714 A. Staatsrechtliche Entscheldungen. V. Abschnitt. Staatsverträgc.

Verhandlung vom 16. Juni 1908 Überhaupt keine Vorladung erhalten
hat, so ist es gemäss Erwägung 3 klar, dass eine gehörige Zitation
des Rekursbeklagten im Sinne des Art. 16 Ziff. 2 des französischen
Gerichtsstandsvertrages im Prozesse vor dem Handelsgerichte in Marseille
nicht erfolgt ist. Selbstverständlich hat auch der Rekursbeklagte
durch Art. 18 des Vertrages mit dem Rekurrenten über die Abkürzung
der Vorladungsfristen nicht das französische Prozessrecht als allein
massgebend anerkennen wollen. Wahrscheinlich war ihm nicht einmal klar,
was die Vereinbarung über die délais de distance bedeuten sollte. Diese
Vereinbarung kann daher nicht zum Schlusse führen, der Rekursbeklagte sei
gehörig zitiert worden. Somit ist das Urteil des Gerichtes in Marseille
vom 16. Juni 1908 in der Schweiz nicht vollziehbar.

Demnach hat das Bundesgericht erkannt: Der Rekurs wird abgewiesen.

II. Staatsvertrag mit Frankreich betrefl'end die Bestrafung von
Jagdvergehen. Convention franco-suisse sur la. répression des délits
de chasse.

Vergl. Nr. 107. Voir n° 107.B. STRAFRECHTSPFLEGE ADMlNISTRATlON DE LA
JUSTICE PÉNALEI. Bahnpolizei. Police des chemins de fer.

117. giu-teu vom 8. Manenti-er 1910 in Sachen Hehweizerische Bunde-bahnen
gegen Draus

Auslegung von Art. :! des Bahnpolizeigesetzes, worin die Berechtigung zum
Betreten der Bahnanlugen davon abhängig gemacht wird, dass der Zutritt
zur Ausübung des Dienstes notwendig ist. Anwendung dieses Artikels
auf den Fall eines Stadtpolizisten, der wiederholt ohne dienstliche
Notwendigkeit die Geleise überschritten hat. Beweislastoerteilung in
Bezug auf das Vorhandensein einer dienstlichen Notwendigkeit.

A. Am 15. August 1910 erstattete der Bahnhofvorstand von Basel dem
Polizeidepartement dieses Kantons einen Bahnpolizeirapport gegen den
heutigen Kassationsbeklagten, den Polizeimann Fritz Kraus, der auf dem
Polizeiposten im Bahnhof Basel stationiert war. Der Verzeigte wurde
beschuldigt, dass er fortgesetzt, trotz wiederholter Abmahnungen,
entgegen Art. 1 Abs. 2 des Bahnpolizeigesetzes sowohl in Zivilkleidung
als in Uniform, auch wenn keine dienstliche Notwendigkeit vorliege,
die Bahngeleise nach und von den Perrons I IV Überschreite; und unter
Berufung hierauf wurde das Polizeidepartement ersucht, die gerügte
Übertretung nach den Bestimmungen des genannten Bundesgesetzes zu
ahnden. Gestützt auf diesen Polizeirapport verzeigte der Chef des
Polizeikorps den Angeschuldigten dem Polizeirichter und bemerkte

