164 A. Staatsrechlliche Entscheidungen. [V. Abschnitt. Staatsverträge.

sein, und bei der verhältnismässig geringen Schwere der Polizeivergeben
musste sie überhaupt dem Gesetzgeber fern gelegen haben. Dazu kommt
noch, dass das Kriminalstrafgesetz in § 65 a ausdrücklich selbst für
die Verbrechen von jedem Akte der gerichtlichen Verfolgung an eine neue
Verjährungsfrist laufen lässt.

Nach der Darstellung des Haftbefehles ist es nun im vorliegenden
Straffalle bis zur Anfetzung einer Hauptverhandlung gekommen und zwar
datiert der vom Verfolgten eingelegte Beschluss des Strafgerichtes
auf Eröffnung des Hauptverfahrens vom LT. Mai 1909. Von da an bis
zum Erlass des Haftbesehles vom 20. Januar 1912 hat eine weitere
Strafoerfotgungshandlung gegen den Angeschuldigten nicht stattgefunden
und für das ihm zur Last gelegte Vergehen ist somit nach dem Rechte des
Zufluchtsortes die Verjährungssrisi abgelaufen.

Der § 33 des Polizeistrasgesetzes bestimmt nun freilich noch, dass
die Verjährungnur dem zu statten femme, der, soweit es die Natur des
Vergebens zulasse, Wiedererstattung geleistet und kein neues Vergehen
in der Zwischenzeit verübt habe. Beide Voraussetzungen treffen aber
hier zu: Wiedererstattung ist dem Verletzten dadurch geleistet worden,
dass ihm der Vater des Versolgten laut den beigebrachten Belegen (oben
BI 3-47) auf Grund der gerichtlich geltend gemachten Gesamtentschädigung
eine yet-gleichsweise festgesetzte Entschädigungssumme nebst dem Betrag
der erlaufenen Kosten bezahlt hat. Dass der Ersatz durch den Schädiger
persönlich zu leisten sei, ergibt sich aus der genannten Bestimmung
nicht und übrigens darf füglich als die Meinung der Parteien bei dieser
vergleichsweisen Erledigung angenommen werben, ber Vater Kickhöfel habe
zugleich für seinen Sohn, den eigentlichen Schadensstifter, bezahlt. Dass
ferner der Berfolgte in der lZwischenzeit kein neues Vergehen verübt
habe, kann nach den beigebrachien guten Leumundszeugnissen und mangels
jedes gegenteiligen Anhaltspunktes als erstellt gelten.

Somit ist in der Tat die Verjährung nach dem luzernischen Rechte als dem
des Zufluchtsortes gegeben. Nach dem Rechte des Heimatstaates Deutschland
braucht sie nicht vorzuliegen (vgl. AS 26 I S. 479 Erw. 3) und daher ist
auch nicht zu untersuchen, ob sie auch nach der deutschen Gesetzgebung
eingetreten sei.

.... Auslieferung-Merng mit dem Deut-Scheu Reiche. N° '24. [65

3. Mit dem Gesagten wird eine Prüfung der andern noch geltend gemachten
Einsprachegründe (oben B Ill und IV) überflüssig_

Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Die Einspraehe des Ernst Kickhöfel gegen das von den kaiserlich-deutschen
Behörden gestellte Auslieferungsbegehren wird gutge- heissen und somit
die verlangte Auslieferung nicht bewilligt.

24. Zweit vom 14. Juni 1912 in Sachen gremite.

Zulässigkeit eines We c hs e ls des dem Auslieferungsbegehren
zu Grunde gelegten Haft be fe hl s wiihrend der Pendenz des
Begehrens. -Zuständigkeit des Bu nd e s ra te 3 zur Anwendung von
Art. 2 Abs. 3 des sch weh.-deutschen AusL-V. ; mangelnde Legitimation
des Auszu liefernd en zu dessen Anrufung. Die Kognitionsbefugnis des
AusHeferungsrichters (Art. 23 u. 24 AustG ; Art. 181 OG) erstreckt
sich n i c ht auf die Prüfung der Sc h u ldfr ag e. Begünstigung eines
Auslieferungsdelikies als Auslieferungstatbestand im Sinne von Art. 1
des schweiz.-deutschen Ausl.-V., gemäss authentischer Vertragsauslegung
des Bundesrates durch. G e g e n r e c h ts v e r e i n ba r u ng mit
Deutschland Bejahtmg dieses Auslieferungstatbestandes (Begünstigung
eines nach dem den ts c h en Recht strafbaren Me ineides}.

