Zivilgerichtsinstanz.
. 24. Arteil vom 2· Juni 1909 in Sachen ätflwefliug, Bekl. u. Ver.-KL,
gegen gpeugset, Kl. u. Ver-Beilff
Eheeinsprache auf Grund des Art. 28 ZWB ZEG: Aktérlegitimcrtion eines
Verwandten (Bruders) des beansta-ndeten Nupturienten. Passiv-
.... legitimatio-n des Bräutigams. Einsprachegrund des Blödsin ns .
ssTatund Bechäsfmge. Erforderlich ist ein Grad von Verblödeeezg; welcher
die Einsicht in das Wesen emd die Bedeutung der Ehe nasschliesst,
wobei nicht nur die Geistesverfassung im Momente der Eheverkfindu-ng,
sondern auch ihre rorausseirbare künftige EntwickZrmg zu berùcîssichéégen
ist. Beginnende Aiiersverblödung.
. Das Bundesgericht hat, da sich ergibt:
A. Mit Urteil vom 29. April 1909 hat das Obergericht des Kantons Thurgau
auf die Rechtssrage des Klägers: Ist die kiägerische Eheeinsprache gegen
die verkündete Ehe des Beklagten Josef Schwelling mit Barbara Spengler
gerichtlich zu schützen, unter Kostenfolge ? erkannt:
-4. Sei die Klage geschützt -' 2. . . . (Kosten).
B. Gegen dieses Urteil hat der Beklagte rechtzeitig die Berufung an das
Bundesgericht erklärt, mit dem Begehren, es sei
das erwähnte obergerichtliche Endurteil aufzuheben und die Klage-
definitiv abzuweisen, eventuell sei das zitierte Urteil aufzuheben und die
Sache zur Aktenvervollständigung, d. h. zu Anordnung einer Oberexpertise,
an die kantonalen Jnstanzen zurückznweisen, unter Kostenfolge.
_C. Zn der mündlichen Verhandlung hat der Vertreter des;
Berufungsklägers diesen Antrag erneuert ; der Berufungsbetlagte hat auf
Abweisung der Berufung angetragen; in Erwägung:
:L. Der Kläger ist der Bruder der über 70 Jahre alten Barbara Spengler,
bei welcher der etwa 40 jährige Beklagte einige Zeit als Knecht biente,
bis er wegen dringenden Verdachts des Konkubinats polizeilich von ihr
getrennt wurde. Der Beklagte be- k--.v-y0ss.s(i·skd.-.,'-",4 j' si' 7f '
s s:...--[. Zivilstand und Ehe. N° 24. 155
absichtigt nun, mit Barbara Spengler die Ehe einzugehen Gegenüber der
Eheverkündigung hat der Kläger Einsprache erhoben; er behauptet, seine
Schwester Barbara leide an beginnendem Altersblödsinn und es müsse ihr
deshalb nach Art. 28 Ziff. 3 ZEG die Eheschliessung untersagt werden. Über
den Geistesznstand der Barbara Spengler hat das Bezirksgericht Kreuzlingen
eine psychiatrische Expertise durch den Jrrenarzt Dr. Branchlin, Direktor
in Mùnerlîngen, vornehmen lassen. Aus dem Gutachten dieses Erperten ist
folgendes hervorzuheben: Bei oberflächlicher Betrachtung mache Barbara
Spengler den Eindruck einer Persönlichkeit, die sich für ihre Jahre noch
ordentlich erhalten habe. Sie sei in ihren Körperbewegungen ziemlich
lebhaft, arbeite fleissig und mit Verständnis, und es passiere ihr nicht,
wie vielfach ältern Leuten, dass sie bald dies, bald jenes verlege. Ihr
Gedächtnis scheine durch das Alter nicht erheblich gelitten zu haben,
ebensowenig ihre Kenntnisse. Ihr geistiger Horizont sei allerdings
ausserordentlich eng. Hätten die Beobachtungen in der Jrrenheilanstalt
keinerlei Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Geisteskrankheit oder
von Blödsinn im Sinne des Art. 28 Ziff. Z ZEG ergeben, so seien um so
belastender die Momente, welche die Vergleichung der Lebensführung in