716 B. Strasrechtspflege.

in einem Über die Sache erstatteten Berichte: Die Bahnbeamten legten
den Art. 1 Abs. 2 des Bundesgesetzes dahin aus, dass den im Bahnhofe
diensttuenden Polizisten das Überschreiten der Geleise verboten sei,
sobald sie noch Zeit genug hätten, den betreffenden Perron rechtzeitig
mit Benutzung des Durchganges Unter den Geleiseanlagen zu erreichen. Die
Polizei dagegen halte das Überschreiten der Geleise als jedem Polizisten
gestattet, der dienstlich auf den Perrons zu tun habe. Im Grunde
handle es sich um eine Bequemlichkeitsfrage, nämlich darum, sich den
langen Weg Treppe ab und Treppe auf abzukürzen. Übrigens würden die
Geleise von den der gleichen Gesetzesbestimmung unterstehenden Post-,
Zollund Telegraphenangestellten viel häufiger überschritten und sehr
oft nur, um zu der gegenüberliegenden Speiseanstalt zu gelangen. Die
Verzeigung des Kraus sei vom Polizeichef selbst veranlasst worden, als
der Bahnhofvorstand seine sofortige Versetzung vom Bahnhofposten weg
verlangt habe, wozu sich der Polizeichef so lange nicht für berechtigt
halte, als noch keine zuverlässige Interpretation der einschlägigen
Gesetzesbestimmung durch eine kompetente Jnstanz vorliege.

In seinem Verhör erklärte der Angeschuldigte: Er habe Bahndienst
gehabt und dabei vom Zug 650 (Perron V) zum Zug 65G (Perron II) gehen
müssen. Deshalb habe ihn der Stellvertreter des Bahnhofvorstandes
gestellt. Der Vorstand habe ihn zwei Tage nachher gestellt, und dann
noch ein drittes Mal, als der Angeschuldigte in Zivil auf dem Bahnhofe
Dienst gehabt habe.

B. Durch Urteil vom 25. August 1910 hat der Polizeigerichtspräsident
den Angeschuldigten freigesprochen. Von einer schriftlichen
Urteilsbegründung hat er dabei abgesehen, gestützt auf die §§ 12 und 32
des kantonalen Gesetzes über das Verfahren vor Polizeigericht, wonach
die Polizeigerichtsurteile nur dann schriftlich zu motivieren sind,
wenn der Richter es in einem Spezialfalle für nötig erachtet.

C. _ Gegen dieses Urteil haben die Schweizerischen Bundesbahnen gültig die
Kassationsbeschwerde an das Bundesgericht ergriffen mit dem Begehren, es
aufzuheben. Sie bemerken, dass ihnen eine motivierte Urteilsausfertigung
nicht erhältlich gewesen sei, und geben an, -unter Berufung auf einen
Bericht, den ihnen der Bahnhofvorstand über die Gerichtsverhandlung vom
25 August[. Bahnpolizei. N° 117. 717

erstattet hatte, und auf verschiedene Zeitungsberichte hierüber -das
Urteil sei bei seiner Eröffnung damit begründet worden, dass nach
dem Bahnpolizeigesetz jeder Polizist berechtigt sei, in dienstlicher
Eigenschaft, ob in Uniform oder in Zivil, die Bahngeleise jederzeit
zu übertreten.

D Der Polizeigerichtspräsident hat in seiner Antwort auf Abweisung der
Beschwerde angetragen und dabei geltend gemacht, er sei von folgenden
Erwägungen aus zur Freisprechung des Angeschuldigten gekommen: Mit
der Anzeigerin sei anzunehmen, dass der Polizeimann nur in Fällen der
Notwendigkeit bei der Ausübung seiner dienstlichen Funktion die Geleise
überschreiten dürfe. Nun habe aber nach § 2 des Gesetzes betreffend das
Verfahren vor Polizeigericht der Verzeigende die nötigen Beweismittel
beizubringen und den eingeklagten Tatbestand zu beweisen. Hier sei
dagegen der Bahnhofvorstand den Beweis dafür schuldig geblieben, dass
Kraus das Geleise je ohne Notwendigkeit überschritten habe. Er habe
auch keine genauen Daten anzugeben vermocht, gestützt auf die eventuells
die Notwendigkeitf dess Überschreitens hätte geprüft werden können. Der
Angeschuldigte sei daher mangels Beweises freigesprochen worden-

Der Kasfationsbeklagte Kraus hat in seiner Antwort ebenfalls auf Abweisung
der Beschwerde geschlossen.

