100 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. lI. Abschnitt. Bundesgesetze.

es könne dem Rekurrenten mit Recht das persönliche Auftreten vor
Gericht oder sogar die Einleitung eines Prozesses durch einen von ihm
bevollmächtigten Vertreter verwehrt werden, so würde ihn dies doch nicht
hindern, sich im übrigen in seiner Privatrechtssphäre frei zu betätigen
und alle hier erforderlichen Rechtsgeschäfte abzuschliessen.

5. Jst nach dem Gesagten der Entscheid des Regierungsrates vom 18. Juli
1908 wegen Verweigerung des rechtlichen Gehörs und wegen Verletzung des
Bandes-gesetzes über die persönliche Handlungsfähigkeit aufzuheben, so
braucht nicht untersucht zu werden, ob, wie der Rekurrent behauptet,
in der Nichtaufhebung seiner Vormundschast auch eine Verletzung der
Rechtsgleichheit und ein Akt der Willkür liege.

Abzuweisen ist sodann das Begehren des Rekurrentem es möchte das
Bundesgericht die Beendigung der über ihn verhängten Vormundschast
aussprechen und eine bezügliche Publikation im Amtsblatt des Kantons
Uri anordnen. Denn das Bundesgerichi hat derartige Akte der kantonalen
Administration nicht selber vorzunehmen, sondern nur die ver fassungsoder
bundesrechtswidrigen Entscheide der kantonalen Behorden aufzuheben Mit
dem vorliegenden Entscheide kann daher nur erklärt werden, dass aus Grund
der gegenwärtigen Sachlage das Fortbestehenlass en der Vormundschast
blindes-rechtlich unzulässig ist. Dagegen steht es den fante: nalen
Behörden zu, diejenigen Massnahmen anzuordnen, welche das kantonale Recht
für die Aufhebung von bestehenden Vormundschasten vorschreibt Auch haben
dieselben das Recht, unter Gewährung des rechtlichen Gehörs aufs neue
zu untersuchen, ob zur Zeit ein rechtlich zulässiger Vormundschaftsgrund
bestehe, der die Verhängung einer neuen Vormundschaft rechtfertigen würde.

(6-7). (Erörterung der Nebenbegehren.)

Demnach hat das Bundesgericht erkannt :

Der Rekurs wird dahin gutgeheissen, dass der Entscheid des Regierungs-mirs
des Kantons Uri vom 18. Juli 1908 im Sinne der Motive aufgehoben
wird.IVPersönliche Handlungsfähigkeit N° 18. 101

18. Arten vom 10. März 1909 in Sachen Zwitter gegen Regierung-rat von
Yasetlann

Verletzung der Garantie des rechtlichen Sei-des anzdssäe'ch eineiBevormu
ndu-aeg. Bege'fln der Rekursfrist bei blossesir Publikation der
Bevormussndung im Amtsblatt, ohne jede direkte Mitteilung! em den,
Betroffenen. Matéî'iell unbegrundete Bevormundung.

A. Der im Jahre 1847 geborene Rekurrent ist seit 8 10 Jahren in
Oberwil (Baselland) niedergelassen und hat daselbst einen kleinen
landwirtschaftlichen Betrieb Er ist verheiratet und Vater von 5 Kindern,
wovon zwei noch minderjährig Bevor er nach Oberwil fam, hatte er in
Attenschweiler (Elsass) gewohnt und daselbst sein mehrere Tausend Franken
betragendes Vermögen verloren.