Das Bundesgericht hat auf Grund folgender Aktenlage:

A. anolge eines Haftbefehls des Untersuchungsrichters II beim kaiserlichen
Landgericht zu Strassburg i. E vom 23. März 1912, waren die Eheleute
Hermann Schuette, Dentist, und Paula geb. Adler-, Bürger der Vereinigten
Staaten Von Nordamerika, in Basel, wohin sie sich von ihrem frühem
Wohnort Halberstadt begeben hatten, unter der Anschuldigung, den Eheleuten
Dr. Karl Schäfer und Natalie, gel). May verwitw. Adler, zur Sicherung der
Vorteile eines von ihnen angeblich begangenen JJJieineideszL wissentlich
Beistand geleistet zu haben, verhaftet und die in ihrem Besitze gefundenen
Wertpapiere wie auch der Inhalt der von ihnen

I-siîfi A, Staatsrechtltclte
Entscheidungen. IV. Abschnitt. Slaaisvr'rti'iige.

Dei der Schweiz. Kreditanstalt in Basel und bei der Bank in Winkel-thirty
Filiale Ziiritlr gemieteten Tresorfächer mit Beschlag belegt werden-

ssliiit Note vom li'. April l912 hatte hierauf die kaiserlieh deutsche
listesandtschaft in Berti beim Bundesrate die Auslieferung der
beiden, zum Zwecke ihrer Strafverfolgung in Deutschland nachgesucht
Jn der Folge hat die Gesandtschaft jedoch gegenüber dem Protesie
der Elteleute die inzwischen provisorisrtt wieder auf freien Tyus;
gesetzt worden fim und nach dem Ergebnis- weiterer (E·rhebnngen mit
Note dont '20. Mai il)l? dasjAusliefernugssbegehren gegenüber dem
(bemmin Sttmette zuriutgezogtut und nur gegenüber der lihesram unter
Verlegung eine-J neuen .F)aftbefel)ls":s dei Uutersuchungdriehtersz lI
beim Landgericht Strafebut-g,oo1n ii. Mai 1919, aufrecht erhalten. Die
Auslieferung wird verlangt auf Grund von Art. 1 für. H und Art. S)
bei-schweizerisch-deutschen ?lnèlieferungèrertrage 5 vom 94. Januar 1874,
sowie der im Falle Spring zugesicherten Gegenseitigkeit

Nach dem neuen Haftbefehl wird Frau Paula Schuette geb. Adler beschuldigt,
in fortgesetzter Begehung, ihres Vorteils wegen, seit dem 20. Juli 1907 im
Jnlande, insbesondere in Halberstadt und Strassburg, dem Dr. Karl Schäfer
nach Begehung eine-:Verbrechens Leistung eines Meineides wissentlich
Beistand geleistet zu haben, um ihm die Vorteile des Verbrechens zu
sichern.

Der dieser Anschuldigung zu Grunde liegende Tatbestand dei:Fkaftbefehls
lässt sich wie folgt zusammenfassens Dr. jur. Karl Schäfer in Strassburg,
der im August 1906 mit Witwe Adler, der Mutter der Frau Schnette,
eine zweite Ehe eingegangen sei, habe am 20. Juli 1907 in einer
Zwangsdollstreckung, die seine von ihm geschiedene Frau erster Ehe
gegen ihn eingeleitet hattevor dem Amtsgericht Strassburg i. E. den
Offenbarungseid geleistet und dabei wissentlich folgende Vermögenswerte
verheimlicht:

1. Die Unterhaltungsansprüche gegen seine Frau zweiter Ehe auf Grund eines
Ernährungsvertrages vom Juli 1905, wodurch jene damals noch Snitroe Adler
gegen Übergabe von Werttiteln im Betrage von rund 35,000 D.lè'f. sich
verpflichtet hatte, ihm freie Wohnung und standesgemässen Unterhalt zu
gewähren ;

IH, Auslieterungsvertrag mit dem Deutschen Reiche. NO 24. 167

3. 21,000 Mk. Rheinstahlund 15,t")()0 Mk. Hansa-Aktien;

It. 4000 Fr. Obligationen der Bank für elektrische Industrie und 1000
Fr. Obligationen der Bank für orientalische Eisenbahnen.