E In ihrer Vernehmlassung auf die Antwort des Gerichtspräsidenten hält
die Kassationsklägerin an der Darstellung fest, die sie hinsichtlich
der Urteilsbegründung gegeben hat.

Der Kassationshof zieht in Erwägung:

1. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulässigkeit der vorliegenden
Kassationsbeschwerde sind vorhanden. Im besondern richtet sie sich,
wie aus dem § 15 des baselstädtischen Gesetzes über das Verfahren vor
Polizeigericht hervorgeht, gegen ein Urteil, dem im Sinne von Art. 162 OG
die Berufungsfähigkeit mangelt. Ebenso muss entsprechend der bisherigen
Praxis den Bundesbahnen das Recht zur Beschwerdeführung wegen Verletzung
der Strafbestimmungen des Bundesgesetzes betreffend die Handhabung der
Bahnpolizei zuerkannt werden

2. Sachlich ist die Beschwerde ohne Zweifel dann zu schützen, wenn man
annimmt, der Polizeigerichtspräsident habe den Kassationsbeklagten aus
dem von der Kassationsklägerin angegebenen

718 B. Strafrechtspflege.

Grunde freigesprochen, dass nach dem Bahnpolizeigesetze jeder Polizist
die Geleise überschreiten dürfe, sobald es in dienstlicher Eigen-
schaft geschehe. Aus dem Art. 1 des Gesetzes ergibt sich ohne weiteres
die Unrichtigkeit dieser Auffassung, indem darin die unter anderm auch
den Polizeiorganen eingeräumte Berechtigung zum Betreten der Bahnanlagen
davon abhängig gemacht wird, dass der Zutritt zur Ausübung des Dienstes
notwendig isf.

3. Zu dem gleichen Ergebnisse kommt man aber auch, wenn man den Fall
auf Grund der Erklärungen beurteilt, die der Polizeigerichtspräsident
in der bundesgerichtlichen Instanz Über die mündliche Motivierung seines
Entscheides abgegeben hat. Hienach wäre er bei der Anwendung der genannten
Gesetzesbestimmung ebenfalls davon ausgegangen, dass die Geleise nur im
Falle einer dienstlichen Notwendigkeit betreten werden dürfen; er hätte
aber deshalb auf Freisprechung erkannt, weil die Kassationsklägerin
den Beweis dafür, dass es in dem fraglichen Falle an einer solchen
Notwendigkeit fehlte, nicht erbracht habe, welcher Beweis nach dem
baselstädtischen Polizeigerichtsversahren ihr obgelegen habe. Dieser
Standpunkt verträgt sich indessen mit einer sachgemässen Auslegung und
Durchführung des Art. 1 nicht: Entstehen Zweifel und ist darüber zu
befinden, ob in einem gegebenen Falle das Übertreten des Geleises für
die Polizeiorgane zur Ausübung des Dienstes notwendig sei oder nicht,
so muss es diesen Organen obliegen, sich über das Vorhandensein einer
solchen Notwendigkeit auszuweisen. Sie haben die Voraussetzung, an
die das Gesetz ihr Recht zum Betreten des Geleises knüpft, darzutun
als den besondern Grund, aus dem ihnen die beanspruchte Erlaubnis,
die eine gesetzliche Ausnahme von dem allgemeinen bahnpolizeilichen
Verbote darstellt, erwächst, und sie sind dazu auch gut in der Lage,
da es sich ja um ihre eigenen dienstlichen Vorkehrungen und Massnahmen
handelt. Wollte man umgekehrt von der Bahnverwaltung fordern, dass sie,
um gegen das Betreten der Bahnanlage durch Polizeiorgane, wenn es ihr
missbräuchlich scheint, einschreiten zu können, den Mangel dienstlicher
Notwendigkeit nachzuweisen habe, so würde ihr damit ein in vielen, ja
den meisten Fällen unmöglicher Beweis überbunden und die pflichtgemässe
Handhabung der Bahnpolizei in diesem Punkte wesentlich erschwert. Würdigt
man aber die Bedeutung und den Inhalt der anzuwendenden bahnpolizeilichen
Bestimmung in derI. Bahnpolizei. N° 117. 719