Jm Jahre 1907 fiel dem Rekurrenten eine Erbschaft von zirka 5000 Fr. zu,
Bevor der grössere Teil derselben zur Auszahlung gelangte stellten ein
Sohn und ein Schwiegersohn des Refunrenten, Emil Matter und Josef Kamber,
beim Gemeinderat von Oberwil den Antrag auf Bevormundung desselben
Diesem Antrag schloss sich der Gemeinderat am 16 August 1908 an, mit
der Bemerkung, der Grund dazu liege in der überhandnehmenden Trunksucht
Matters und der daraus folgenden Gefährdung des Bermögens. Der Rekurrent
wurde hierauf am 22. August 1908 vom Bezirksstatthalter einvernommen,
bei welcher Gelegenheit ergegen die Bevormundung protestierte und
die Behauptung, dass er trunksüchtig und verschwenderisch sei, des
entschiedensten bestritt. Am 8. September erfolgte sodann die Einvernahme
des Emil Matter und des Josef Kamber (welche den Antrag auf Bevormundung
gestellt hatten). Dieselben versicherten, die ganze Familie gehe dem
Ruin entgegen, da sich der Rekurrent eBen ganz und voll dem Trunke
ergeben habe. Der Rekurrent habe s. Zt. im Elsass schon einen solch
liederlichen Lebenswandel geführt, dass er ein Vermögen von zirka 40,000
Fr. durchgebracht habe. Am 21. September wurde ferner die Ehesrau des
Rekurrenten einvernommen. Dieselbe bezeichnete es als unwahr, dass ihr
Ehemann sich dem

102 A. Siaatsrechtliche Entscheidungen. II. Abschnitt. Bundesgesetze.

Trunke ergeben und dass er im Elsass ein Vermögen von 40,000
Fr. durchgebracht habe. Am 22. September endlich wurde die 21-jährige
Tochter des Rekurrenten einvernommen. Dieselbe erklärte, ihr Vater gehe
täglich seiner Arbeit nach und habe, seit er in Oberwil wohne, nie
etwas verschwendet oder verunschickt. Inzwischen war am 9. September
1908 vom Schwiegersohne Josef Kamber folgende vom 8. September 1908
datierte Bescheinigung zu den Akten gebracht worden: Attenschweiler,
den 8. September 1908.

Es wird hiermit bescheinigt das Emil Matter aus Oberwill von seinem
Schwerfatter ein Vermögen von zirka 20,000 Mark ohne Schulden erhalten
hat und da er von seinen Eltern ein Bedrächtliches Vermögen erhalten
hat, und das er in der Zeit ,.,1883 bis 1900 dieses Vermögen alles
Zwangs-weise Verkauf wurde. anno 1900 indem er das Vermögen alles ohne
Schulden bekommen hat. und dass dieses Vermögen in der Ehe in der Zeit
von 17 Jahren durch Trungsucht gegenseitig in Rückstand gegommen sind. Der
Bürgermeister: sig. Staré.

Nachdem noch festgestellt worden, dass der Rekurrent in Oberwii ein
Vermögen von 1200 Fr. und ein ebenso grosses Einkommen versteuere,
und nachdem über die Höhe der ihm zugefallenen Erbschaft Erhebungen
gemacht worden waren, wurden am 23. Oktober 1908 die Akten dem Bezirksrat
Binningen zu weiterer Amtshandlung übermittelt Diese Behörde beantragte
hierauf am 7. November 1908 die Verhängung der Vormundschaft gemäss
Art. Zb des kantonalen Vormundschaftsgesetzes. Die Erwägung, auf welche
dieser Antrag gestützt wurde, lautet wörtlich:

Nach den gemachten Erhebungen ist Matter dem Trunke ergeben, derselbe
hat auch schon in früheren Jahren sein beträchtliches Vermögen durch
Leichtsinn und Trunksucht durchgebracht und eine demselben angefallene
Erbschaft würde demselben Schicksale verfallen-i

Diesem Antrag hat der Regierungsrat durch folgenden undatierten,
nach der übereinstimmenden Angabe der Parteien am 14.November 1908
gefassten Beschluss entsprochen: Die Bevogtigung wird gemass §
3 b des Vormundschaftsgesetzes ausgesprochen Publikation im
AmtsblattIV. Persönliche Handlungsfähigkeit. N° 18. 103

Am 19. November wurde sodann dieser Beschluss im Amtsblatt des Kantons
Baselland publiziert.

B. Gegen obigen Beschluss des Regierungsrates hat Matter am 8/9 Februar
1909 den staatsrechtlichen Rekurs an das Bundesgericht ergriffen,m1t
dem Antrag, dieser Beschluss sei wegen Verweigerung des rechtlichen
Gehörs, eventueîî auch wegen Mangels genügender materieller Gründe zur
Bevormundung aufzuheben.

