406 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. Il. Abschnitt. Bundesgesetze.
Frist seit der mündlichen Eröffnung Kenntnis von der Urteilsbegründung
erhielt, kann keine nachträgliche Verschiebung des Frist-. beginns
bewirken; denn das Gesetz stellt für den Ausgangspunkt der Frist
auf einen einmaligen bestimmten Akt die Eröffnung oder Mitteilung des
Entscheides ab, womit die Auffassung, dass nachträglich je nach Umständen
ein anderer Akt massgebend werden solle, schlechterdings unvereinbar
isf. Die 60-tägige Frist für den staatsrechtlichen Rekurs ist so reichlich
bemessen, dass aller Regel nach die Parteien innert derselben auch von
den Motiven Kenntnis erhalten werden. Auch für Solothurn dürfte dies
zutreffen, da nach der CPO, Art. 196, in der dem Abspruch folgenden
Versammlung des Gerichts die Verlesung und Genehmigung des Protokolls
stattfinden soll. Jst ausnahmsweise einer Partei infolge Säumnis der
kantonalen Organe oder anderer Umstände die Kenntnis der Motive erst
nach Ablauf der 60tägigen Frist möglich, so ist sie doch in der Lage,
ihren staatsrechtlichen Rekurs, wenigstens vorläufig, zu begründen, um
dies dann nachträglich, nachdem die Motive des kantonalen Entscheides
vorliegen, noch eingehender zu tun, ein Verfahren, das in diesem Fall
als zulässig betrachtet werden müsste (BGE 28 I S. 255).
2. Da der vorliegende Rekurs nicht innert der 60-tägigen Frist seit
der Mitteilung des angefochtenen Urteils erhoben ist, kann darauf wegen
Verspätung von vornherein nichtZeingetreten werden. Die Frage, ob auch
aus andern Gründen nicht hätte eingetreten werden können, bedarf unter
diesen Umständen keiner Erörterung.
Demnach hat das Bundesgericht erkannt:
Auf den Rekurs wird nicht eingetreten.
Vergl. ausserdem Nr. 65 Erw. 1, Nr. 67 Erw. 1, Nr. 69. Voir également n°
65 consid. 1, n° 67 consid. 1, n° 69.Dritter Abschnitt. Troisième section.
Kantonsverfassungen.
Constitutions cantonales.
M
Gewaltentrennung. Séparation des pouvoirs.
74. Arten vom 6. Juli 1910 in Sachen Hebtffmaun gegen azera.
Angeblzehe Verletzung der persönlichen Freiheit und angeblicher
Uebergjmflzn das Gebietlder gesetzgebenden Gewalt durch Bewilligung
der uslieferung in, einem durch das Bundesgesetz non 1852 nicht
vorgesehenen Fall. Untersuchung und Bejahung der Frage ab ohne William
davon ausgegangen werden konnte, es bestehe im fferha'ltnis gut dem
.betre/fenden Kanton eine reehtsgültige Gegenreehtserhldrung ubsumtzon
solcher Gegenrechtserleldrungen, wie auch der konkreten Auslieferungen,
unter den Begrifi" der Regierungshandlungen.
'A. Durch Verfügung vom 25. A ril 1910 gierungsrat des Kantons Bern
die äuslieferunäatthsdexsesokreg Schiffmann wegen Begünstigung der
gewerbsmässigen Unzucht begangen wIm Kanton Zürich, an den Kanton Zürich
angeordnet, obschon Schiffmann sich der Auslieferung widersetzte. Jn
der Anslieferungsverfügung vom 25. April 1910 geht der Regierungsrat
des· Kantons Bern davon aus, dass weder ein Auslieferungsdeliktlim
Sinne des Bundesgesetzes vom 24. Juli 1852 eingeklagt sei noch das
Konkordat vom Jahre 1818 über die gegenseitige Stellung der Fehlbaren
in Polizeistraffällen Anwendung finde; dagegen nimmt der Regierungsrat
des Kantons Bern den
408 A. Staatsrechtliche
Entscheidungen. lll. Abscnnitt. Kantonsverfassungen.
Standpunkt ein, er sei, wenn auch nicht verpflichtet, so doch
berechtigt, einen Bürger des eigenen Kantons ausznliefern, angesichts der
Gegenrechtserklärung, welche die Regierung des Kantons Zürich abgegeben
habe und von welcher er Akt nehme.
