66 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. II. Abschnitt. Bundesgesetze.

Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Der Rekurs des Regierungsrates des Kantons Luzern wird gutgeheissen und
der Regierungsrat des Kantons Nidwalden eingeladen, dafür zu sorgen,
dass die Vormundschaft über Jofephine und Paul Schwarz an die zuständigen
Behörden von anern übertragen wird.

11. Zittteil vom 10. gnam 1910 in Sachen Yeckentied gegen gen.

Anwendung des Art. 17 BG betr. zieilr. V. d. N. u. A. ( Uebertragung
der Vormundschaft im Falle der Bewilligung eines Wohnsitzwechsels durch
die Behörde des bisherigen Wohnsitzes). Begriff des Wohnsitzes im Sinne
dieser Gesetzesbestimmung und des Art. 10 einerseits, sowie des Art. 4
anderseits. Anwendbarkeit des Art. 17 , sobald, feststeht, dass die
bisherige Vormundschaftsbehörde einen tatsächlichen W ohnsitzwechsel
bewilligt hat, was in casu der Fall war, da der betreffende Mandel dauernd
seiner in einem andern Kanton niedergelassenen Mutter zur Pflege und
Erziehung überlassen worden war. N ichtanwendbarh'eit des Art. 3 Abs-.L
leg. cit. auf diesen Fall. Charakter des Art. 17 als einer Vorschrift
zwingenden, öfientlichen Rechtes, auf deren Anwendung somit seitens der
Vormundschaftsbehb'rde des neuen Wohnsitzes nicht verzichtet werden kann.

A.Anna Jauch, von Erstfeld, geboren am 15. März 1887, wurde, als ihr Vater
im Jahre 1887 gestorben war, sofort unter staatliche Vormundschaft und
zwar unter diejenige des Waisenamtes von Erstfeld gestellt. Sie wohnte
damals bei ihrer Mutter, Klara Jauch geb. Zwifsig in Erstfeld.

Anfangs 1892 zog die Mutter, Frau Jauch-Ztvissig, von Erstfeld nach
Beckenried. Sie nahm ihr Töchterchen Anna mit und behielt es bis im
August 1896 bei sich. Da das Töchterchen schwachsinnig war, wurde es im
August 1896 in der Anstalt für bildungsfähige, schwachsinnige Kinder
in Hohenrain (Kanton Luzern) untergebracht. Die Anstaltskosten wurden
von der Vormundschastsbehörde Erstfeld aus dem Vermögen des Mündels
bestritten. III. Zivilrechtl. Verhältnisse der Niedergelassenen und
Aufenthalter. N° 11. 67

Jm Jahre 1903 wurde Anna Jauch auf Veranlassung der Vormundschaftsbehörde
aus der Anstalt weggenommen und der Mutter übergegeben, welche immer
noch in Beckenried niedergelassen war. Hier machte sie eine Lehrzeit als
Büglerin und Näherin durch und betätigte sich in der Folge praktisch
in diesen Berufsarten. Am 12. Oktober 1909 trat sie neuerdings in
die Anstalt Hohenrain (Kanton Luzern) ein, wo sie zur Stunde noch
weilt und woselbst sie zur weitern Ausbildung einen Haushaltungskurs
besucht. Der Verpflichtungsakt betreffend Bezahlung der Pflegekosten
ist vom Gemeinderat Erstfeld unterzeichnet.

Inzwischen hatte Frau Jauch den Gemeinderat von Beckenried ersucht,
die Vormundschaft über ihre Tochter zu übernehmen. Obschon die letztere
volljährig geworden war, waren alle Beteiligten damit einverstanden, die
Vormundschaft um ihres Schwachsinns willen fortbestehen zu lassen. Der
genannte Gemeinderat wandte sich demzufolge an das Waisenamt in Erstfeld,
um die Übertragung der Bormundschaft zu erlangen. Als diese Übertragung
abgelehnt wurde, gelangte der Gemeinderat Beckenried an den Regierungsrat
von Uri mit demselben Begehren; aber auch dieser erteilte mit Schlussnahme
vom 4. September 1909 einen abweifenden Bescheid. Die Begründung geht
kurz dahin, dass ein rechtlicher Wohnsitz für Anna Jauch in Beckenried
nicht bestehe, indem diese bei ihrer Mutter nur für unbestimmte Zeit zu
6 Fr. pro Woche verkostgeldet sei, sodass der Gemeinderat Erstfeld jeden
Tag das bestehende Verhältnis, das kein vertragliches sei, aufheben
und den Mündel anderswo unterbringen könne. Folglich treffe Art. 3 BG
betr. zivilr. V. d. N. u. A. im vorliegenden Falle nicht zu.

