72 A. Staatsrechtliche
Entscheidungen. Il]. Abschnitt. Kantonsverfassungen.
Dritter Abschnitt. Troisième section.
Kanton sverfassungen.
Constitutions cantonales.
1. Kompetenzüberschreitung'en kantonaler Behörden. Abus de compétence
des autorités cantonales.
1.2. games vom 29. Januar 1908 in Sachen Hchärz gegen Haufen Yom.
Grenzen der authentischen Gesetzesînterpretafion nach bemischem
Staatsrecht. Legitimation zum staatsrechüichm Belisar-Je gegen
{authentische Gesetzesinterprelation.
Das Bundesgericht hat aus Grund folgender Tatsachen:
A. Nach der Staatsverfassung des Kantons Bern vom 4. Juni 1893 unterliegen
die Gesetze einer zweimaligen Beratung durch den Grossen Rat (am. 29)
und hieran der Volksabstimmung (Art. 6, Ziff. 2); dagegen ist dem Grossen
Rate ais der höchsten Staatsbehörde allein die authentische Auslegung
von Gesetzen und Detreten übertragen (Art. 26, Biff. 3).
I}. Im November 1906 gelangten die Gemeinderäte von acht, nebst den
Wasserversorgungsund Brunnengenossenschaften von dreizehn weitern
bernischen Gemeinden an den Grossen Rat des Kantons Bern mit dem Gesuche,
er möchte in Anwendung von!. Kompetenzfiherschreitungen kantonaler
Behörden. N° 12. 73
Art. 26 Ziff. 3 StsV beschliessen: Jn"authentischer Interpretation der
Satzungen 338, 388 und 398 des Zivilgesetzbuches werden Quellen und
Brunnen wie eine unbewegliche Sache erworben und sind als selbständige
Sache übertragbar. Zur Begründung dieses Gesuches führten sie aus,
seit vielen Jahrzehnten hätten sich im Kanton nicht nur unzählige
Privatpersonen, sondern auch die Gemeinwesen, sei es direkt, sei es durch
das Mittel von Brunnenund Wasserversorgungsgesellschaften aller Art, das
Wasser zu Trinkund Brauchwasserversorgungen dadurch beschasit, dass sie
Quellen ausgekauft oder sich sonstwie mit den Berechtigten verständigt
und gestützt hieran das Quellwasser rationell gefasst und abgeleitet
hätten. Dabei seien die Quellen rechtlich als eine Art unbewegliche Sache
behandelt worden, die man wie ein anderes Immobile erworben, veräussert,
vererbt und verpfändet habe. Die bezüglichen Verträge seien anstandslos
gefertigt und von den Amtsschreibereien in die Grundbücher eingetragen
worden, und kein Mensch habe daran gedacht, dass dieser dem praktischen
Bedürfnis einzig entsprechenden Behandlung der Quellenrechtsverhältnisse
irgend ein gesetzliches Hindernis entgegenstehe. In neuester Zeit
aber habe dieselbe durch die Praxis des kantonalen Appellationsund
Kassationshofes eine schwere Beeinträchtigung erfahren. Durch Urteile vom
1. Dezember 19U3 und 10. Februar 1904 (publiziert in ZbJV 40 S. 519 und
675) habe der kantonale Gerichtshof nämlich den Satz aufgestellt, dass dem
bernischen Recht ein besonderes Quelleneigentum unbekannt sei, indem nach
Satzung 378 ZGB (laut welcher sich das Eigentumsrecht an einem Grundstück
nicht allein auf dessen Oberfläche, sondern auch auf die Luftsäule und
in die Tiefe erstrecke) die Quellen einen Bestandteil des Grundstücks
bildeten und von Gesetzes wegen im Eigentum des Grundstückeigentümers
ständen, und dass daher Rechte auf Quellen in rechtsgültiger Weise nur als
Grunddienstbarkeiten konstruiert werden könnten Nach dieser Ansicht nun
wäre bei den gesetzlichen Vorschriften über die Grunddienftbarkeiten,
da diese nach Satzung 447 ZGB entweder zum Vorteil eines bestimmten
Grundstücks, oder einer bestimmten Person errichtet würden eine
selbständige Rechtsübertragung auf dritte Personen ausgeschlossen,
und es würde dadurch die ganze rechtliche Qualifikation der Quellenund
74 A. Staatsrechtliche
Entscheidungen. III. Abschnitt. Kantonsverfassungen.