Der Rekurrent erklärt, seit seiner Einvernahme vom 22. August 1908
keine Mitteilung über den Stand der Angelegenheit mehr erhalten zu
haben. Jnsbesondere habe er die Publikation im Amtsblatt vom 19. November
nicht gekannt. Erst gegen Ende Dezember sei der Gemeindepräfident von
Oberwil bei ihm erschienen, mit der Erklärung, er habe ein Inventar über
sein (des Rekurrenten) Vermögen aufzunehmen Daraus habe er (Rekurrent)
geschlossen, dass er unter Vormundschast gestellt worden sei.

Dem Rekurse liegen unter anderem folgende Aktenstücke bei:

1. Eine zweite Bescheinigung des Bürgermeisters von Attenschweiler,
d. d. 2. Januar 1909, lautend: Ich Unterzeichneter bescheine, dass
E. Matter-Schmid, so lang dass er in unserer Gemeinde war, nie als
Alkohoner bekannt war, so wenig, dass er ein Vermögen von 40,000
Fr. (schreibe Vierzigtausend Franken) besessen hatte. Er konnte zirka
13 bis 18,000 Franken gehabt haben.

Attenschweiler ten 2. Januar 1909. Der Bürgermeister: sig. Starck.

2. Eine Bescheinigung des Gemeindewaisenrats von Attenschweiler, d,
d. 31. Dezember 1908, mit ähnlichem Inhalt.

3. Eine ebenfalls zu Gunsten des Reknrrenten lautende Bescheinigung
eines ehemaligen Bürgermeisters von Attenschweiler.

4. Eine von 23 Bürgern bezw. Einwohnern von Oberwil unter-zeichnete
Erklärung mit Unterschristsbeglaubigung vom ò. Januar 1909, lautend:
Dass Emil Mutter nicht hie und da ein Gläschen zu viel getrunken hat,
wird nicht bestritten, aber alles nur in seinem Haus und hauptsächlich in
der Sommerszeit, bei der harten Arbeitszeit, wo jeder etwas haben muss,
besonders ein Elterer Man. Den es muss doch gesagt werden, dass Emil
Mafter ein fleissiger Bauersmann ist, der seinesgleichen suchen

104 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. [I. Abschnitt. Bundesgesetze.

muss, und während seinem achtjährigen Aufenthalt in Oberwil, niemand
keine Klagen, gegen Jhn irgend welcher Art erhoben worden ist. Als er
nach Oberwil fam, mit einer Kuh, so hat er sich so beflissen, uud seinen
Bauernstand emporgehoben, dass er Jhn wegen Tüchtigkeit, neben jedem
andern Bauer sehen lassen darf, so hat er jeder Bett, als sein eigener
Herr gearbeitet.

5. Eine ähnlich lautende Bescheinigung des Josef Türkan und des Martin
Levy, deren Pächter der Reknrrent seit 8 Jahren ist.

6. Eine weitere, zu Gunsten des Rekurrenten lautende Bescheinigung des
Dr. med. Wannier senior in Ober-wil-

C. In seiner Vernehmlassung erklärt der Regierungsrat des Kantons
Baselland, die am 19. November 1908 erfolgte Veröffentlichung im Amtsblatt
habe, da im Gesetz keine andere Anzeige vorgesehen sei, als Eröffnung
im Sinne von Art.178 Ziff.3 OG zu gelten, und es sei deshals der Rekurs
schon wegen Verspätung abzuweisen. Ausserdem sei derselbe auch materiell
unbegründet.

Aus einem der Rekursantwort beigelegten Bericht des Gemeinderates Qberwil
ist ersichtlich, dass dem Rekurrenten schon am 19. November 1908 in
der Person eines Nachbars-ein Vormund ernannt und dass diese Wahl am
6. Dezember 1908 von der Gemeindeversammlung bestätigt worden ist. Der
Gemeinderat Oberwil schliesst daraus, dass Matter offenbar von seiner
Bevormundung Kenntnis gehabt habe, dies umsomehr, als er bald nach dem
Beschluss des Regierungsrates in einer Gemeinderatssitzung erschienen
sei und den Gemeinderatgebeten habe, die Bevogtigung rückgängig zu machen.