früherer Zeit und in den letzten Jahren erzeige. Barbara Spengler sei
früher eine streng sittliche und religiöse, in jeder Richtung ehrbare
Person gewesen; sie habe zurückgezogen gelebt, fleissig, haushälterisch
und sparsam, und habe ihr Gütchen bearbeitet, zuerst mit ihrer Mutter
und ihren Onkeln, später, nach deren Tode, mit einem Knecht. In den
letzten Jahren hätten sich diese Verhältnisse in aufsallender Weise
geändert: die streng sittliche undreligiöse Barbara Spengler habe
von der Kirchenvorsteherschaft von Altnau wegen Konkubinats mit ihrem
Knecht Schwelling verzeigt werden müssen, und es habe die Untersuchung
so belastendes Material ergeben, dass die vorn Statthalteramt getroffene
Verfügung aus Wegweisung des Knechtes sowohl vom Regierungsrat als auch
vom Bundesgericht geschützt worden sei; später sei Barbara Speng-
ler einem ausserordentlich plumpen Schwindel zum Opfer gefallen,
nur wegen des Versprechens des Schwindler-s, dafür tätig zu sein, dass
Schwelling wieder zu ihr kommen könne, und endlich habe sich die Spengler
zu einem Tauschhandel über ihr Gütchen verleiten
156 A. Entscheidungen des Bundesgerichts als oberster
Zivilgerichtsinstauz.
.Iassen, bei dem sie einen beträchtlichen Teil ihres Vermögens verloren
hätte, wenn sich nicht die heimatliche Waisenbehörde ins Mittel
gelegt und den Kauf rückgängig gemacht hätte. So handle nur jemand,
der keine Einsicht, keine Urteilskraft und keinen eigenen Willen mehr
besitze. Da Barbara Spengler in frihreren Jahren nichts derartiges
gemacht, so ergebe sich daraus mit aller wünschbaren Deutlichkeit, dass
sich ihre Geistesverfassung in den letzten Jahren geändert habe. Diese
Urteilsschwäche und die damit im Zusammenhang stehende Leichtgläubigkeit
seien Folgen des Alters. Sie seien eine bekannte Begleiterscheinung
desjenigen Leidens, das man als Altersblödsinn bezeichne: Barbara Spengler
leide an beginnendem Altersblödsinn. Damit stimme auch ihr misstrauisches
und feindseliges Wesen gegenüber denjenigen Personen, mit denen sie
während ihres Lebens in gutem Einvernehmen gelebt habe, ein Misstrauen,
das sich oft bis zum Verfolgungswahn steigere. Zu dieser Annahme stimme
ferner der Umstand, dass die Spengler sich gegenüber früher in serueller
Hinsicht geändert habe. Dass sie in ihrem Knechte Schwelling, der ihre
Interessen nie gewahrt, der sie heruntergemacht und geprügelt habe, keinen
Versorgerv findesehe sie nicht mehr ein; ihr Verstand reiche nicht mehr
aus, um die Verhältnisse so zu sehen, wie sie seien. Sie stehe gänzlich
unter dem Einflusse ihres Bräutigams und handle als dessen willenloses
Werkzeug Diese totale Einsichtslosigkeit in ihre Lage, in Verbindung mit
der kritiklosen Unterordnung unter den Willen Schwellings, bilde einen
neuen Beweis ihrer geistigen Unzulänglichkeit Barbara Spengler sei deshalb
als urteilsunfähig und unter Art. 28 Ziff. 3 ZEG fallend zu bezeichnen
Das Obergericht des Kantons Thurgau hat in seinem Urteile erklärt, als
Ursache des sonst unerklärlichen Verhaltens der Barbara Spengler müsse
um so eher Altersverblödung angenommen werden, als bei der Spengler
eine erbliche Belastung bestehe, indem der Vater und zwei Oheime
mütterlicherseits ebenfalls an Altersverblödung gelitten hätten.