B. Gegen diese Verfügung des Regierungsrates des Kantons Bern hat
Georg Schiffmann am 29. April 1910 beim Bundesgericht staatsrechtliche
Beschwerde eingereicht und am 23. Juni 1910, nachdem inzwischen die
Auslieferung an den Kanton Zürich schon vollzogen worden war, die
Begründung der Beschwerde eingereicht. Der Rekurrent beantragt, die
angefochtene Verfügung aufzuheben. In der Ankündigung der Beschwerde vom
29. April 1910 hatte der Rekurrent ausserdem den Antrag gestellt, es sei
die Auslieferung an den Kanton Zürich zu verweigern. Aus der Begründung
der Beschwerde ist folgendes hervorzuheben: Es werde nicht bestritten,
dass das Auslieferungsgesetz vom Jahre 1852 den verfolgten Personen keinen
Anspruch darauf gewähre, nur in den in Art. 2 dieses Gesetzes aufgezählten
Fällen ausgeliefert zu werden; es sei durchaus der freien Entschliessung
oder der Vereinbarung der Kantone überlassen, auch in andern als den
in Art· 2 des genannten Bundesgesetzes vorgesehenen Fällen einander
Rechtshülfe zu leisten. Dagegen werde behauptet, dass diese Befugnis nach
der Verfassung des Kantons Bern nicht dem Regierungsrate zustehe. Der
Rekurrent sei deshalb durch eine Kompetenzüberschreitung seiner Regierung
in seinen durch die Kantonsverfassung gewährleisteten Rechten verletzt
worden. Es sei freilich richtig, dass der Regierungsrat des Kantons Bern
schon im Jahre 1876 anlässlich eines Spezialfalles mit der Regierung
des Kantons Zürich eine Gegenrechtserklärung über die Auslieferung
von Personen, welche die Unterstützungspflicht gegenüber ihrer Familie
vernachlässigen, ausgetauscht habe. Es sei aber sehr fraglich, ob nicht
schon dieser Akt eine Kompetenzüberschreitung darstelle. Der Rekurrent
macht geltend, dass durch die ihn betreffende Auslieferungsverfügung
die Art. 6 Ziff. 2, 72 und 73 ber bernischen Kantonsverfassung verletzt
worden seien. Da nach Art. 3 des Strafgesetzbuches des Kantons Bern
eine ausserhalb des Kantonsgebiets verübte Handlung im Kanton Bern
nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen verfolgt und bestraft
werdenGewaltentrennung. N° 74. 409
könne, so würde es, wenn die Auffassung des Regierungsrates richtig
wäre, ganz vom Belieben der Regierung abhängen, ob sie einen Bürger,
der im Kanton Bern nicht verfolgt und bestraft werden könne, im Wege der
Auslieferung dennoch der Bestrafung entgegenführen wolle. Darin würde
eine schroffe Verletzung der oben angeführten Verfassungsbestimmungen
liegen, welche die personliche Freiheit und die Gleichheit der Bürger
Vor dem Gesetz garantieren und die Gesetzgebung dem Volke zuweisen. Eine
Ausdehnung des Auslieferungsrechtes, wie die Regierung des Kantons Bern
sie in der angefochtenen Verfügung durchführen wolle, wäre nur zulässig
im Wege der Gesetzgebung
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. In formeller Hinsicht könnte es sich zunächst fragen, ob der
Rekurs nicht gegenstandslos geworden sei, weil die Auslieferung,
deren Verweigerung anbegehrt wird, tatsächlich schon vollzogen worden
ist. Jndessen ist der Rekurs in erster Linie doch auf die Aufhebung
der Auslieferungsverfügung und nur folgeweise auf Verweigerung
der Auslieferung gerichtet. Da aber nicht anzunehmen ist, dass eine
Aufhebung der Auslieferungsverfügung wegen Verfassungswidrigkeit von den
strafverfolgenden Behörden des Kantons Zürich einfach unbeachtet bliebe,
so kann das rechtliche Interesse des Rekurrenten an der Aufhebung der
Auslieferungsverfügung nicht verneint werden, und es ist deshalb aus
den Rekurs einzutreten.
2. Von den vom Rekurrenten angerufenen Verfassungs-bestimmungen
fällt von vornherein ausser Betracht Art. 6· Ziff. 2 der bernischen
Kantonsversassung, wonach der Volksabstimmung unterliegen: Die
Gesetze. Die Auslieferung ist kein Gesetz, weder im formellen noch
im materiellen Sinne, sondern ein Verwaltungsakt. In Frage könnte nur
kommen, ob eine Ausdehnung der Auslieferung über den im Bundesgesetz vom
Jahre 1852 vorgesehenen Kreis hinaus nur im Wege der Gesetzgebung und
nicht durch Gegenrechtserklärung des Regierungsrates erfolgen könne.
Eine ausdrückliche Bestimmung der bernischen Verfassung oder der
bernischen Gesetzgebung, wonach eine Auslieferung bloss auf Grund einer
Gegenrechtserklärung ausgeschlossen wäre, ist vom Rekurrenten nicht
namhaft gemacht worden. Nach der Natur der Ver-
410 A. Staatsrechtliche
Entscheidungen. III. Abschnitt. Kantonsverfassungen.
hältnisse kann aber nicht ohne weiteres angenommen werden, dass für eine
solche Ausdehnung des Auslieferungsrechtes nur der Weg der Gesetzgebung
offen stehe. Es handelt sich eben um die Regelung von Beziehungen, welche
über das eigene Herrschaftsgebiet des einen Kantons hinausreichen. Bei
dieser Sachlage hätte es dem Rekurrenten obgelegen, nachzuweisen, dass
nach bernischem Rechte der Austausch einer Gegenrechtserklärung nur im
Wege der Gesetzgebung möglich sei. Mangels eines solchen Nachweises ist
dieser Teil der Beschwerde als unbegründet abzuweisen.