D. Die einschlägigen Bestimmungen des kantonalen Vormundschaftsgesetzes
lauten:

§ 3. Die Vermögensverwaltung soll entzogen werden:

a) Den Kriminalisierten, so lange ihre Strafe dauert;

b) den Verschwendern und denjenigen, welche durch unverständige Handlungen
ihr Vermogen in Gefahr bringen sowie auch denjenigen, welche ihre Kinder
in hohem Grade physisch und moralisch vernachlassigenz

c) denjenigen, welche in einem andauernden Zustande von
Geistesbeschränktheit sich befinden. IV. Persönliche
Handlungsfàhigkeit. N°18. 105

§ 28. Treten die in § 3 litt. b und 0 genannten Fälle ein, dass einem
Volljährigen die Vermögensverwaltung entzogen werden solle, so hat
der betreffende Gemeinderat die Pflicht, einen Antrag hiefür dem
Statthalteramt einzugehen. Die Verwandten des Betreffenden haben das
Recht, den Gemeinderat zu einer solchen Massregel zu veranlassen.

§ 29. Der Antrag des Gemeinderate-Z muss schriftlich abgefasst sein
und die Gründe enthalten, welche denselben rechtfertigen sollen. Hieran
wird der Statthalter den mit Bevogtigung Bedrohten und dessen nächste
Verwandte einvernehmen. Handelt es sich um den Fall von Geistes-schwäche,
so soll eine Untersuchung durch den Bezirksarzt veranstaltet und Bericht
und Gntachten darüber zu den Akten gelegt werden.

§ 80. Der Einzustellende hat nach seiner Abhörung eine Frist von 10 Tagen,
um Beweise beizubringen, dass die im Antrage enthaltenen Gründe entweder
ganz oder teilweise unrichtig oder falsch seien.

§ 31. Nach Ablauf der 10 Tage sollen die Akten dem Bezirksrat vorgelegt
werden, welcher darüber erkennen wird, ob dem Antrag des Gemeinderates
Folge zu geben sei oder nicht.

§ 32. In beiden Fällen gehen die Akten unmittelbar nachher an den
Regierungsrat zur endgültigen Entscheidung Wird die Entziehung und
Bevogtignng beschlossen, so ist damit die sofortige Publikation im
Amtsblatt zu verbinden. Das Verbot, Wirtshause-: zu besuchen, kann damit
verbunden werden.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Vor allem ist zu untersuchen, ob, wie in der Rekursantwort behauptet
wurde, der vorliegende Rekurs,k weil nicht innert 60 Tagen seit der
Publikaiion der Bevormundung imAmtsblatte ergriffen, verspätet fei. Nun
ist freilich schon wiederholt ausgesprochen worden (dergl. BGE 28 I
S. 254
, 29 I S. 34, 34 I S. 459), dass die Frage, was als Eröffnung oder
Mitteilung- im Sinne von Art. 178 Biff. 3 OG zu gelten habe, eine solche
des kantonalen Rechtes sei, oder dass doch das Bundesgesetz die Lösung
derselben dem kantonalen Rechte überlassen habe. Dabei war jedoch stets
nur zu entscheiden gewesen, welche von zwei pers önlichen und direkten
Mitteilungen oder Eröffnungen als Aus-

106 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. Il. Abschniti. Bundesgesetze.