Ende Oktober oder November 1907 habe Frau Schuette, zusammen mit ihrem
Ehemann, in Halberstadt einen auf den (i. September 1906 dordatierten
Vertrag unterzeichnet, durch den sinkdie Eheleute Schuette verpflichtet
hätten, dem Dr. Schäfer standesgetnässen llnterhalt zu gewähren,
sobald Frau Schäfer dies nicht mehr tun könne, und zwar gegen einein
die Hände der Frau Schäfer gegebene Gegenleistung, bestehend in den
erwähnten Rheinstahlund Oansa-Aktien, die tatsächlich nach Weihnachten
1906 von Frau Schäfer auf Veranlassung ihres Mannes bei zwei Banken
in Olten (die Mäntel bei der Solothnrner Kantonalbank daselbst, und
die Dividendenbogen bei der Oltener Ersparniskasseh auf den zitamen
von Frau Schuette hinterlegt worden seien. Aus den Umständen, unter
denen diese Vertrags-unterzeichnung erfolgt sei, insbesondere auch
aus der Vordatiernng des Vertrages in die Zeit r r der Eidedablegnng
durch Schäfer-, sei zu schliessen, dass Frau Schuette schon damals von
jenem Eide Kenntnis gehabt habe. Jedenfalls aber habe sie nach ihrer
eigenen Angabe später, im Jahre ,1909, davon gehört und trotzdem noch
im Jahre 1911 über die auf ihren Namen hinterlegten Werte verfügt und
so zur Verdunklung der Vermögens-lage Schäfer-S beigetragen. Sie habe
nämlich dieMäutel der Hund-Aktien durch eigene schriftliche Weisung aus
Hatberstadt vom 2. August 1911 von der Solothurner Kantonalbaut in Olten
zurückgezogen und die Aktien später in Deutschland verkauft. Ferner habe
sie im Oktober 1911 auch die Rheinstahl: Aktien in Olten abheben und auf
ihren Namen bei der Schweiz. Kreditanstalt deponiereu lassen. Endlich habe
sie im März 1912 auch noch andere Wertpapiere aus dein Vermögen Schäfers-,
deren Herkunft ihr bekannt gewesen sei, in ihr Tresorfach bei der Bank
in Winterthur in gm-ia) verbracht. Und die oben erwähnten Jbiigationen
von 4000 Fr. der Bank für elektrifcbe Jndustrie mtb-1000 Fr. der Bank
für orientatiseoe Eisenbahnen seien den t9:ss.sle111e113cbuette bei
ihrer Verbafiung in Basel abgenommen werden, :'Ule diese dsmindlnngen
(di; zwar, soweit im Auslande be

168 A' Staatsrechtlichc Entscheidungen. IV. Absclmitt. Staatsverträge.

gangen, für die Strafverfolgung in Deutschland nicht in Betracht fielen)
seien bezeichnend für das Bestreben der Frau Schuette, das von Schäfer
herrührende Vermögen vor anriffen Dritter sicherzustellen.

Jn rechtlicher Hinsicht verweist der Haftbefehl auf § 257 mit Beziehung
auf § 153 des Reichsstrafgesetzbuches (NSW). Diese Bestimmungen Muten:

§ 257. Wer nach Begehuug eines Verbrechens oder Ver-gehend dem Täter oder
Teilnehmer wissentlich Beistand leistet, um denselben der Bestrafung
zu entziehen oder um ihm die Vorteile des Verbrechens oder Vergehens
zu sichern, ist wegen Begünstigung mit Geldstrafe bis zu sechshundert
Mark oder mit Gefängnis bis zu einem Jahre und, wenn er diesen Beistand
seines Vorteils wegen leistet, mit Gefängnis zu bestrafen. Die Strafe
darf jedoch, der Art oder dem Masse nach, keine schwerere feinals die
auf die Handlung selbst angedrohte.

Die Begünstigung ist straflos, wenn dieselbe dem Täter oder Teilnehmer von
einem Angehörigen gewährt worden ist, um ihn der Bestrafung zu entziehen.

Die Begünstigung ist als Beihilfe zu bestrafen, wenn sie vor Begehung
der Tat zugesagt worden ist. Diese Bestimmung leidet auch auf Angehörige
Anwendung.

