28 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. ll. Abschnitt. Bundesgesetze.

teressen unfähig sind, oder durch die Art und Weise ihrer
Vermögensverwaltung sich und ihre Familie der Gefahr eines küns-
tigen Notstandes aussetzen. Und zwar entspricht der in Frage stehende
kantonale Bevogtungsgrund wohl dem ersten der beiden erwähnten Fälle
des Bundesgesetzes. Wollte man aber annehmen, dass Art. 3 litt. c des
kantoualen Vormundschaftsgesetzes auch den zweiten der letzterwähnten
Bevogtungsgründe in sich schliesse, so fehlen jedenfalls im vorliegenden
Falle die tatsächlichen Voraussetzungen für die Anwendung der Vorschrift
Es kann sich fragen, ob von Befürchtungen für die Gefahr eines zukünftigen
Notstandes im Sinne des Gesetzes in einem Falle, wie er hier vorliegt,
überhaupt die Rede sein könne. Ein Notstand ist nämlich, wie nach den
Angaben der Waisenbehörde von Oberegg und der Staudeskommission Von
Appenzell J.W. angenommen werden muss, eigentlich jetzt schon vorhanden,
so dass die Vevogtung nicht den Erfolg haben fami, demselben vorzubeugen;
im Gegenteil würde die Ueberlassung des Vermögens zur Verfügung
der zu bevogtenden Person eine Milderung des Notstandes zur Folge
haben. Abgesehen hievon war die Rekurrentin offenbar gar nicht in der
Lage, sich darüber auszuweisen, ob sie mit Vermögen verständig umzugehen
wisse oder nicht, und überhaupt sind keinerlei unverständige Handlungen
namhaft gemacht worden, die die Befürchtung aufkommen lassen könnten,
dass sie ihr Crbteil nicht vernünftig verwenden würde. Ebensowenig
aber liegen irgendwelche Belege dafür vor, dass die Retturentin
gegenwärtig an geistigen oder körperlichen Gebrechen leide, die sie als
unfähig erscheinen liessen, selbst für ihre ökonomischen Interessen zu
sorgen. Wenn vor 10 Jahren die Vormundschaftsbehörde von Qberegg aus
eigener Anschauung eine geistige Beschränktheit konstatiert haben will,
so genügt das selbstverständlich bei weitem nicht, um anzunehmen, dass sie
damals, geschweige denn, dass sie jetzt vormundschaftsbedürftig sei. Und
wenn gesagt wird, in Amerika habe sich ihr Zustand derart verschlimmert,
dass sie wegen geistiger Beschränktheit und wegen Nervenleiden dem Kloster
zur Last falle, so fehlt einmal für diese Behauptung jeglicher objektive
Anhaltspunkt, und zudem hat keineswegs jede Art von Geistesschwäche
oder nervöser Affektion einer Person ihre Unfähigkeit zur selbständigen
Besorgung ihrer ökonomischen Jn-l. Persönliche Handlungsffihigkeit. N°
6. 29

teressen zur Folge. Ebensowenig ist mit der, übrigens auch durch nichts
belegten Feststellung, dass die Rekurrentin nicht mehr arbeiten könne,
die vom Gesetze geforderte Voraussetzung für eine Bevormundung ohne
weiteres gegeben. Wohl ist anzunehmen, dass die Rekurrentin bei dieser
Sachlage das Vermögen, das ihr angefallen ist, für ihre Bedürfnisse
gebrauchen werde; aber das ist unter solchen Umständen die sachgemässe
Verwendung. Vorliegend hat aber die Bevogtung offenbar nicht den Zweck,
diese zu sichern, sondern im Gegenteil dieselbe zu verhindern Sie kann
deshalb schlechterdings vor dem Bundesrecht, das die Bevogtung nur als
Massregel der Fürsorge im Interesse der zu Bevogtenden zulässt, nicht
aufrecht erhalten werden. Dass die Rekurrentin ihr Geld dem Kloster, in
dem sie sich aufhält, zuwenden wolle, und dass sich dieses in finanziell
schlechter Lage befinde, ist erst im Reims: verfahren geltend gemacht
worden und kann nicht berücksichtigt werden; übrigens fehlt auch für
diese Aufstellungen jeglicher objektive Nachweis. Demnach hat das
Bundesgericht erkannt:

Der Rekurs wird gutgeheissen und die über die Rekurrentin verhängte,
durch Entscheid der Standeskommission von Appenzell, Jnner-Rhoden vom
4. Oktober 3902 bestätigte Vormundschaft aufgehoben.

S. Urteil vom 25. Februar 1903 in Sachen Krieger gegen Gemeinderat
Nottwil und Regierungsrat Luzern,

Verhältnis der Bevormundung wegen Minderjährigkeiä zur Bevogtung
Volljcääriger.

A, Der im Jahre 1881 gebotene Andreas Krieger von und in Nottwil ist
im Jahre 1896, weil ihm damals eine Entschädigung für einen Unfall
ausbezahlt wurde, wegen Minderjährigkeit unter Vormundschaft gestellt
worden. Als er im Jahre

30 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. 11. Abschnitt. Bundesgesetze.