gangspunkt der Rekursfrist zu betrachten sei: ob z. B. die mündliche
Erösfnung eines Urteils oder erst die Zustellung der schriftlichen
Urteilsausfertigung Heute dagegen handelt es sich um die Frage,ob eine
Publikation im Amtsblatte ebenfalls als Eröffnung oder Mitteilung-
im Sinne des Bundesgesetzes gelten könne, oder ob die Fristbestimmung
des Art. 178 Biff?) OG nicht zum mindesten voraussetze, dass der von
einer Verfügung persönlich Betroffene von dieser Verfügung persönlich in
Kenntnis gesetzt worden sei. Diese Frage ist aber in letzterem Sinne zu
entscheiden. Allerdings hat der Bundesgesetzgeber beim staatsrechtlichen
Rekurse nicht, wie bei der Berufung (vergl. em, 63 Biff. 4 OG), direkt
vorgeschrieben, dass und in welcher Weise die Entscheide, um die es sich
handelt, den Beteiligten mitzuteilen seien. Es kann also die Unterlassung
der Mitteilung oder Eröffnung einer auf dem Wege des staatsrechtlichen
Rekurses anfechtbaren Verfügung nicht etwa als eine Verletzung des
Organisations-Gesetzes angesehen werden; ebenso auch nicht eine allfällige
Bestimmung des kantonalen Rechtes-, wonach gewisse Arten von Verfügungen,
z. B. gerade Bevormundungsbeschlüsse, den Beteiligten nicht persönlich
mitzuteilen, sondern lediglich im Amtsblatte zu publizieren seien. Dagegen
ist vom Standpunkte des Bundesrechtes daran festzuhalten, dass bei einer
in die Rechtssphäre des Bürgers so tief einschneidenden Massregel, wie
die Bevormundung, die nach Art.178 Ziff.3 OG zu berechnende Rekursfrist
nicht schon mit der Publikation im Amtsblatte beginnt, und dass auch
die zufällige Kenntnis, welche der Betroffene durch das Amtsblatt
oder sonstwie Von der Verfügung erhalten haben kann, die persönliche
Eröffnung oder Mitteilung derselben insoweit nicht ersetzt, als es sich
um die Berechnung der Rekursfrist handelt Metal.-BGE 29 I S. LTS). Jm
vorliegenden Falle ist nun die angefochtene Verfügung durch die Behörde,
welche sie erlassen hatte, dem Rekurrenten persönlich nie mitgeteilt
oder eröffnet worden. Es ist daher davon auszugehen, dass die Rekursfrift
entweder überhaupt nicht, oder doch jedenfalls nicht vor dem Zettpunkte
zu laufen begonnen habe, in welchem der Nekurrent anerkennt, in mehr
oder weniger samtlicher Weise indirekt von seiner Bevormundung Kenntnis
erhalten zu hahen, nämlich durch die Eröffnung des Gemeindeprästdenten,
dassIV. Persönliche Handlungsfähigkeit. N° 18. 107

er ein Inventar über sein Vermögen aufzunehmen habe. Da nun letztere
Eröffnung nach der unwidersprochenen Darstellung ades Rekurrenten erst
Ende Dezember 1908 stattgefunden hat, so wurde der am 9. Februar 1909
ergriffene Rekurs auch dann als rechtzeitig eingereicht erscheinen,
wenn diese Erosfnung des Gemeindepräsidenten zugleich als Mitteilung der
Bevormundung betrachtet würde-Ob dagegen nach dem basellandschaftlichen
Vormundschaftsrecht eine persönliche und direkte Mitteilung der
Bevormundung an den Mündel wirklich nicht stattzufinden brauche, sondern
durch die Publikation im Amtsblatt, welche doch wohl in erster Lime die
Wirkungen der Vormundschast gegenüber Dritten tmfAuge hat (oergl. Art. 6
HfG), ersetzt werden könne, wie der Regierungsrat aus § 32 des kantonalen
Vormundschaftsgesetzes zu schliessen scheint, und ob ein solches Verfahren
überhaupt hundesrechtltch zulässig sei, mag hier dahingestellt bleiben;
denn fur denvvorliæ genden Fall genügt es, zu konstatieren, dass die
Publitation der Bevormundung im Amtsblatt als solche nicht geeignet ists
den Ausgangspunkt für die Frist des Art. 178 Biff. JOG. zu bilden.

2. Erscheint nach dem Gesagten der Rekurs jedenfalls nicht als verspätet,
so könnte es sich dagegen fragensioh derselbe nicht, weil noch keine
Mitteilung der angefochtenen Verfugung stattgefunden habe, oerfrüht sei
(vergl. BGE 29 I'S. 274EUR). Diese Frage ist jedoch deshalb zu verneinen,
weil sich die Publikatton der BeVormundung im Amtsblatt, wenn auch
nicht als eine Mitteilung im Sinne des Organisationsgesetzes, so doch
jedenfalls als eine Ausführungshandlung qualisiziert, das Recht, gegen
einen bereits ausgeführten Beschluss zu rekurrieren, dein Betroffenen
aber nicht dadurch entzogen werden kann, dass von einer Mitteilung des
Beschlusses an ihn persönlich Umgang genommen wird.