§ 153. Wer einen ihm zugeschobenen, zurückgeschobenen oder auferlegten
Eid wissentlich falsch schwört, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren
bestraft.

B. Frau Schuette hat gegen das neue Auslieferungsbegehren wiederum
protestiert und in mehreren Eingaben ihres Rechtsbeistandes an das
eidgenössische·Justizund Polizeidepartement und an das Bundesgericht
folgende Einwendungen erhoben:

1. Das vorliegende Auslieferungsbegehren sei schon formell unstatthaft;
denn es gehe nicht an, den zunächst erlassenen Haftbefebl nachträglich,
nachdem dessen Behauptungen nicht hätten bewiesen werden können, durch
einen neuen Haftbefehl mit ganz anderem Tatbestande zu ersetzen.

2. Da Frau Schuette nicht deutsche Reichsbürgerin, sondern amerikanische
Staatsangehörige sei, stehe ihr nach § 2 StGB des Kantons Basel-Stadt
das Recht zu, wenn sie wirklich eine straf-

lll. Auslieserungsvertrag mit dem Deutschen Reiche. N° 24. 169

bare Handlung begangen haben sollte, dafür in Basel beurteilt, also
nicht gegen ihren Willen ausgeliefert zu werden.

3. Es fehle ieder Nachweis dafür, dass Dr. Schäfer wissentlich einen
Meineid geschworen und dass Frau Schuette gewusst habe und habe wissen
müssen, dass eine wissentlich falsche Eidesleistung vorliege.

4. Die der Frau Schuette zur rast gelegte Begünstigung eines Verbrechens
bilde nach dem Staatsvertrage zwischen der Schweiz und Deutschland
überhaupt keinen Auslieferungsgrund Überdies wäre das angebliche Delikt
der Begünstigung in der Schweiz begangen und die Auslieferung auch
deshalb nicht zu bewilligen.

C. Mit Inschrift vom :"). Juni 1912 hat das eidg. Justizund
Polizeidevartement die Akten dem Bundesgerichr übermittelt, damit es
über die Ausliefernngseinsprache der Frau Schuette entscheide.

Daibeigelegte Gutachteu der Bundesanwaltschaft schliesst dahin, eLJ sei
dem AuStieferungsbegehren zu entsprechen: --

in Erwägung:

t. Die formelle Bemängelung des Auslieferungsbegehrens durch Frau
Schnette ist haltlocs. Der Haftbefehl entspricht den in Art. 'Î des
Achlieferungsvertrages zwischen der Schweiz und dem deutschen Reiche,
vom 24. Januar 1864, aufgestellten Erfordernisfen, da er sowohl die
Art und Schwere der verfolgten Tat, als auch die darauf anwendbaren
strafgesetzlicheu Bestimmungen angibt. Dass er in Ersetzuug eines
früheren, in der Folge zurückgezogenen Haftbefehles erlassen worden ist,
berührt seine vertragsgemäsze Wirksamkeit für das Auslieferungsverfahren
nicht.

2. Ebenso unbegründet ist der weitere Einwand, den Frau Schnette auf
ihr amerikanische-s Staatsbürgerrecht stützt. Nach Art. 2 Abs. Tit des
schweizerisch-deutschen Auslieferungsvertrages kann der Stunt, von dem die
Auslieferung einer in keinem der beiden Vertragsfiaaten heimatberechtigten
Person verlangt wird, zunächst dem dritten Heimatstaate dieser Person
Gelegenheit geben, sich darüber auszusprechen ob er seinen Angehörigen
zum Zwecke der Aburteiluug beansprucht, und sofern dieser Anspruch
erhoben wird, taan die Regierung des ersuchten Staates nach ihrer Wahl-
dem einen oder dem andern der beiden Auslieferung-We-

170 KI 'Stnatsrechfliche Entscheidungen. [V. Abschnitt. Staatsverträge.

gehren entsprechen. Es ist also ausdrücklich ins Belieben des ersuchten
Staates gestellt, den dritten Heimatstaat des Verfolgten im Sinne dieser
Vertragsbestimmung zu begrüssen, und der Verfolgte selbst hat unter keinen
Umständen irgend einen Rechtsanspruch darauf, dass dies geschehe. Übrigens
ist der Entscheid hierüber, wie eventuell über die Frage, an welchen der
beiden die Strafverfolgung beanspruchenden Staaten auszuliefern sei,
auf Seite der Schweiz zweifellos nicht vom Bundesgericht, sondern vom
Bundesrate zu treffen.