2. Die Legitimation des Klägers zur Eheeinsprache isi nicht streitig
und nach Massgabe der Gerichtspraxis (AS 5 S. 260) gegeben, da hiernach
auch jedes verwandschaftliche Interesse am Nichtzusiandekommen der Ehe
zur Legitimation genügt (vergl. fer-I. Zivilstand und Ehe. N° %, 157
ner AS 28 II S. 9 f., Erw. 2). Auch die Legitimation des Veklagten
gibt zu keinem Bedenken Anlass, da es, wenigstens im allgemeinen, der
Sachlage entspricht, dass die Klage gegen den Bräutigam gerichtet werde,
der auch die Interessen der Braut zu vertreten hat Streitig ist allein,
ob der Tatbestand des Art. 28 Ziff. 3 ZEG vorliege. Diese Frage ist
teils eine Rechtsfrage, teils seine Tatsrage. Rechtssrage ist es, ob
allgemein oder doch unter bestimmten Voraussetzungen auch beginne nde
Altersverblödung ein Ehehindernis bilde; Tatfrage, ob im vorliegenden
Falle beginnende Altersverblödung angenommen werden müsse, und ob die
allfällig erforderlichen besonderen Voraussetzungen Vorliegen; zu den
Tatsachen gehören insbesondere auch die Schlüsse rein medizinischer Natur
(vergl. AS 32 II S. 743 s. Erw. 4 und die dort angeführten Entscheidungen,
ferner Revue 27 Nr. 5). Mit dieser Unterscheidung erledigt sich auch der
Antrag des Berufungsklägers aus Rückweisung der Streitsache zur Anordnung
einer Qberexpertise: soweit es sich um rechtliche Fragen handelt, ist auch
die eidgenössische Berufungsinstanz in der Beurteilung frei und durch
das Gutachten nicht beschränkt; soweit dagegen Tatsragen streitig sind,
ist das Bundesgericht als Berufungsinstanz an die Feststellungen der
kantonalen Instanz gebunden und steht ihm insbesondere eine Würdigung
der Beweiskraft der Beweismittel nicht zu. Da gerade die Beweiskraft
der vorliegenden Expertise angefochten wird, isi daher der bezügliche
Antrag des Berufungsklägers unzulässig-
3. Nach dem Wortlaute des Art. 28 ZEG ist die Eingehung einer Ehe
untersagt: Geisteskranken und Blödsmnigen, aux personnes atteintes de
démence ou d'imbécillité. Nun umschreibt das Gesetz den Begriff der
Verblödung nicht, sowenig wie den Begriff der Geisteskrankheit. Da der
Abschluss der Ehe eine rechtsgeschäftliche Handlung ist, so mag daraus
die eine Folgerung gezogen werden, dass Schwachsinn ein Ehehindernis
bilde, wenn er den freien Willen und damit die Geschäftssähigkeit der
betreffenden Person ausschliesst (vergl. AS 1 S. 9? und 5 S. 260).
Das Bundesgericht hat denn auch schon mehrfach (AS 5 S. 260, 31 II
201 Erw. 8) ausgesprochen, dass unter dem Blödsmn nicht nur diejenige
hochgradige Schwäche der gesamten Geistestätig-
158 A. Entscheidungen des Bundesgerichts als oberster
Zivilgerichtsinstanz.