3. In der Sache selbst ergibt sich zunächst, dass def: Rekurs jedenfalls
insoweit begründet ist, als der Rekurrent sich uber Verweigerung des
rechtlichen Gehörs beschwert. Nach den einschlagegen Bestimmungen des
kantonalen Rechts (s. oben Fakt. D) soll bereits der vom Gemeinderat zu
stellende Bevormundungsantrag alle Gründe enthalten, welche denselben
rechtfertigen Nachdem dieser Antrag dem Statthalteramt eingereicht
ist, hat sodann die Emvernahine der zu bevormundenden Person und ihrer
nachsten Ver-

108 A. Staaisrechfliche Entscheidungen. II. Abschnitt. Bundesgesetze.

wandten stattzufinden. Von seiner Einvernahme an hat der Ein- zustellende
eine Frist von 10 Tagen, um seine Gegenbeweise beizubringen Nach
Ablauf dieser Frist sollen die Akten dem Bezirksrat zum Vorentscheide
unterbreitet werden, und dieser leitet dieselben, nachdem er den
Vorentscheid gefällt hat, unverzüglich an den Regierungsrat, welchem
die definitive Beschlussfassung zusteht.

Es mag nun dahingestellt bleiben, ob die Bestimmung, wonach der zu
Bevormundende zur Anbringung seiner Gegenbeweise eineFrist von 10 Tagen
hat, dahin auszulegen sei, dass im einzelnen Falle dem Betreffenden eine
solche Frist von der Behörde gesetzt werden müsse, was im vorliegenden
Falle nicht geschehen ist, oder ob es sich hier um eine Frist handelt,
welche ohne weiteres mit dem auf die Einvernahme folgenden Tage zu
laufen beginnt; ferner, ob im letzteren Falle der zu Bevormundende nicht
wenigstens auf sein Recht, innert 10 Tagen Gegenbeweise beizubringen,
aufmerksam gemacht werden müsse. Sicher ist jedenfalls, dass nach dem
unverkennbaren Sinne des Gesetzes der zu Bevormundende zur Anbringung
seiner Gegenbeweise Gelegenheit erhalten soll, und dass er speziell ein
Recht darauf hat, in einem Zeitpunkte einvernommen zu werden, wo die zur
Unterstützung desBevormundungsantrages angerufenen Beweismittel in den
Akten enthalten oder aus denselben ersichtlich sind. Dieser Grundsatz
istnun aber im vorliegenden Falle nicht befolgt worden. Der Rekurrent
ist zwar einvernommen worden, jedoch zu einer Beit, wo das übrigens
sehr dürftige Belastungsmaterial noch nicht bei den Akten war, und wo
insbesondere gerade dasjenige Aktenstück nochnicht vorlag, welches dann,
wie aus dem Protokoll des Bezirksrates vom 7. November 1908 ersichtlich
ist, bei der Bevormundung den Ausschlag gegeben hat, nämlich jene erste
Bescheinigung des Bürgermeisters von Attenschweiler, wonach der Rekurrenl
in früheren Jahren ein beträchtliches Vermögen infolge von Leichtsinn und
Trunksucht durchgebracht habe. Der Rekurrent hat also keine Gelegenheit
gehabt, sich gegenüber dem wichtigsten Vorwurf, der ihm gemacht wurde,
zu verteidigen: er war weder in der Lage, die Achtheit jener Urkunde
zu prùfen, noch den Inhalt derselben zu bestreiten und eventuell die
Unrichtigkeit der darin bescheinigten Tatsachen darzutun. Dass aber
diese für den Rekru-IV. Persönliche Handlungsfähigkeit. N° 18. 109

renten bestehende Unmöglichkeit, sich gegenüber den erhobenen Vorwürer
zu rechtfertigen, nicht nur in thesi, sondern auch praktisch einen
Nachteil bedeutete, ergibt sich in unverkennbar-er Weise aus den
seither produzierten, der Rekursschrift beigelegten Bescheinigungen und
Erklärungen, insbesondere aus der zweiten Bescheinigung des Bürgermeisters
von Attenschweiler, wonach der Rekurrent, so lange er in der genannten
Gemeinde wohnte, nie als Alkoholiker bekannt war und übrigens auch kein
so grosses Vermögen besessen hatte, wie ursprünglich behauptet wurde.