Brunnenverhältnisse, wie sie sich in der Praxis und in der grundbuchlichen
Behandlung herausgebildet habe, direkt auf den Kopf gestellt: wohl beinahe
alle öffentlichen Trinkwasserversorgungen des Kantons Bern, z. V. gerade
diejenige der Stadt Bern, würden so ihr rechtliches Fundament verlieren
und von einem Tag auf den andern in Frage gestellt werden. Die bisherige
Rechtsansfassung lasse sich jedoch mit dem Gesetze ebenfalls vereinbaren;
denn dieses anerkenne, neben dem Grundsatze der Satzung 378, in den
Satzungen 388 und 398 bezüglich der Quellen und Brunnen ausdrücklich ein
Eigentumsbezw. Miteigenmmsverhàltnis, analog demjenigen an einer andern
unbeweglichen Sache. Folglich hätte das oberste Gericht des Kantons sehr
wohl, ohne gegen das Gesetz zu verstossen, den fraglichen Bedürfnissen
des modernen wirtschaftlichen Lebens Rechnung tragen können. Da es dies
nicht getan, sondern im Zweifelsfalle den starren Sätzen des römischen
Rechts den Vorzug gegeben habe, sehen sich die Gesuchsteller, die sich
durch die erwähnten Entscheidungen in ihren wohlerworbenen Rechten schwer
bedroht fühlten, gezwungen, als einziges Mittel zur Korrektur dieser
bedauerlichen Sachlage eine authentische Interpretation der bezüglichen
Gesetzesbestimmungen nachzusuchen. Die Justizdirektion des bernischen
Regierungsrates holte über dieses Gesuch zunächst Begutachtungen
vorn kantonalen Obergericht und Professor Max Gmür, und hierauf ein
Obergutachten von Professor Eugen Huber ein. Alle drei Gutachten äusserten
sich übereinstimmend im Sinne der Zulässigkeit und Wünschbarkeit einer
authentischen Gesetzesintervretation, welche es ermöglichen follie, das
Recht an Quellen selbständig zu erwerben und nach Art einer Unbeweglichen
Sache zu übertragen. Dagegen gingen sie auseinander hinsichtlich der
juristischen Konstruktion dieses Rechts. Professor Huber bezeichnete
dasselbe als ein vom Grundeigentum abgelöstes Stück der Herrschaft
über das Grundstück, das zwar nicht ein dem Grundeigentum direkt
parallel stehendes Eigentumsrecht, sondern dem Grundeigentum gegenüber
nur eine sogenannte Gerechtigkeit deutschrechtlicher Art darstelle,
die als solche aber nicht den Charakter einer Dienstbarkeit habe,
sondern dem Grundeigentum gleichgeachtet merde. Das Obergericht und
Professor Gmür dagegen wollten es als eine selbständig übertragbare,
d. h. wederI. Kompetenziîberschreitungen kantonaler Behörden. N° ii. 75
an ein herrschendes Grundstück, noch an eine bestimmte Person gebundene
Dienstbarkeit aufgefasst wissen. Auf Grund dieser Gutachten gelangte
nun dieJustizdirektion von der Erwägung ausgehend, dass es für den
Erlass einer authentischen Gesetzesinterpretation nicht nötig sei, die
juristische Konstruktion des interpretierten Rechtsverhältnisses in das
Gesetz selbst aufzunehmen, dass es vielmehr genüge, die Wirkungen dieses
Rechtsverhältnisses als Gesetzeswillen festzustellen und der Praxis
zu überlassen, hieraus die juristische Natur des Rechtsverhältnisses
abzuleiten dazu, mit Botschaft vom 18. Februar 1907 an den Regierungsrat
zu Handen des Grossen Rates den Antrag zu stellen, der Grosse Rat
wolle, in authentischer Interpretation der Satzungen 339 (worin die
Rechte als zu den Sachen gehörig erklärt werden) und 377 bis 477 BGB-
(den vollständigen Titeln des Gesetzbuches von dem Eigentum und von den
Dienstbarkeiten) beschliessen:
Die Rechte an Quellen auf fremden Grundstücken können als selbständige
Rechte erworben und wie unbewegliche Sachen übertragen werden.