3. Die Behauptung der Frau Schuette sodann, dass der Tatbestand der ihr
zur Last gelegten Begünstigung eines Meineides des Dr. Schäfer nicht
nachgewiesen sei, ist für das Auslieferungsverfahren unerheblich. Nach
feststehender Praxis ('dgi. z. B. AS 321 aièr. 18 Erw. 1 S. 122, *)èr. 47
Erw. 2 S. 330 f., Nr. 49 Er1v.2 S 345 f.)-hat sich das Bundesgericht
als Auslieferungss gerichtshof im Sinne der Art. 23 und 24 BG betr. die
Auslieferung gegenüber dem Auslande vom 22. Januar 1892 und des Art·18si
LG mit der Frage, ob der Verfolgte der strafbaren Handlung, wegen
der seine Auslieferung verlangt wird, wirklich schuldig sei, nicht zu
befassen, sondern in materieller Hinsicht lediglich zu prüfen, ob der im
Haftbefehl angerufene Tatbestand alzò solcher nach Gesetz, ztaatdvertrag
oder Gegenrechtserklärung sich als Auslieferungsdelikr darstetle Es kann
sich somit vorliegend nicht auf eine Untersuchung darüber einlassen, ob
der Nachweis erbracht sei, dass Dr. Schäfer wisseutlich einen falschen
Eid geschworen und Frau Schuette zu massgebender Zeit hievon Kenntnis
gehabt habe.

4. _ Für die Beurteilung der von Frau Schuette in letzter Linie auch noch
bestrittenen Hauptfrage, ob die Begünstigung eines Meineides, worauf
der Haftbesehl sich stützt, gegenüber Deutschland als Auslieferung
sdelikt anzuerkennen sei, fällt zunächst der Auslieferungsvertrag in
Betracht. Laut dessen Art. 1 haben sich die beiden Vertragsstaaten zur
gegenseitigeu Auslieferung derjenigen Personen verpflichtet, die wegen
einer sder in dem Artikel einzeln aufgezählten Handlungen, sei es als
Urheber, Täter oder Teilnehmer, im einen Staate verfolgt werden. Unter
Ziffer 14 ist sodann der Meineid als Auslieferungsdelikt aufgeführt. Von
der Begünstigung dagegen spricht der Vertrag ausdrücklich nicht.

.... Auslicferungsvertrag mit dem Deutschen Reiche. N° 24. 171

TIiese könnte demnach nur darunter bezogen werden, wenn bei Begunstigung
eines Auslieferungsdeliktes der Begünstiger als eine Art Teilnehmer im
Sinne des Art. 1 aufzufassen wäre, nicht aber als selbständiges Delikt,
wie das deutsche Strafgesetzbuch sie im hier gegebenen Falle (wo sie
dem Täter nicht schon vor Begehuug der begünstigteu Straftat zugesagt
worden ist) nach § 257 Abs. 1 behandelt.

Nun ist bereits in dein von der deutschen Gesandtschaft neben dem
Verträge angerufenen Falle Spring deutscherfeits eine Auslieferung wegen
Begünstigung eines Auslieferungsdeliktes nach vorgangigen Unterhandlungen
der beiden Regieruugen bewilligt worden. Ter Bundesrat bat über diesen
Fall in seinem Geschäftsbericht an die Bundesversammlung vom Jahre 1888
wesentlich folgende Mitteilungen gemacht tBBl 1885) II S. 769 Ziffer 5):
Gegenüber dein Begehren der Schweiz um Auslieferung der Ehefrau Spring
(die wegen Begünstigung eines ihrem Ehemann zur Last gelegten Diebstahls
verfolgt worden ici) habe Deutschland darauf hingewiesen, dass im
Auslieferungsvertrage vom Jahre 1874 die Begitnstigung nicht vorgesehen
sei und dass somit eine Auslieferung nur. dann beansprucht werden könne,
wenn die als Begünstigung bezeichnete Handlung nach deutschem Rechte
unter den Begriff der Teilnahme (Beihülfe) falle, was indes gemäss § 257
Abs. 3 JliStG nur zutreffe, wenn die Begünstigung vor der Tat zugesagt
worden sei. Obschon fährt der Bericht dann fort der Ehefrau Spring eine
Begünstigung in letzterem Sinne nicht nachgewiesen werden konnte, so
erachteten wir dennoch das Auslieferungsbegehren auch gegenüber dieser
Person als vertragsgemäss begründet, indem der Auslieferungsvertrag
im Eingang von Ari. 1 jede Art von Teilnahme in sich schliesst und in
der Praxis eine so enge Begrenzung der Auslieferungspflicht auf die
vor Verübung des Verbrechens zugesicherte Begünstigung biscîthin nicht
üblich gewesen war. Die Auslieferung der Frau Spring wurde hierauf von
den deutschen Behörden bewilligt, mit der Begründung, dass, nachdem
von Seite der Schweiz die Gegenseitigkeit als verbürgt erscheine,
keine Bedenken obwalten, das Wort Teilnehmer im Eingange von Art. 1 des
Auslieferungsvertrages in diesem weitern Sinne zu ver-stehen