keit verstanden werden kann, die technisch als Blödsinn im eigentlichen
Sinn bezeichnet zu werden pflegt, und die sich in fast völliger
Gemütsstumpfheit und Willenlosigkeit äussert (denn für Leute auf dieser
tiefsten Stufe geistiger Schwäche, die den Gedanken an Verehelichung
gar nicht fassen und aussprechen können, bedurfte es keines besondern
Verbotes), sondern auch derjenige Schwachsinn erheblichen Grades (der ja
im gewöhnlichen Sprachgebrauch auch Blödsinn genannt wird), bei welchem
dem Nupturienten die Fassungskraft und Einsicht in das Wesen und die
Bedeutung der Ehe, das Verständnis für die Aufgaben und Pflichten, die mit
der Ehe nach allgemeiner Auffassung verbunden sind, völlig abgehen. Mit
Rücksicht auf den Zweck der Ehe, eine völlige Lebens-gemeinschaft zu
begründen, und mit Rücksicht auf die daraus abzuleitenden dauernden
Pflichten der Gatten, ist aber die Auffassung vertretbar, es sei bei der
Feststellung des Ehehindernisses die Verblödung nicht nur auf die geistige
Beschaffenheit im Momente der (Shader: kündung abzustellen, sondern auch
die künftige Entwicklung zu berücksichtigen Von diesem Gesichtspunkte aus
kommt aber dem Zustande der Verblödung dann eine erhöhte Bedeutung zu,
wenn mit der Entwicklung bis zu völliger Aufhebung des Vernunftgebrauches
zu rechnen ist. Im vorliegenden Falle ist nun für die Frage, ob das
Ehehindernis des Blödsinns gegeben sei, auf die Expertise abzusiellen,
da diese nicht von unrichtigen rechtlichen Voraussetzungen ausgeht. Zwar
lassen gewisse Wendungen der Expertise, wie: die Spengler sei gänzlich
urteilsunfähig, darauf schliessen, dass der Experte nicht sowohl den
Blödsinnsbegriff des Art. 28 Ziff. 3 ZEG, als vielmehr den in Art. 18
SR 210 Code civil suisse du 10 décembre 1907 CC Art. 18 - Les actes de celui qui est incapable de discernement n'ont pas d'effet juridique; demeurent réservées les exceptions prévues par la loi. |
und 16
SR 210 Code civil suisse du 10 décembre 1907 CC Art. 16 - Toute personne qui n'est pas privée de la faculté d'agir raisonnablement en raison de son jeune âge, de déficience mentale, de troubles psychiques, d'ivresse ou d'autres causes semblables est capable de discernement au sens de la présente loi. |
nimmt. Allein eine unrichtige rechtliche Auffassung liegt hierin doch
nicht, da eben die Erpertise gleichwohl das Ehehindernis des Blödsinns
nach ZEG untersucht Die Expertise stellt ab auf die Symptome, die mit dem
typischen Bilde der beginnenden Altersverblöduug regelmässig verbunden
sind, und bejaht, dass im vorliegenden Falle dieses Krankheitsbild gegeben
sei: die Veränderung der Sinne-ZartVerfolgungsideen, Steigerung des
Geschlechtstriebes, Mangel der Anpassungs- fähigkeit an die wirklichen
äussern Verhältnisse (vergl. S trassmannLehrbuch der gerichtlichen
Medizin, 1905, S. 621, 625 und 633 f.).- l. Zivilstand und Ehe. N° 24. 159
Die Expertise betrachtet somit die geistige Beschaffenheit der BarBara
Spengler nicht als eine bloss physiologisch minderwertige, sondern als
eine krankhafte, von der bisher freilich erst die An-. fangserscheinungen
sich gezeigt haben. Nun sind ja ernstliche Zweifel darüber, ob diese
Feststellungen den sichern Schluss auf das Vorliegen einer pathologischen
Altersverblödung zulassen, gewiss keineswegs ausgeschlossen Für die
Beurteilung im heutigen Prozessstadium ist aber entscheidend, dass
die kantonale Instanz sich der Expertise angeschlossen hat. Darin
liegt eine nicht aktenwidrige Feststellung von Tatsachen, welche nach
am. 81 OG für das Bundesgericht als Bernsungsinstanz verbindlich ist und
ihm daher eine eigene Prüfung, ob eine Krankheitserscheinung vorliege,
verbietet. Darnach ist aber auf Grund der medizinischen Feststellung das
Vorliegen des Ehehindernisses des Art. 28 Biff. 3 ZEG gegeben und braucht
nicht geprüft zu werden, ob auch nach der Auffassung des gemeinen Lebens
die der Barbara Spengler zur Last getegten ungeschickten Handlungen nur
als Erscheinungen des Blödsinns verständlich erscheinen; erkannt:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts des Kantons
Thurgau vom 29. April 1909 in allen Teilen bestätigt.