Die Auslegung hat rückwirkende Kraft.
Diesen vom Regierungsrat weitergeleiteten Antrag erhob der Grosse Rat in
seiner Sitzung vom 8. Oktober 1907 zum Beschluss, nachdem der Vertreter
des Regierungsrates und der Präsident der vorberatenden Kommission darauf
hingewiesen hatten, dass ein dringliches Bedürfnis für die vorgeschlagene
Interpretation bestehe und dass dieselbe sowohl vom Obergericht als auch
von den Professoren Huber und Gmür als mit dem System und den Bestimmungen
des Zivilgesetzbuches vereinbar erachtet werde.
C. Hieraus hat nun Fritz Schärz, Hvtelier zum Adler in Adelboden, innert
gesetzlicher Frist den staatsrechtlichen Rekurs an das Bundesgericht
ergriffen, mit dem Antrage, es sei der vorstehende Beschluss des Grossen
Rates vom 8. Oktober 1907 betreffend Interpretation des beruischen
Quellenrechts als nichtig zu erklären. Er bemerkt einleitend, dieser
Beschluss sei dadurch veranlasst worden, dass während der Rechtshängigkeit
eines Zivilprozesses zwischen der Aktiengesellschaft für Wasserversorgung
und elektrische Beleuchtung von Adelvoden, als Klägerin, und ihm, dem Re-
76 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. HI. Abschnitt. Kantonsverfassungen.
kurrenten, als Beklagten, beim Jnstruktionsrichter von Frutigen, über
die Rechtssrage, ob zwei Erwerbungsakte betreffend Trinkwasserquellen
ohne Angabe eines herrschenden Grundstücks in rechtsgenüglichen Form
abgeschlossen worden seien (was er gestützt auf die Entscheidungen
des bernischen Appellationsund Raffa: tionshoses vom 1. Dezember 1903
und 10. Februar 1904 verneint habe), der Anwalt der Gegenpartei es
für ratsam gehalten habe, durch Veranstaltung des zum Teil blosse
Gesälligkeitsunterschristen tragenden Gesuchs an den Grossen Rat vom
November 1906 einer authentischen Interpretation des Quellenrechis
zu rufen; übrigens stütze er die Legitimation zum Rekurse aus seine
Eigenschaft als stimmfähiger Bürger des Kantons Bern. Sodann bringt
er unter Berufung auf Verletzung der in Fakt. A oben zitterten Art. 6
Ziff. 2, 29 und 26, Biff. 8, beru. StsV vor: Die streitige authentische
Interpretation-i sei nach Ansicht des bernischen Rechtshistorikers
Professor Dr. Karl Geiser unhaltbar, weil sie im Widerspruche stehe
mit Ratsbeschlüssen, welche zeigten, dass der bernische Gesetzgeber auf
diesem Gebiete der französischrechtlichen Auffassung (Art. 552 CC) am
nächsten gestanden habe. Nach der damit Übereinstimmenden Satzung 378 ZGB
-deren Prinzip vom Gesetzgeber in der Folgezeit konsequent durchgeführt
worden sei (es werde verwiesen auf die Aufhebung des sog. Baumeigentums
und ferner aus § 31 des Gesetzes vom 3. April 1857, wonach Gewässer,
die nichi zur Schiffahrt oder Flösserei benutzt werden, sofern nicht
bestehende Rechte davon abweichen, zu den Grundstück-en gehören, in denen
sie sich befinden, oder zwischen denen sie durchfliessen) gelte im Berner
Recht die gleiche Regel, welche Ulpian in die Worte kristallisiert habe:
pox tio agri videtur aqua, Viva, und die Regelsberger (Pandekten I S. 431}
dahin formuliere: Das auf einem Grundstück entspringende Wasser bildet
einen Bestandteil des Grundstücks und teilt dessen Rechtsstellung, steht
demnach bei Privatgrundstücken im Privateigentum. Als einzige Ausnahme
von dieser Regel habe der hernische Gesetzgeber im Vergwerksgesetz
vom 21. März 1853 ein besonderes Bergwerkseigentum anerkannt und
die Bergwerkskonzession dem beweglichen Eigentum gleichgestellt. Der
bernische Appellationsund Kassationshof habe daher mit Recht entschieden,
!. Kompetenzüberschreitungen kantonaler Behörden. N° 12. 7?
dass dem Berner Recht ein besonderes Eigentum am fliessenden Wasser oder
ein besonderes Quelleneigentnm fremd sei; diese Aussassung sei übrigens
zur Zeit der bereits erwähnten Entscheidungen nicht neu gewesen. Eine
Anderung, wie der angefochtene grossrätliche Beschluss sie mit sich
bringe, könnte nun nur durch ein Abänderungsgesetz, sei es auf dem
ordentlichen Wege der zweimaligen Beratung vor dem Grossen Rate und
des obligatorischen Referendums-, sei es auf dem Wege der Initiative,
eingesuhrt
' werden; denn es handle sich dabei nicht um eine Interpretation
des Gesetzes, sondern um die Schafsung einer wichtigen Ausnahme
vom gesetzlich festgelegten Eigentumsbegriff, die das Gesetz nicht
ferme. Im Jnterpretationsgesuche vom November 1906 qwerde zwar geltend
gemacht, dass das Gesetz selbst vom Eigentumer" einer Quelle spreche;
allein dieser Ausdruck erkläre sich einfach daraus, dass bei Erlass
des Gesetzes der Eigentümer des Grund und Bodens regelmässig auch
Eigentümer des Ausflusses der Quelle gewesen sei, und dass man danach
im Sinn des Gebrauche-s der pars pro toto sehr wohl vom Eigentümer der
Quelle habe sprechen dürfen. Der Umstand, dass die mit der vorliegenden
Angelegenheit besassten Behörden so verschiedene Ansichten daruber
geäussert hätten, welche Satzungen eigentlich durch die verlangte
Interpretation zu erläutern seien, und dass man zuletzt dazu gekommen
sei, die Interpretation auf die gesamten Satzungen vom Eigentum und von
den Dienstbarkeiten auszudehnen, beweise doch wohl zur Genüge, dass
man dabei die Axt an die Wurzeln des Gesetzesbaumes gelegt und nicht
nur einen einzelnen verwachsenen Zweig zurechtgestutzt habe. Solche
fundamentale Anderungen aber seien Sache der Gesetzgebung
D. Namens des Grossen Rates hat der Regierungsrat des Kantons Bern
Abweisung des Rekurses beantragt. Er betont zunächst gegenüber
der Darstellung des Rekurrenten, als ob sein Prozess mit der
Wasserversorgungsgesellschaft von Adelboden den Anlass und Ausgangspunkt
der streitigen Gesetzesinterpretation gebildet hatte, dass durch die
mehrerwähnten Entscheidungen des Appellationsund Kassationshofes sehr
bald eine allgemeine.lebhafie Bewegung unter den über ihren Rechtsbesitz
bennruhigten Wasserversorgungsinteressenten hervorgeruer worden sei,
die auch
78 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. HI. Abschnitt. Kantonsverfassungen.