Nach dieser Kundgebung des Bundesrates muss in der Erledi-

172 Léèaatsrechtlicbe Entscheidungen. lV. Abschnitt. Staassverträge.

gung des Auslieferungsfalles der Ehefrau Spring in der Tat, entsprechend
dem heute von der deutschen Gesandtschaft eingenommenen Standpunkte,
eine rechtmässige Vereinbarung der Gegenseitigkeit mit Deutschland
für die Auslieferung wegen Begünstigung eines Auslieferungsdeliktes
erblickt werden. Die vom Bundesgericht i. S. Stùbler (AS 18 Nr. 36 Erw. 4
S. 194.) vertretene Auffassung, dass eine verbindliche Zusicherung des
Gegenrechts seitens der Schweiz nicht vorliege, indem der Bundesrat im
Falle Spring nur den Auslieferungsvertrag interpretiert und nicht eine
darüber hinaus-gehende Erklärung habe abgeben wollen, hält einer nähern
Prüfung nicht stand.

Gemäss Art. 1 Abs. 4 und 5 AuslGes ist der Bundesrat befugt, durch
blosse Gegenrechtserklärung von der er der Bundesversammlnng Kenntnis
zu geben hat mit einem auswärtigen Staate, zu dem die Schweiz in einem
Auslieferungsvertragsverhältnis steht, über im betreffenden Staatsvertrage
vorgesehenen Delikte hinaus weitere Auslieferungsdelikte verbindlich
zu vereinbaren. Er darf dabei freilich den Rahmen des AuslGes nicht
überschreiten, doch spielt dieser Vorbehalt hier keine Rolle, da das
Gesetz in Art. 3 anschliessend an die Aufzählung der Auslieferung-Zdelikte
die Auslieferung ausdrücklich als zulässig erklärt u. a. auch für
die Begünstigung jener Delitto. Wenn aber der Bundesrat demnach im
Wege der Gegenrechtsertlärung neue, einen Staatsvertrag erweiternde
Auslieferuugsdelikte schaffen fami, so muss er, nach dem Grundsätze in
majore minus, im gleichen Wege einen Staats-vertrag auch authentisch
dahin auslegen können, dass ein bestimmter Tatbestand unter den Begriff
eines der vertraglich vor- gesehenen Anslieferungsdelikte falle. Wäre
er also unbestreitbar befugt gewesen, durch Gegenrechtsertlärung mit
dein deutschen Reiche zu vereinbaren, dass die Begünstigung der im
schweizerisch-deutschen Staatsoertrage ausgeführten Auslieferungsdelikte
als weiteres selbständiges Auslieferungsdelikt im Sinne der
Begriffsbestimmung des § 257 Abs. 1 RStG gelten solle, so kann ihm
auch die Befugnis nicht abgesprochen werden, diese Vereinbarung in
der Form einer extensiveu Interpretation des Staatsvertrages selbst zu
treffen, durch die verbindliche Anerkennung, dass die Begünstigung eines
Auslieferungsdeliktes die Auslieferung ebenfalls begründen solle-