4. Nach dem Gesagten beschwert sich der Rekurrent mit Recht über das
ihm gegenüber eingeschlagene Verfahren Durch dieses Verfahren wurden
nicht nur diejenigen Garantie-en missachtet, welche das kantonale
Vormundschaftsgesetz zu Gunsten der zu Bevormundenden enthält, sondern
es wurde auch der in Bevormundungsfachen unabhängig von der kantonalen
Gesetzgebung geltende Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt. Der
vorliegende Rekurs müsste daher sogar dann gutgeheissen werden, wenn
angenommen würde, das dem Rekurrenten gegenüber eingeschlagene Verfahren
entspreche den Bestimmungen des kantonalen Vormundschaftsgesetzes.
Vergl. BGE 23 I S. 568 Crw. 2, 29 I S. 466.

ö. Von der Verweigerung des rechtlichen Gehörs abgesehen, ist endlich
im vorliegenden Falle auch eine materielle Verletzung des Rechtes
auf persönliche Handlungsfähigkeit zu konstatieren Denn ausser jener
Bescheinigung des Bürgermeisters von Attenschweiler, d. d. 8. September
1908, welche derselbe Bürgermeister vier Monate später kategorisch
widerrufen hat enthalten die Akten über den Charakter Und die
Lebensgewohnheiten des Rekurrenten weiter nichts belastendes, als die
Aussagen gerade derjenigen beiden Personen (Sohn und Schwiegersohn des
Rekurrenten), welche aus nichts weniger als uneigennützigen Motiven
die Bevormundung des Rekurrenten beantragt hatten. Diese Aussagen
durften aber um so weniger als ausschlaggebend betrachtet werden, als
den: selben die bestimmten Erklärungen der Frau und der Tochter des
Rekurrenten gegenüberstanden Ein nach Art. 5 HfG zulässiger Grund zur
Bevormundung des Rekurrenten lag somit nicht vor, und es ist daher diese
Massregel aufzuheber ganz abgesehen davon, dass nach den der Rekursschrift
beigelegten Bescheinigungen

110 A. staats-rechtliche Entscheidungen. H. Abschnitt. Bundesgesetze.

des Hausarztes, der Verpachter und zahlreicher Nachbarn des Rekurrenten
dieser weder ein Verschwender noch ein Aikoholiker zu sein scheint,
sondern ein verhältnismässig fleissiger und tüchtiger Landwirt, welcher
in den letzten acht bis zehn Jahren nicht nur nicht rückwärts gearbeitet,
sondern sein bescheidenes Vermögen sogar verdoppelt und verdreifacht hat.

Demnach hat das Bundesgericht erkannt: Der Rekurs wird begründet
erklärt und der Entscheid des Regierungsrates des Kantons Baselland vom
14. November 1908 aufgehoben-

V. Haftpflicht. Responsabilité civile.

19. Anteil vom 17. Februar 1909 in Sachen Werner gegen Yedndtum des
Dtvtlgerichtg von Basel-Findi-

Inkompetmz des Bandesgerichts zur Beurteilung von Beschwerden
wegen Verweigerung des Amwm'echts in Haftpîîich-tprozessen, auch
zm. Anwendungsgebiet des EEG von 1905.

_A. Der Rekurrent wollte wegen eines im Januar 1908 stattgefundenen
Unfalles eine Haftpflichtklage gegen die eidgenössische Postverwaltung
anstrengen und stellte am 1. Dezember 1908 beim Zivilgerichtspräsidenten
Basel-Stadt ein Gesuch um Erteilung des Armenrechtes zur Führung des
Prozesses

, B. Auf dieses Gesuch hat der Zivilgerichtspräsident laut einer vom
11. Dezember 1908 datierten Mitteilung der Zivilgerichtsschreiberei
erkannt:

Es wird auf das Armenrechtsgesuch nicht eingetreten.

