertrag zwischen
dem Gläubiger Und dem Bitt-gen ist (aOR 489), worauf die Vorinstanz
zutreffend hingewiesen hat. Folglich muss die Klägerin die erfolgte
absichtliche Täuschung des Stierli durch Dr. Müller gegen sich gelten
lassen; der Irrtum, in dem Stierli befangen war, ist als durch sie selber
herbeigeführt zu betrachten. Übrigens ist auch hier zu betonen, dass
nicht der Hauptschuldner, sondern die Klägerin selber den Bürgschaftsakt
ausgesetzt hat· Ausfallend ist ferner-, dass sie darin bei den Pfandtiteln
von 100,000 Fr. den Vorgang von 155,000 Fr. nicht angegeben hat, obschon
sogar Dr. zMüller sie darum ersucht hatte.

Es bleibt zu untersuchen; ob der Kausalzusammenhang zwischen der
Jirmniserregung und der Eingebung der Bürgschaft durch

Stierli gegeben sei. Auch das ist zu bejahen. Ein Anhaltspunkt

dafür-, dass Stierli irgendwie über die wahre Beschaffenheit und
die Entstehung der von ihm verbürgten Schuld aufgeklärt worden fei,
besteht nicht. Der Hauptschuldner Midler, der von der Klägerin als
Zeuge angerufen wurde, hat zugegeben, dass er dem Stierli weder vor
noch nach der Unterzeichmmg desBiwgscheines mitgeteilt habe, dass der zu
verbingende Betrag in Wirklichkeit einen Teil der bon der Firma Meter-,
Schmid & (Sie. übernommenen Schuld bilde. Also liegt eine Unterbrechung
des Kausalzusammenhanges wegen Kenntnis des Burgen von der wirklichen
Sachlage jedenfalls nicht vor. Doch fragt sich weiter, ob nicht Stierli
die Bürgschaft auch dann eingegangen wäre, wenn er vom wahren Sachverhalt
Kenntnis gehabt hatte, und ob nicht der Kausalzusamtnenhang aus diesem
Grunde fehle. Zur Begründung dieses Standpunktes hat der Vertreter
der Klagerin heute mit Nachdruck betont, dass Stierli und Müller die
Pfandtitel von 100,000 Fr als vollwertig betrachtet hätten, wie aus der
Einvernahme Müllers hervorgehe, und dass Stierli infolgedessen der Natur
der Hauptschuld wesentliche Bedeutung nicht beigemessen hatte. Dem ist
ent- gegenzuhalten, dass der nämliche Zeuge erklärt hat, Stierli habe
vom Vorgang von 155,000 Fr. gewusst. Jst diese Aussage richtig,

4. Obligationem'echt. N° 96. 617

was nach den massgebenden Feststellungen der Vorinstanz anzunehmen
ist, so konnte Stierli die Pfandtitel unmöglich als vollwertig
betrachten. Entscheidend ist sodann, dass der Hauptschuldner Müller
die der Bürgschaft zu Grunde liegende Schuld in Wirklichkeit von der
nämlichen infolventen Unternehmung übernommen hatte, auf welche die
Pfandtitel lauteten, deren unsicherer Wert- die Klägerin veranlasste,
vom Hauptschuldner die streitige Bürgschaft zu verlangen. Dass Stierli den
Bürgschein nicht Unterschrieben hatte, wenn er hievon gewusst hatte, liegt
dermassen auf der Hand, dass es einer weiteren Erörterung nicht bedarf.

5. Ob ein wesentlicher Irrtum im Sinne von Art. 18 und 19 aOR vorliege,
braucht danach nichtgeprüft zu werden; ebensowenig, ob die Bürgschaft
deshalb unverbindlich sei, weil sie in der Voraussetzung eingegangen
wurde, es werde sich ein zweiter Bürge mitverpflichten. Ausser Betracht
fallen ferner alle übrigen vom Beklagten erhobenen Einreden. Endlich
wird durch die Bestätigung des vorinstanzlichen Urteils sowohl der
eventuelle Rückwei' sungsantrag der Klägerin als die vom Beklagten
erhobene AnschlussBerufung gegenstandslos; --

erkannt:

1. Die Hauptberufung der Klägerin wird abgewiesen und das Urteil des
Obergerichts des Kantons Aargau vom 3. Mai 1912 in allen Teilen bestätigt.

2. Die Anschlussberufung des Beklagten wird als gegenstandslos geworden
abgeschrieben

96. Amrèt de 131" section civile du 16 novembre 1912 dum la cause Hoirs
Bertherarsi, déf. et rec., et Corbet, def., contre Hoirs Eugen, dem. et
int. Responsabilité du maitre pour le; actes de ses employés; dom-

mnge vutigiä ensemble par eux (CO de 1881, art. 62 et 69). --

Solidarité imparfaite (Unéchte Solidarität). Concurrence d'actions
(CO de 1881. art. 163 et 168).

A. Feu Nicodème Berthemt, dit Pacem-d, exerqait à si Genève la profession
de rebouteur. Tous les lundis il se rendait dans l'enclave geuevoise de
Céiigny où il ssdonnait des
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 38 II 608
Datum : 15. Januar 1912
Publiziert : 31. Dezember 1913
Quelle : Bundesgericht
Status : 38 II 608
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : 608 A. Oberste Zivjigerichtsinstanz. !. Materiellrechfliche Entscheidungen. 95.


Gesetzesregister
ZGB: 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
1    Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
2    Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.
BGE Register
25-II-569
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
beklagter • wert • vorinstanz • fabrik • burg • brief • albanisch • betrug • hauptschuld • frist • richtigkeit • unterschrift • faustpfand • bundesgericht • apotheke • irrtum • tag • falsche angabe • bescheinigung • charakter
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