B. Am 30. Oktober 1909 erhob der Gemeinderat von Beckenried die
staatsrechtliche Beschwerde gegen diesen Bescheid der Urner Regierung. Er
beantragt, derselbe sei aufzuheben und der Einwohnergemeinderat von
Erstfeld zu verhalten, die Vormundschaft über Anna Jauch an ihn zu
übertragen und ibm deren Vermögen zu vormundschaftlicher Verwaltung
auszuhändigen.

Der Gemeinderat von Beckenried gibt zu, dass die Vormundschaftsbehörde von
Erstfeld in früheren Jahren aus dem väterlichen Vermögen der Bevormundeten
deren Mutter ein wöchentliches Kostgeld von 6 Fr. entrichtet und dass
sie auch die Lehr-

68 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. [I. Abschnitt. Bundesgesetze.

gelder für die Nähund Bügelkurse der Anna Jauch bezahlt habe. Immerhin
seien damit nicht alle Pflichten der Vormundschaftsbehörde gegenüber dem
Mündel erfüllt worden; auch habe man es mit der Zahlung der Kostgelder
nicht immer genau genommen; so seien z. B. der Mutter weder im Sommer
1908 noch im Sommer 1909 irgendwelche Unterstützungen für die Tochter
verabfolgt worden. Unter allen Umständen aber könne aus derartigen
Zahlungen nicht der Schluss gezogen werden, dass die Tochter, solange sie
bei ihrer Mutter war, in einer Erziehungs-, Pflegeoder Heilanstalt gewesen
fei. Die Tatsache, dass die Tochter sich seit 17 Jahren bei ihrer Mutter
in Beckenried aufhalte, sei entscheidend für die Annahme eines Wohnsitzes
in Beckenried. Nach Art. 17 BG betr. zivilr. V. d. N. u. A. bestehe
daher für den Gemeinderat von Beckenried nicht nur das Recht, sondern
auch die Pflicht zur Führung der Vormundschaft.

C. Die Regierung des Kantons Uri bestreitet in ihrer Antwort die
Behauptung, dass die Anna Jauch seit 1892 ununterbrochen bei der Mutter
in Beckenried sich aufgehalten habe. Vielmehr sei dieselbe im Jahre 1896
vom Waisenamt Erstfeld im sKinderasyl der Taubstummenanstalt zu Hohenrain
im Kanton Luzern versorgt worden, wo sie nahezu 8 Jahre ununterbrochen
geblieben sei, bis sie vom Waisenamt Erstfeld am 14. Juli 1903 abberufen
und auf unbestimmte Zeit bei der Mutter in Beckenried verkostgeldet worden
sei. Am 1. Mai 1906 sei sie für 2 Jahre einer Glätterin in die Lehre
gegeben worden. Der Lehrvertrag sei dabei vom Waisenamt Erstfeld und der
Lehrmeisterin unterschrieben und vom Gemeinderat Erstfeld ratisiziert
worden. Gegenwärtig befinde sie sich wieder in der Taubstummenanstalt
in Hohenrain. Es sei nicht richtig, dass das Kostgeld unregelmässig
bezahlt worden sei. Der Aufenthalt der Anna Jauch sei nicht dauernd in
Beckenried gewesen. Rechtlich falle vorab in Betracht, dass Anna Jauch
zur Zeit gar nicht in Beckenried wohne, sondern in der Taubftummenanstalt
in Hohenrain; der Rekurs sei daher gegenstandslos. Ubrigens habe Anna
Jauch nach Art. 4 BG betr. zivilr. V. d. N. u. A. ihren Wohnsitz
in Erstfeld, als san dem Sitze der Vormundschaftsbehörde. Die
Unterbringung in einer Anstalt habe nach Art. 3 1. c. keinen andern
Wohnsitz begründet.III. Zivilrecht]. Verhältnisse der Niedergelassenen
und Aufenthalier. N° 11. 69

Das gleiche gelte auch für Lehrlinge. Erstfeld habe der Anna Jauch
nicht einen Wechsel des Wohnsitzes im Sinne des Gesetzes gestattet.
Der Rekurs sei daher auch materiell unbegründet.