C. Gegen diesen Entscheid, der nach § 173 der kantonalen ZPO nicht
weitergezogen werden konnte, hat Werner am 18. Dezember 1908 wegen
Amtspflichtverletzungii beim Bundesgericht Beschwerde erhoben, mit
dem Antrage, es sei das Zivilgericht aufzufordern, dem Rekurrenten
das Armenreeht zu erteilen, und es seien dem Zivilgerichte die Kosten
aufzuerlegenv. Haftpflicht. N° 19. 111

D. In seiner Vernehmlassung erklärt der Zioilgerichtspräsident,
das Armenrecht sei wegen Aussichtslosigkeit der Klage verweigert
worden. Sodann wird näher ausgeführt, aus welchen Gründen die Klage
aussichtslos gewesen sei.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Es handelt sich im vorliegenden Falle um eine Beschwerde
wegen Verweigerung des Armenrechts in einem Haftpflichtprozesse.
Zur Beurteilung solcher Beschwerden hat sich das Bundesgericht,
wenigstens im Anwendungsgebiet des Eisenbahnhaftpftichtgesetzes
vom Jahre 1875, des Fabrikhaftpflichtgesetzes von 1881 und des
erweiterten Hastpflichtgesetzes von 1887, stets inkompetent erklärt,
da nach Art. 11 des letztern Gesetzes, namentlich aber nach Art.189
Abs. 2 OG, für derartige Beschwerden die Kompetenz des Bundesrates
und eventuell der Bundesversammlung gegeben sei. Vergl. BGE 18 S. 568
(î-rw. 3 (Fabrikhaftpslicht), 21 S. 374 (Eisenbahnhaftpflicht),22
S. 383f. (Fabrikhastpflicht), 30 I S. 514 f. (Fabrikhastpflicht); ferner
v. S alis, Bundesrecht 2. Ausl. VNr. 2320 und 2860. In dem auf den
heutigen Fall anwendbaren Eisenbahnhastpslichtgesetz vom 28. März 1905,
dessen Art. 22 Abs. 2 die Gewährung des Armenrechts ebenso vorsieht,
wie Art. 6 des erwähnten Hastpflichtgesetzes von 1887 sie ordnete, ist
nun zwar eine dem Art. 11 dieses letzteren Gesetzes analoge Vorschrift
nicht enthalten Indessen trisft jedenfalls die auf am. 189 Abs. 2
OG beruhende Erwägung auch im vorliegenden Falle zu; denn im neuen
Eisenbahnhastpflichtgesetz ist ebensowenig, wie in den früheren Gesetzen
und im Organisationsgesetz, eine Bestimmung zu finden, durch welche die
Oberaufsicht über die Handhabung der Vorschriften betreffend Erteilung
des Armenrechts einer andern Behörde als dem Bundesrate (und eventuell
der Bundesversammlung) übertragen worden wäre. Es ist daher anzunehmen,
dass auch unter der Herrschaft des neuen Eisenbahnhaftpflichtgesetzes
Beschwerden über Verweigerung des Armenrechts beim Bundesrate anzubringen
find. Diese Kompetenzabgrenzung rechtfertigt sich auch aus der praktischen
Erwägung, dass alle Beschwerden über Verweigerung des Armenrechts auf
dem Gebiete der gesamten Hastpflichtgesetzgebung gleichartig behandelt
werden sollten.

2. Da es sich nach dem Gesagten um eine in die Kompetenz des
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 35 I 101
Datum : 10. März 1909
Publiziert : 31. Dezember 1909
Quelle : Bundesgericht
Status : 35 I 101
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : 100 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. lI. Abschnitt. Bundesgesetze. es könne dem


Gesetzesregister
OG: 11  178  189
BGE Register
23-I-566 • 28-I-253
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
amtsblatt • bescheinigung • gemeinderat • regierungsrat • bundesgericht • tag • frist • kantonales recht • kenntnis • frage • weiler • schwiegersohn • bundesrat • trunkenheit • entscheid • alkoholismus • inventar • verschwendung • bundesversammlung • vater
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