.... Auslieferungsvertrag mit dem Deutschen Reiche. N° %. 173

Eine solche Anerkennung aber hat der Bundesrat im Falle Spring tatsächlich
zum Ausdruck gebracht. Er hat der deutschen Regierung gegenüber die
fragliche Auslegung des Staatsvertrages vertreten und gestützt hieraus
die Auslieferung der Ehefrau Spring begehrt; die deutsche Regierung hat
sich dieser Auslegung angeschlossen und die Auslieferung bewilligt in der
ausgesprochenen Meinung, dass von Seite der Schweiz die Gegenseitigkeit
hiefür verbürgt sei, und der Bundesrat hat seinerseits wiederum, durch
die vorbehaltlose Annahme der Auslieferung, dieser Meinung beigepflichtet
und seine Auffassung, dass es sich dabei um eine vereinbarungsgemässe
grundsätzliche Vertragsauslegung handle, überdies doknmentiert durch
die Erwähnung des Falles im Geschäftsbericht an die Bundesversammlung.
Allerdings datiert der Vorgang aus der Zeit vor dem AuslGes; allein
es steht ausser Frage, dass die zahlreichen Gegenrechtserklärungen,
die der Bundesrat schon früher, damals wohl auf Grund der allgemeinen
Kompetenznorm des Art. 102 Ziffer 8
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 102 * - 1 Der Bund stellt die Versorgung des Landes mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen sicher für den Fall machtpolitischer oder kriegerischer Bedrohungen sowie in schweren Mangellagen, denen die Wirtschaft nicht selbst zu begegnen vermag. Er trifft vorsorgliche Massnahmen.
1    Der Bund stellt die Versorgung des Landes mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen sicher für den Fall machtpolitischer oder kriegerischer Bedrohungen sowie in schweren Mangellagen, denen die Wirtschaft nicht selbst zu begegnen vermag. Er trifft vorsorgliche Massnahmen.
2    Er kann nötigenfalls vom Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit abweichen.
BV, ausgetauscht hat (vgl. Salis,
Bundesrecht IV Nr. 1772 ff. S. 457 ff.), durch den Erlass des Gesetzes,
das ihre Abgabe in Art. 1 besonders regelt, nicht beseitigt, sondern
vielmehr gewissermassen ratifiziert worden find. So spricht denn auch das
eidgen. Justizdepartement in seinem vorliegenden Überweisungsschreiben
von der Gegenrechtszusicherung im Falle Spring. Es kann daher einfach auf
diese Gegenrechtsvereinbarung abgestellt werden, mit der sich übrigens
auch die selbständige Vertragsauslegung des Bundesgerichts im zitierten
Falle Stübler inhaltlich deckt.

5. Steht nach dem Gesagten fest, dass die Auslieferung an Deutschland
wegen Begünstigung des Meineides zu gewähren ist, so bleibt noch
zu untersuchen, ob eine solche Straftat hier in Frage stehe, ob
m. a. W. nach dem Tatbestande des Haftbefehles die Begriffsmerkmale der
Begünstigung eines Meineides erfüllt seien. Nun bedarf zunächst keiner
weitern Ausführung, dass nach jenem Tatbestande Dr. Schäfer sich eines
Meineides im Sinne des § 153 RStG schuldig gemacht hat. Auch darüber kann
ferner kein Zweifel bestehen, dass das der Frau Schuette zur Last gelegte
Verhalten unter den Begünstigungsbegriff des § 257 Abs. 1 RStG fällt. Wenn
nämlich Frau Schuette, nach Angabe der deutschen Strafverfolgungsbehörde,
in Kenntnis des von Schäfer

174 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. [V. Ai'sschnitt. Staatsverîrîigs.

abgelegten Offenbarung-Beides zunächst de:;bezeichnenderweise
vordatierten Verpfründungsvertrag vom Oktober oder November 1907 mit
jenem abgeschlossen und es weiterhin zugelassen hat, dass ein Teil
des von Schäfer verheimlichten Vermögens auf ihren Namen bei Banken
deponiert wurde, über das sie später verfügt hat, so hat sie damit Schäfer
wissentlich Beistand geleistet, um ihn vor Entdeckung seines Meineides und
vor Strafe zu bewahren und ihm die durch den Meineid erlangten Vorteile
zu sichern, d. h. zu bewirken, dass das von ihm verheimlichte Vermögen
dem Zugriff der ihn belangenden Gläubigerin entzogen blieb. Und dabei hat
Frau Schuette nicht etwa Anspruch auf Straflosigkeit gemäss § 257 Abs. 2,
obschon ihr Stiefvater Dr. Schäfer als ihr Angehöriger im Sinne des §
53 Abs. 2 RStG zu gelten hat; denn jener Strafausschliessungsgrund
trifft nur zu, wenn die Begünstigung lediglich den Zweck verfolgte,
den Angehörigen der Bestrafung zu entziehen, während nach dem Haftbefehl
Frau Schuette sich auch noch von dem weitern Motiv leiten liess, Schäfer
die ökonomischen Vorteile seines Verbrechens zu sichern.