D. In seiner Replik beharrt der Gemeinderat von Beckenried darauf, dass
die Anna Jauch mit Ausnahme des Aufenthalts in der Anstalt zu Hohenrain
seit dem Jahre 1892 stets bei ihrer Mutter verblieben sei. In rechtlicher
Beziehung macht er folgendes geltend:

Jm Zeitpunkt der Niederlassung in Beckenried habe das BG
betr. zivilr. V. d. N. u. A. noch nicht in Kraft gestanden, weshalb
man es vorliegend mit einem Falle des Art. 35 1. c. zu tun habe. Da
die Ubersiedlung von Mutter und Tochter im Jahre 1892 mit Einwilligung
der Vormundschastsbehörde von Erstfeld geschehen sei, so treffe aber
auch Art. 17 in Verbindung mit Art. 35 l. c. zu. Da nach Art. 10 für
die Vormundschaft ausschliesslich das Wohnsitz-recht massgebend sei,
so komme nichts darauf an, ob die Wohnsitzbehörde die Übertragunga
von der Heimatbehörde besonders verlangt habe, sondern dieser Ubergang
solle nach dem Gesetze von Rechtswegen stattfinden (BGE 19 S.713). Die
Unterbringung in der Anstalt Hohenrain habe nach Art. 3 l. c. einen
andern Wohnsitz nicht begründen können Eine Vormundschaftsbehörde, welche
von Gesetzeswegen zur Ubertragung der Vormundschaft verpflichtet sei,
könne sich nicht auf den Art.4 l. c. stützen, um den Fortbestand des
alten Wohnsitzes darzutun.

E, Die Regierung des Kantons Uri hat auf die ihr zugestellte Replik eine
Duplik eingereicht, jedoch erst nach Ablauf der ihr hier festgesetzten
Frist.

F. Das Waisenamt Erstfeld wurde angefragt, wie beim Eintritt der
Volljährigkeit der Anna Jauch verfahren worden sei. Aus seiner Antwort
ergibt sich, dass ein neues Verfahren nachdem 15. März 1907, dem Tage
der Volljährigkeit der Anna. Jauch, nicht eingeleitet wurde, sondern
dass man die Vormundschaft einfach weiterbestehen liess.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Da die von der rekursbeklagten Behörde eingereichte Duplik verspätet
ist, so haben, entsprechend der mit der Zustellung der Replik verbundenen
Androhung, die tatsächlichen An--

70 A. Staatsrechtliche Entscheidungen, ll. Abschnitt. Bundesgesetze.

bringen der Replik als anerkannt zu gelten. Es ist daher als feststehend
zu betrachten, dass Anna Jauch von 1892 bis 1896 und von 1903 bis
zum 12. Oktober 1909 ununterbrochen bei ihrer Mutter in Beckenried
gelebt hal, während sie in der Zwischenzeit (von 1896 bis 1903) in der
Anstalt für bildungsfähige, schwachsinnige Kinder in Hohenrain (Luzern)
untergebracht war.

2. In rechtlicher Beziehung könnte es sich zunächst fragen, ob zur Zeit
überhaupt eine rechtsgültige Vormundschaft bestehe, welche geeignet sei,
den Gegenstand einer Übertragung seitens der Vormundschaftsbehörde von
Erstfeld auf diejenige von Beckenried zu bilden.

Es ist unbestritten, dass die gegenwärtig in Erstfeld geführte
Vormundschaft insofern eine unregelmässige ist, als beim Eintritt
der Volljährigkeit der Anna Jauch, also im Momente des Wegfalls des
ursprünglichen Bevormundungsgrundes (Minderjährigkeit), einfach die
bisherige Vormundschaft weitergeführt wurde, während bundesrechtlich
(und Übrigens auch nach dem einschlägigen kantonalen Rechte)
die Einleitung eines neuen Bevormundungsverfahrens, oder doch zum
mindesten die Feststellung der Existenz eines andern Entmündigungsgrundes
(Schwachsinn und daherige Unfähigkeit zur Wahrung der eigenen Jnteressen),
erforderlich gewesen wäre (vergl. BGE 29 I S. 31). Da indessen ein
Rekurs der Bevormundeten oder auch nur ein Protest derselben gegen den
Fortbestand der Vormundschaft nicht vorliegt und die beteiligten Behörden
alle darüber einig sind, dass Anna Jauch einer Vormundschaft bedarf
(was denn auch offenbar zutrifft), so besteht für das Bundesgericht
kein begründeter Anlass, im gegenwärtigen Verfahren jene von niemanden
angefochtene Vormundschaft aufzuheben oder den Entscheid über die ihm
von den Parteien unterbreitete Frage aus dem Grunde abzulehnen, weil
die Vormundschaft überhaupt nicht rechtsbesiändig sei. Vielmehr hat
das Bundesgericht einfach zu entscheiden, ob die in ihrem rechtlichen
Bestande nicht angefochtene Vormundschaft in Erstfeld, oder aber in
Beckenried zu führen sei.