zu Besprechungen in der Tagespresse und in Fachblättern, z. B.
im Novemberheft 1904 der Monatsschrift für Bern. Verwaltungsrecht (2
S. 509 ff.), geführt habe, und dass jedenfalls die etwa beabsichtigte
Verdiichtigung, als ob der angefochtene Grossratsbeschluss eine
Begünstigung der finanziellen Interessen bestimmter Unternehmungen oder
Personen bezwecken wiirde, als unwahr zurückgewiesen werden müsste. Sodann
führt der Regierungsrat des Näheru aus, dass der Grosse Rat weder durch
die Anhandnahme, noch durch die Art und Weise der Durchführung der
in seinem Beschlusse enthaltenen authentischen Gesetzesinterpretation
die vom Rekurrenten angerufenen Verfassungsbestimmungen verletzt habe,
indem er nach den ihm vorliegenden Ansichtsäusserungen der kompetenten
Behörden uud Gelehrten dieNotwendigkeit und Tunlichfelt der verlangten
Interpretation ohne weiteres habe bejahen dürfen und mit dieser selbst
keineswegs über seine Kompetenz hinausgegangen sei. Das ZGB lasse
unbestreitbar Zweifel über die Rechtsverhältnisse von Quellen auf fremden
Grundstücken übrig, und der Grosse Rat könne sich eines Eingriffs in
das Gebiet der Gesetzgebung durch Schaffung einer wichtigen Ausnahme
vom gesetzlich festgelegten Eigentumsbegriff, die das Gesetz nicht
kenntlworauf der Rekurrent hauptsächlich abstelle schon deswegen nicht
schuldig gemacht haben, weil der angefochtene Beschluss die juristische
Grundlage seiner Verfügung gar nicht fixiere, also insbesondere kein
Quelleneigentum schaffe, sondern nur die Selbständigkeit der Rechte an
Quellen aus fremden Grundstückentt mit Bezug auf Erwerb und Übertragung
statuiere, was dann naturgemäss die Einbeziehung aller gesetzlichen
Bestimmungen über die Erwerbung und Übertragung der dinglichen Rechte
in die Interpretation erfordert habe; in Erwägung:
1. Der Rekurrent ist zu seiner Beschwerdeführung darüber, dass sich der
Grosse Rat mit dem angefochtenen allgemein verbindlichen Beschlusse
der Überschreitung seiner verfassungsmässigen Kompetenz im Sinne der
Verletzung der Verfassungsbestinimungen über die Gesetzgebung, speziell
auch des verfassungsgemässen Mitwirkung-srechts des Volkes bei derselben,
schuldig gemacht habe, nach feststehender Praxis (vergl. neuestens AS 33
I Nr. 96 S. 829 Erw. 1 und dortige 3itate) legitimiert schon in seiner
unbe-]. Kompetenzüberschreitungen kantonale: Behörden. N° 12. 79
strittenen Eigenschaft als stimmberechtigter Kantonsangehöriger, abgesehen
von seinem speziellen Interesse zufolge seines dadurch be- einflussten
Zivilprozesses, auf den er sich wesentlich nur zum Legitimationsnachweis
zu berufen scheint.