Z. (Keine Verletzung der Rechtsgleichheit.)
4. Art. 73 der bernischen KV bestimmt: Die persönliche Freiheit ist
gewährleistet. Niemand darf verhaftet werden, als in den im Gesetze
bezeichneten Fällen und unter den vorgeschriebenen Formen . . . .
Wie der zweite Satz dieser Bestimmung zeigt, ist die persönliche
Freiheit nicht etwa absolut gewährleistet. Nach der Verfassung ist
lediglich erforderlich, dass die Verhaftung des Rekurrenten auf einer
gesetzlichen Grundlage beruhe. Das trifft im vorliegenden Falle aber
zu, denn das eingeklagte Delikt ist im Kanton Zürich begangen und, wie
nicht bestritten, nach dem Rechte dieses Kantons strafbar; es wäre auch
strafbar nach dem Rechte des Kantons Bern, wenn es dort begangen worden
wäre. Dass es, weil ausserhalb des Kantons Bern begangen, nun nicht
ebenfalls im Kanton Bern bestraft werden kann, steht aber der Verhaftung
offenbar nicht entgegen, weil es sich bei der angefochtenen Massnahme ja
nur um eine Rechtshülfehandlnng, nicht um die Bestrafung durch bernische
Strafbehörden handelt. Es könnte also auch nicht eingewendet werden, dass
die angefochtene Auslieferung auf einer verfassungswidrigen Verhaftung
beruhe und daher selbst verfassungswidrig sei. (Vergl. hier auch AS 33 I,
S. 150 s'. Erw. 2.)
5. Wenn auch, nach den vorstehenden Erörterungen, in diesem Verfahren
nicht angenommen werden kann, dass die Gegenrechtserklärung, welche
der angefochtenen Auslieferung zu Grunde liegt, im Kanton Bern der
Volksabstimmung hätte sunterworfen werden sollen, so wäre es immerhin
denkbar, dass nicht der Regierungsrat, sondern ein anderes Organ des
Kantons Bern zum Erlass der Gegenrechtserklärung kompetent gewesen
wäre. Da berGewaltentrennung. N° 74. 411
Rekurrent dem Regierungsrat des Kantons Bern eine willkürliche
Kompetenzüberschreitung zum Vorwurf macht, so ist auch diese Frage, im
Rahmen der Begründung der Beschwerde, zu prüfenNach Art. 36 der KV steht
dem Regierungsrat die gesamte Regierungsverwaltung zu. Es ist nun gewiss
möglich, auch Akte der Rechtshülfe, und zwar sowohl Gegenrechtserklärungen
als konkrete Auslieferungen, als Akte der Regierungsverwaltung
aufzufassen. Nun sind nach bernischem Verfassungsrecht (Art. 26 KV)
selbst Konkordate, welche nach ihrer Natur den Gesetzen näher stehen
als blosse Gegenrechtserklärungen, nicht vom Gesetzgeber, sondern vom
Grossen Rate zu erlassen. Dem System des bernischen Ver-
lfassungsrechts widerspricht es daher offenbar nicht, wenn die
weniger bedeutenden Gegenrechtserklärungen vom Regierungsrate erlassen
werden. Nun hat der Regierungsrat des Kantons Bern aber auch schon
früher in Auslieferungssachen Gegenrechtserklärungen ausgetauscht, so in
dem vom Rekurrenten selbst erwähnten Falle wegen der Vernachlässigung
der Familienpslichten (vergl. ferner die Darstellung im Korreferat von
E. Brand, in den Verhandlungen des Schweizerischen Juristenvereins, 1908,
3. Heft S. 83/87). Da der Grosse Rat des Kantons Bern bei Prüfung der
Geschäftsführung des Regierungsrates von diesen Gegenrechtserklärungen
selbstverständlich Kenntnis erhalten hat, aber nicht dargetan ist, dass er
darin eine Kompetenzüberschreitung erblickt habe, so ist anzunehmen, dass
er die Rechtsauffassung des Regierungsrates teile. Bei der Auslegung von
kantonalen Verfassungen weicht aber das Bundesgericht, nach feststehender
Praxis, nicht ohne Not von der Auffassung der obersten kantonalen Organe
ab. Im vorliegenden Falle besteht dazu, nach den vorstehenden Erwägungen,
auch sachlich kein Anlass. Demnach hat das Bundesgericht erkannt:
Der Rekurs wird abgewiesen.
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