1902 nach erlangter Volljährigkeit Aufhebung der Vormundschaft und
Aushändigung seines Vermögens verlangte, beschloss der Gemeinderat von
Nottwil, erwägend, dass Klient nicht gut beleumdet ist und als Hausierer
keine Tätigkeit entfaltet, sondern zu Hause dem Müssiggang fröhntz
erwägend, dass derselbe Schulden kontrahiert für Waren, welche für
seinen Handel nötig find; trotzdem vom Vormund für Waren eine grössere
Summe verabfolgt worden ist; erwägend, dass, wenn Klient in den Besitz
seines Guthabens gelangen könnte, dasselbe bald aufgebraucht würde und
somit auf diese Weise ein künftiger Notstand zu besürchten wäre; im Sinne
und in Anwendung des § 2 litt-. d und § 12 und 13 des Gesetzes über die
Vormundschaft; "Andreas Krieger sei mit seinem Gesnche abgewiesen und
daher neuerlich unter Vogtschaft gestellt Krieger rekurrierte hiegegen
an den Regierungsrat des Kantons Luzern, in erster Linie darauf sich
stützend, dass die Formvorschriften der §§ 8, 12 und 14 des luzernischen
Vormundschaftsgesetzes nicht beobachtet worden seien; im weitern wurde
geltend gemacht, die Bevogtung sei auch materiell ungerechtfertigt Der
Regierungsrat wies mit Entscheid vom 9. August 1902 den Rekurs ad, indem
er zunächst ausführte, dass die Bevogtung materiell begründet sei, und
dann über die formellen Beschwerdepunkte bemerkte, da es sich vorliegend
bloss um die Fortsetzung einer bereits bestehenden Vormundschaft handle,
sei es nicht nötig gewesen, die Formvorschriften der §§ 8, 12 und 14
des Vormundschaftsgesetzes zu beobachten.

B. Gegen diesen Entscheid ergriff Andreas Krieger rechtzeitig den Rekurs
an das Bundesgericht, weil die in Art. 5 Ziffer 1 des Bundesgesetzes
über die persönliche Handlungsfähigkeit ausgestellten Voraussetzungen
zur Bevogtung nicht vorhanden und das gesetzliche Bevogtungsverfahren
nicht beobachtet worden sei. Es wird deshalb beantragt, es sei die über
den Rekurrenten verhängte Bevormundung aufzuheben.

C. Der Regierungsrat des Kantons Luzern bemerkt in der Vernehmlassung,
dass die Tatsachen, auf die sich die Bevogtnng stütze, die Massnahme
wohl rechtfertigten; jedenfalls sei es angezeigt, mit der Entvogtung
des Rekurrenten noch etwa 2 3 Jahre zuzuwartenI. Persönliche
Handlungsfähigkeit N° 6. 31;

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Die Vormundschaftsbehörde von Nottwil und der Regierungsrat des
Kantons Luzern scheinen davon auszugehen, dass die Vormundschaft wegen
Minderjährigkeit, auch nachdem der Bevormundete mehrjährig geworden ist,
fortdauere, bis Gründe zurEntlasfung aus der Vormundschaft vorliegen und
dargetan seien. Diese Auffassung ist aber offensichtlich umsichtig und mit
Art. 1 des Bundesgesetzes über die persönliche Handlungsfähigkeit nicht
vereinbar. Danach tritt mit dem Zeitpunkt der Volljährigkeit auchder
Zustand der persönlichen Handlungsfähigkeit ein, und eine allfällige
Vormundschaft wegen Minderjährigkeit fällt damit ohne weiteres dahin
(vergl. Amis. Samml., Bd. IX, S. 482; Bd. XXIV, 1, S. 662). Allerdings
kann die Vormundschaft erneuert werden, aber nur wenn ein für die
Bevogtung Mehrjähriger anerkannter Bevogtungsgrund vorliegt, und
unter Beobachtung des hiefür vorgesehenen Verfahrens. Letzteres ist
im vorliegenden Falle nicht eingehalten worden. Jnsbesondere wurde
der Rekurrent selbst nicht angehört, wie dies unter den obwaltenden
Verhältnissen nicht nur die kantonalen Vorschriften, sondern auch der
bundesrechtliche Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs forderten
(vergl. Ath Samml., Bd. XXIII, 1, S. 568). Die Vevogtung ist wegen
dieser formellen Verstösse aufzuheben, ohne dass auf die Beschwerde,
dass materiell ein bundesrechtlich vorgesehener Entmündigungsgrund nicht
vorliege , eingetreten zu werden braucht.

Demnach hat. das Bundesgericht _ erkannt:

Der Rekurs wird im Sinne der Erwägungen gutgeheissen und

die über den Rekurrenten ver-hängte Bevormundung aufgehoben.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 29 I 29
Datum : 25. Februar 1903
Publiziert : 31. Dezember 1903
Quelle : Bundesgericht
Status : 29 I 29
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : 28 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. ll. Abschnitt. Bundesgesetze. teressen unfähig


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