Die so ermittelte Strafbarkeit des Auslieferung-Imtbestandes nach der
deutschen Gesetzgebung und derjenigen des ersuchenden Staates aber
genügt zur Rechtfertigung des Auslieferungsbegehrens. Da; sonst häufige
Erfordernis gleichzeitiger Strafbarkeit des Tatbestandes auch nach der
Gesetzgebung des ersuchten Staates (hier also des Aufenthaltsortes der
verfolgten Frau Schuette, Basel) kennt gerade der schweizerisch-deutsche
Auslieferungsvertrag feststehender Praxis gemäss (vgl. AS 32 I Nr. 47
Erw. 3 S. 881/332 und die dortigen Zitate) allgemein nicht, sondern nur
soweit er es bei einzelnen Auslieferungsdelikten ausdrücklich aufgestellt
hat, was jedoch beim Mejueid nicht der Fall ist. Übrigens wäre die der
Frau Schuette zur Last gelegte Begünstigung unzweifelhaft auch strafbar
nach den Bestimmungen des § 156 in Verbindung mit § 78 StG für den Kanton
Basel-Stadt, deren erstere über die Begünstigung sich hinsichtlich des
Tatbestandes im wesentlichen mit § 257 RStG deckt.

6. Wenn Frau Schuette dem Auslieferungsbegehren endlich noch entgegenhält,
dass sie das angebliche Auslieferungsdelikt in der Schweiz begangen habe
(womit sie wohl die Zulässigkeit der Straf-

lll. Auslieserungsvertrag mit dem Deutschen Reiche. N° 24. 175

verfolguug in Deutschland bestreiten will), so muss dieser Einwand
schon als tatsächlich unzutreffend zuriickgewiesen werden. Denn von den
Im Haftbefehl ausgeführten Begünstigungshandlungen sind jedenfalls der
Vertragsabschluss mit Dr. Schäfer vom Jahre 1907 und. die Verfügungenüber
die in der Schweiz deponierten WertPapeete im Jahre 1911 in Deutschland
begangen worden Und im ubrigen enthält der Haftbefehl die ausdrückliche
Bemerkung, dass Frau Schuette nur wegen in Deutschland begangener
Handlungen verfolgt werde-; _ ss erkannt:

Die Einsprache der Frau Paula Schuette gegen ihre Auslieferung an
Deutschland wird abgewiesen, und es hat die Auslieferung demnach
stattzufinden -
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 38 I 165
Datum : 20. Januar 1912
Publiziert : 31. Dezember 1913
Quelle : Bundesgericht
Status : 38 I 165
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : 164 A. Staatsrechlliche Entscheidungen. [V. Abschnitt. Staatsverträge. sein, und


Gesetzesregister
BV: 102
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 102 * - 1 Der Bund stellt die Versorgung des Landes mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen sicher für den Fall machtpolitischer oder kriegerischer Bedrohungen sowie in schweren Mangellagen, denen die Wirtschaft nicht selbst zu begegnen vermag. Er trifft vorsorgliche Massnahmen.
1    Der Bund stellt die Versorgung des Landes mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen sicher für den Fall machtpolitischer oder kriegerischer Bedrohungen sowie in schweren Mangellagen, denen die Wirtschaft nicht selbst zu begegnen vermag. Er trifft vorsorgliche Massnahmen.
2    Er kann nötigenfalls vom Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit abweichen.
OG: 181
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
deutschland • haftbefehl • bundesrat • auslieferungsdelikt • bundesgericht • vorteil • staatsvertrag • frage • kenntnis • olten • eid • strafverfolgung • ersuchter staat • treffen • ehe • heimatstaat • gegenrecht • basel-stadt • strafbare handlung • beschuldigter
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