3. Bei der Prüfung dieser Frage ist zunächst der vom Gemeinderat
von Beckenried angerufene Art. 35 BG betr. zivilr. V.
d. N. u. A. auszuschalten. Denn diese Gesetzesbestimmung
enthältIII. Zivilrecht]. Verhältnisse der Niedergelassenen und
Aufenthalter. N° 11. 71

nicht eine vom Bundesgerichte, sondern vielmehr eine vom Bundesrate
zu befolgende Vorschrift, welche übrigens (vergl. BGE 23 S. 1482) als
Übergangsbestimmung naturgemäss nur für die erste Zeit nach Inkrafttreten
des Gesetzes Geltung haben sollte, und deren Anwendung ausserdem
zurVoraussetzung hatte, dass über die Frage, welches der Wohnsitzkanton
sei, kein Streit herrsche (da ja nach Art. 38 alle Streitigkeiten über
die Anwendung des Gesetzes vom Bundesgericht zu entscheiden sind).

4. Fragt es sich nun, ob dem Begehren des Gemeinderates von Beckenried
gestützt auf die Art. 10 und namentlich 17 des zitierten Bundesgesetzes
zu entsprechen fei, so ist davon auszugehen, dass der Begriff des
Wohnsitzes, wie er diesen beiden Gesetzesbestimmungen zu Grunde liegt,
mit dem in Art. 4 definierten Wohnsitz nicht identisch ist. Während der
letztgenannte Artikel eine Fiktion enthält, kraft deren als Wohnsitz
der bevormundeten Personen unter Umständen ein Ort gilt, an welchem sich
der Mündel vielleicht tatsächlich nicht aufhält, stellen umgekehrt die
Art. 10 und 17 auf die tatsächlichen Verhältnisse ab, um dann daraus
rechtliche Konsequenzen zu ziehen. Wäre dem nicht so, und wäre unter
Wohnsitz in Art. 10 und 17 das gleiche zu verstehen wie in Art. 4,
so würde dies dazu führen, dass ein Wohnsitzwechsel bei bevormundeten
Personen überhaupt nicht möglich wäre und daher Arl. 17 praktisch gar nie
zur Anwendung kommen könnte, eine Annahme, die sich von selber widerlegt.

Jst demnach unter Wohnsitz im Sinne von Art. 10 und 17 ein mehr
tatsächliches Verhältnis zu verstehen, was übrigens einer ständigen Praxis
entspricht (vergl. BGE 20 S. 315 f., 21 S. 28 f., 30 I S. 700), so hängt
der Entscheid im vorliegenden Falle davon .ab, ob der Einwohnergemeinderat
von Erstfeld der Anna Jauch einen tatsächlichen Wohnsitzwechsel bewilligt
habe. Hat er dies getan, so sind nach Art. 17 Recht und Pflicht
zur Führung der Vormundschaft auf die Behörde des neuen Wohnsitzes
übergegangen und zwar (vergl. BGE 21 S. 28) selbst dann, wenn sich der
Einwohnergemeinderat von Erstfeld dieser Konsequenz nicht bewusst war.

Nun steht fest, dass Anna Jauch, mit Wissen und Willen der

72 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. II. Abschnitt. Bundesgesetze.

Erstfelder Behörde, von 1892 bis 1896 und von 1903 bis 1909stets
bei ihrer Mutter in Beckenried gelebt hat und dass sie sichs in der
Zwischenzeit (von 1896 bis 1903) ebenfalls nicht etwa im Amtssprengel
der Vormundschaftsbehörde von Erstfeld, sondernin der Anstalt Hohenrain
im Kanton Luzern aufgehalten hat-, sowie dass sie auch gegenwärtig (seit
12. Oktober 1909) wieder in dieser Anstalt untergebracht isf. Da nach der
ausdrücklichen Vorschrift des Art. 3 BG betr. zivilr. V. b. N. u. A. die
Unterbringung einer Person in einer Erziehungs-, Pflege-, Versprgungsoder
Heilanstalt keinen Wohnsitz im Sinne des erwähnten Gesetzes begründet, so
fällt für die Bestimmung des Wohnsitzes der Anna Jauch deren Aufenthalt
in der Anstalt Hohenrain von vornherein ausser Betracht,und es gilt als
ihr Wohnsitz während dieses Aufenthaltes derjenige Ort, an welchem sie
sich unmittelbar vor ihrem Eintritt in die Anstalt tatsächlich dauernd
aushielt und an welchen sie auch nach ihrem Austritt aus der Anstalt
zurückgekehrt ist bezw. voraussichtlich zurückkehren wird. Dieser Ort
istaber nicht Erstfeld, sondern Beckenried. Hier hatte Anna Jauch im
Zeitpunkte ihres ersten Eintrittes in die Anstalt Hohenrainbereits
vier Jahre gelebt; hier hat sie nach ihrer Rückkehr aus der Anstalt
weitere sechs Jahre ununterbrochen zugebracht, und hieher sollte sie
auch offenbar nach der Auffassung aller Beteiligten (mit Einschluss des
Einwohnergemeinderates von Erstfeld)zurückkehren, sobald ihr zweiter
Aufenthalt in Hohenrain beendigtsein würde.