2. Zn der Sache selbst ist davon auszugehen, dass unter der authentischen
Gesetzesauslegung welche die bernische Staatsverfassung ausdrücklich,
jedoch ohne besondere Begriffs-bestimmung, erwähnt und nicht der
gesetzgebenden Gewalt dem Grossen Rate in Verbindung mit dem Volke
(Art. 29 und 6, Ziff. 2), sondern dein Grossen Rate als solchen überträgt
(Art. 26, Ziff. 3), allgemeiner Rechtsanschauung gemäss zu verstehen ist
die mit Gesetzeskrast ausgestattete, d. h. formell allgemein verbindliche
Feststellung des Inhaltes geltenden Gesetzes-rechts, im Gegensatz zur
fwissenschaftlichen, formell überhaupt unverbindlicheu, und auch
zu der Anwendungsart der richterlichen, formell nur im gegebenen
Falle wirksamen Gesetzesauslegung (dergl. z. B. Dernburg, Pandekten
[B. Aufl.] 1 sil § 37z Unger, System des österreichischen Prioatrechts
I § 14). Sie unterscheidet sich somit, trotzdem sie formell ebenfalls
als Rechtssatzung erscheint, von der Gesetzgebung darin, dass sie nicht,
wie diese, materiell neues Recht schafft, d. h. nicht bestehendes Recht
abändert, sondern nur bestehendes Recht als solches klar stellt. Hieraus
aber folgt ohne weiters, dass wenn die authentische Gesetzesauslegung
wie nach dem gesagten im Kanton Bern, in die Kompetenz eines vom
Gesetzgeber verschiedenen Staatsorgans gelegt ist, dessen Erfassen
verfassungsmässige Gültigkeit nur zukommen kann, sofern sie die Grenzen
möglicher Gesetzesauslegung nicht überschreiten, also nicht Rechtssätze
ausstellen, welche nicht im Sinne des geltenden Gesetzes liegen können,
sondern faktisch eine Gesetzesänderung bedeuten würden, und dass daher
bei solcher Kompetenzordnung den Erlassen authentischer Gesetzesauslegung
gegenüber eine Beschwerde wegen Eingriffs in den Kompetenzbereich der
gesetzgebenden Gewalt möglich ist (vergl. AS 8 Nr. 99 Erw. L).
3. Demnach ist vorliegend grundsächlich zu untersuchen, ob der bernische
Grosse Rat mit seiner angefochtenen Gesetzesauslegung über den Rahmen
des geltenden Rechts hinausgegangen sei und einen darin nicht begründeten
Satz ausgesprochen habe, oder ob nicht vielmehr seine positive Normierung
der Behandlung der
80 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. Ill. Abschnitt; Xanmnsverfassungen.
Quellen im rechtsgeschäftlichen Verkehr eine nach dem Gesetze zweifelhafte
Rechts-frage im Sinne und Geisie desselben löse. Nun geht aus der
Begründung des dem Grossen Rate eingereichten Jnterpretationsbegehrens, in
Verbindung mit den von der Justizdirektion eingeholten Rechtsgutachten,
unzweideutig hervor, dass die Frage, in welchen Rechtsformen, nach
welchen Vorschriften des ZGB, der Erwerb und die Übertragung der Rechte an
Quellen aus fremden Grundstück-en zu erfolgen habe, zweifelhaft und ihre
Klarstellung geboten war. Auch der Rekurreut gibt dies stillschweigend
zu; denn er bestreitet nicht das Bedürfnis einer solchen Klarstellung,
sondern nur den Inhalt des vorliegenden Auslegungsbeschlusses, indem
er hiegegen einwendet, dass die darin niedergelegte Auffassung mit dem
Rechtssystem des hernischen ZGB nicht vereinbar sei. Zur Substanziierung
dieses Einwandes macht er wesentlich geltend, dass das bernische Recht
mit der Satzung 378 ZGB wonach sich bei einem Grundstücke das Recht
des Eigentümers nicht allein auf die Oberfläche, sondern auch aufwärts
auf die Lustsäule und in umgekehrter Richtung auf die Tiefe erstreckt