erörterten Weise, so erweist sich die Auffassung, von der aus die
Vorinstanz zur Freisprechung des Angeschuldigten gekommen ist, als
bundesrechtlich unhaltbar: Soweit sich überhaupt im Strafprozess, der
ja vom Grundsatze der amtlichen Ermittlung des Sachverhaltes beherrscht
ist, in zivilprozessualischem Sinne fragen lässt, ob die Beweislast
und Beweispflicht für eine festzustellende Tatsache der einen oder der
andern Partei obliege, hängt die Beantwortung dieser Frage jedenfalls,
ähnlich wie im Zivilrechtsverfahren, von der Gestaltung ab, die das
materielle Recht dem Strafanspruch und den damit zusammenhängenden
Rechtsbeziehungen gegeben hat. Hier nun hat man es mit einem allgemeinen
Verbote im Interesse der Bahnverwaltung zu tun, das nur ausnahmsweise,
wenn gewichtige Interessen eines andern Verwaltungszweiges es erfordern,
ausser Kraft tritt. Mit der Behauptung, es sei in einem Falle ein solches
Interesse zu wahren gewesen, wird daher ein Strafausschliessungsgrund
oder eine Einwendung ähnlicher Art gegenüber dem Strafanspruch
erhoben, und deren Begründetheit ist vom Angeschuldigten darzutun. Der
kantonale Richter hat denn auch etwas Gegenteiliges nicht ausdrücklich
behauptet, sondern kurzweg darauf abgestellt, es gelte im kantonalen
Polizeistrafprozess der Grundsatz, dass der Verzeiger den eingeklagten
Tatbestand zu beweisen habe, womit aber über den Beweis bei solchen
Einwendungen gegen den Strafanspruch nichts gesagt wird. Schon aus dem
besprochenen Grunde und abgesehen von der Frage, wie sich der Vorentscheid
zum Grundsatze der amtlichen Untersuchungspflicht verhalte, muss also
dieser Entscheid aufgehoben und der basler Richter verhalten werden,
in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu prüfen, ob in den durch
die Anzeige gerügten Fällen einer Überschreitung der Geleise von denen
der Verzeigte drei selbst zugibt die Strafbarkeit wegen dienstlicher
Notwendigkeit im gesetzlichen Sinne ausgeschlossen gewesen sei. Demnach
hat der Kassationshof erkannt:

Die Kassationsbeschwerde wird als begründet erklärt, das Urteil des
Polizeigerichtspräsidenten von Baselstadt vom 25. August 1910 aufgehoben
und die Sache zu neuer Entscheidung an diese Behörde zurückgewiesen.
Information de décision   •   DEFRITEN
Document : 36 I 715
Date : 08 janvier 1910
Publié : 31 décembre 1910
Source : Tribunal fédéral
Statut : 36 I 715
Domaine : ATF- Droit constitutionnel
Objet : 714 A. Staatsrechtliche Entscheldungen. V. Abschnitt. Staatsverträgc. Verhandlung


Répertoire des lois
OJ: 162
Répertoire de mots-clés
Trié par fréquence ou alphabet
tribunal de police • gare • question • tribunal fédéral • doute • comportement • objection • cour de cassation pénale • escalier • incombance • installation ferroviaire • procédure pénale • prévenu • fardeau de la preuve • moyen de droit cantonal • traité international • procédure • décision • motivation de la décision • débat du tribunal • police • bâle-ville • autorité judiciaire • déclaration • direction • hameau • caractéristique • utilisation • réponse au recours • poids • droit matériel • france • moyen de preuve • autorité inférieure • tribunal de commerce • jour • fonction • peintre • avis formel
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