Unter diesen Verhältnissen kann dem Umstande, dass Anna Jauch bei
ihrer Mutter in Beckenried formell bloss verkostgeldet war keine
ausschlaggebende Bedeutung zuerkanut werden. Abgesehen davon, dass
in Bezug auf die Frage des Wohnsitzes die Unterbringung bevormundeter
Personen bei Privaten dem Aufenthaltin einer Anstalt überhaupt nicht
gleichzustellen ist (vergl. BGE 21 S. 29), fällt hier in Betracht, dass
die Unterbringung eines Kindes bei seiner eigenen Mutter selbst dann,
wenn mit Rücksicht auf die Vermögensverhältnisse der Mutter und des Kindes
erstere aus dem Vermögen des letzteren ein angemessenes Kostgelb erhält
naturgemäss doch einen ganz andern Charakter hat, als die Verkostgeldung
bei beliebigen Dritten. Speziell im,III. Zivilrechtl. Verhältnisse der
Niedergelassenen und Aufenthalter. N° 11. 73

vorliegenden Falle scheint übrigens die Mutter in moralischer
Hinsicht diejenigen Garantien geboten zu haben, welche es als ange-
zeigt erscheinen lassen mochten, ihr die Tochter dauernd zur Pflegeund
Erziehung zu überlassen. · ·

Gegen die Annahme eines Wohnsitzwechsels im Sinne vonsArt. 17 spricht
sodann auch nicht die Tatsache, dass der Einwohnergemeinderat von Erstfeld
während der ganzen in Betracht kommenden Zeit in Bezug auf Anna Jauch
stets als Jnhaber der vor mundschaftlichen Gewalt gehandelt hat, wie denn
auch er es gewesen ist, der noch bei der letzten Unterbringung der Anna
Jauch in der Anstalt Hohenrain die Haftung für die lVefrpflegungskosten
ubernommen hat. Dieser Umstand beweist einzig, dass die Bormundschaft
bis heute tatsächlich von der Erstfelder Behorde gefuhrct worden ift,
was aber eben nach Art. 17 cit. schon seit vielen Jahren dem Gee e ni
t mehr entsprach. ·

Endlischtz stehck der Übertragung der Vormundschaft auch nicht entgegen,
dass die Vormundschaftsbehörden des Kantons Nidwalden bis jetzt nie ein
Begehren um Ubertragung aderVormundschaft gestellt hatten, trotzdem
die tatsächlichen Verhaltnisse, auf welche sich der Gemeinderat von
Beckenried heute beruft, schon lange bestanden. Das Bundesgesetz gibt
im Falle des Art. 17 den Vor-m mundschaftsbehörden des neueu Wohnsitzes
nicht nur das Recht, die Übertragung der Vormundschaft zu fordern,o
sondern es legtihnen ausdrücklich auch die Pflicht auf,.die Führung
der Vor mundschaft zu übernehmen. Art. 17 ist eine Norm zwingenderh
öffentlichen Rechts, auf deren Durchführung die Behordev des neuen
Wohnsitzes weder ausdrücklich noch stillschweigend verzichten-; kann. _

Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Der Rekurs wird begründet erklärt und demgemäss der Einwohnergemeinderat
von Erstfeld verpflichtet, die Vormundsnchafts über Anna Jauch an den
Gemeinderat von Beckenried zu ubertragen und diesem das Vermögen der
Genannten zur vormundschaftlichen Verwaltung auszuhändigen.

,___--
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 36 I 66
Datum : 10. Januar 1910
Publiziert : 31. Dezember 1910
Quelle : Bundesgericht
Status : 36 I 66
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : 66 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. II. Abschnitt. Bundesgesetze. Demnach hat


BGE Register
29-I-29
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
jauche • mutter • gemeinderat • bundesgericht • frage • wohnsitzwechsel • replik • regierungsrat • uri • nidwalden • treffen • wille • heilanstalt • tag • duplik • charakter • verhältnis zwischen • bewilligung oder genehmigung • mündel • lehrvertrag
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