anlehnend an die Auffassung des französischen Code civil hinsichtlich der
Rechtsstellung der Quellen auf dem Boden der römischrechtlichen sog. pars
ibridi Theorie stehe, also die Quelle als rechtlich zum Quellgrundstück
gehörig behandle, und dass die angefochtene Gesetzesauslegung
einen Einbruch in diesen gesetzlichen Eigentumsbegriff, im Sinne der
Schaffung eines besonderen Quelleneigentnms bedeute. Diese Argumentation
übersieht jedoch, wie der Regierungsrat zutreffend einwendet, dass der
grossrdtliche Auslegungsbeschluss gar nicht von einem Quellen-Eigentum"
spricht, sondern den Erwerb und die Übertragung der Rechte an Quellen auf
fremden Grundstücken regelt, ohne dabei offenbar mit Absicht, im Sinne der
Antragsbegründung der Justizdirektion die Ratur dieser Rechte selbst zu
bestimmen. Nun steht aber die begrissliche Einbeziehung der Quelle in das
Grundstückeigentum der Möglichkeit der Begründung beschränkter dinglicher
Rechte an derselben im Gegensatz zum Eigentum an ihr als besonderer Sache
grundsätzlich nicht entgegen. Die streitige Gesetzesauslegung könnte
somit nur der Frage rufen, ob solche Rechte nach dem System des bernischen
ZGB selbständig sein, d. h. Gegenstand des freien Verkehrs in dem Sinne
bilden!. Kompetenzfiberschreitungen kantonaler Behörden. N° 12. 81
können, dass sie nicht notwendig, nach Art der vom Gesetzgeber
ausdrücklich erwähnten Dienstbarkeiten, entweder an eine bestimmte
berechtigte Person oder an ein bestimmtes berechtigtes Grundstück gebunden
sein müssen. Allein diese im Rekurse übrigens gar nicht aufgeworfene Frage
ist auf Grund der Vor-liegenden Rechtsgutachtem welche, wenn auch von
verschiedenen juristischen Konstruktionen ausgehend, übereinstimmend
mit eingehender und sorgfältiger Begründung die Zulassung solcher
Verkehrsfähigkeit der fraglichen Rechte anerkennen, unbedenklich zu
besahen und zwar auch bei völlig freier Nachprüfung, ohne die bisher
wiederholt ausgesprochene Kompetenzbeschränkung, wonach das Bundesgericht
nur gegenüber einer zweisellos unrichtigen Gesetzesauslegung der
zuständigen kantonalen Behörde einzuschreiten hätte (vergl. AS 25 I
Nr. 96 Erw· 3 S. 471 und dortige Zitate). Der vom Reknrrenten ferner
hervor-gehobene Umstand aber, dass die grossrätliche Gesetzesauslegung
so viele Satzungen des ZGB umfasst, erklärt fich, wie der Regierungsrat
zutreffend bemerkt, ohne weiteres aus dem erörterten Jnhalte dieser
Auslegung und kann an sich-natürlich nicht zum Beweise dafür angerufen
werden, dass in der angeblichen Gesetzesauslegung tatsächlich eine
Gesetzesänderung liege.
4. Erweist sich somit die im ersten Satze des angefochtenen Beschlusses
niedergelegte authentische Gesetzesauslegung als versafsungsrechtlich
unanfechtbar, so gilt dasselbe ohne weiteres auch vom Nachsatze des
Beschlusses, welcher dieser Auslegung rückwir{ende Kraft zuerkennt. Der
Rekurrent selbst hat diese Bestimmung in seiner Beschwerdebegründung mit
Recht nicht beanstandet; denn die rückwirkende Kraft ist dem Wesen der
anthentischen Gesetzesauslegung als der blossen Klarstellung des bereits
vorhandenen Gesetzeswillens überhaupt immanent und hätte daher nicht
einmal der vorliegenden ausdrücklichen Erklärung bedurft (dergl. z. B.
Savigny, System des römischen Rechts VIII, S. 511 f.; siDernEurg a. a. O.;
Unger a. a. O., S. 99; RegelsBerger, Pandekten I S. 142); --
erkannt: Der Rekurs wird abgewiesen.
Assxil 1908 6