370 A. Staatsrecmliche Entscheidungen. IV. Abschnitt. Staatsvertrà'ge.

Sachauslieferung darin nicht überhaupt völlig dem Ermessen des
ersuchten Staates anheimgegeben ist (Verträge mit Russland,. mit
Gross-Britannien und mit den Niederlanden) in unzweideutiger Weise
ausdrücklich vorgesehen. Es ist daher auch die fragliche Bestimmung
des schweizerisch-deutschen Auslieferungsvertrages, die sich ähnlich
nur noch in den beiden ältern Verträgen der Schweiz mit Italien vom
Jahre 1868 (Art. 150 und mit Portugal vom Jahre 1873 (Art. 13) findet,
vernünftigerweise, nach Sinn und Geist des Auslieferungsrechtes,
nicht anders auszulegen, d. h. dahin, dass ihre Bezeichnung der
im Besitze des . . . Angeschuldigten vorgefundenen Gegenstände-
als durch die Fortsetzung des Textes-: die Gerätschaften und
Werkzeuge . . . ze. näher erläutert erachtet wird (vergl. in diesem
Sinne, allerdings ohne nähere Begründung, schon AS 1 Nr. 108 Erw. 1
S. 4.22, sowie Töndury, Die Auslieferungsverträge der Schweiz und die
Bundespraxis in Auslieferungssachen, S. 120). Dass aber die erwähnten,
dem Angeschuldigten Pietsch abgenommenen Gegenstände mit dem ihm zur Last
gelegten Anslieserungsvergehen in keinerlei Zusammenhange stehen, ist ohne
weiteres "flat; ihre Anshingabe ist daher nicht zu bewilligen; erkannt:

Die Einsprache des Franz Pietsch gegen seine Auslieferung an Deutschland
wird in dem Sinne abgewiesen, dass die Auslieferung seiner Person
stattzufinden hat, die Aushingabe der ihm bei derVerhaftung abgenommenen
Gegenstände dagegen zu verweigern ist.B. STRAFREGHTSPFLEGE ADMINISTRATION
DE LA JUSTICE PÉNALEI. Bundesstrafi'echt. Code pénal fédéral.

57. Atti-it des Hassatiouehofes vom 27. Mai 1908 in Sachen
Yandesanwalrschast, Raff.-KL, gegen Yheiuen Kass.-Bekl.

Art. 61 BStr'R: Die Falschbesrkundung (faux immate'riel) fällt nicht
unter diese Gesetzesbestimmung.

(A.-E. wird, als zum Verständnis des Falles nicht notwendig, nicht
abgedruckt.)

Der Kassationshof zieht in Erwägung:

1. (Formelles.)

2. In tatsächlicher Beziehung ist zu bemerken: Der Kassationsbeklagte
ist geständig, als Postlehrling im November 1907 Unterschlagungen Von
einkassierten Postgeldern im Gesamtbetrage von 2264 Fr. 50 Cis begangen
zu haben. Dabei hat er hinsichtlich verschiedener Beträge (190 Fr. aus
Checkverkehr; 860 Fr. aus internem Geldanweisungsverkehrz 190 Fr. aus
internationalem GeldanweisungsverkehO unrichiige (Eintragungen im
Einzahlungsregister gemacht, indem er einen geringem Betrag als den
eingezahlten eingetragen hat, nämlich den nach Abzug des unterschlagenen
Bett-ages verbleibenden Rest. In dieser Handlung erblickt die
Kassationsklägerin eine Fälschung von Bundesakten gemäss Art. 61 BStrR,
und sie halt, da die Anstellungs-verfügung diese Auffassung zurückgewiesen
hat, die angeführte Gesetzesbestimmung für verletzt.

372 B. Strafrechtspflege.

3, In der Auslegung des Art. 61 BStrR und in der Frage, ob die angeführten
Handlungen des Kassationsbeklagten sich als Verfälschung von Bundesakten
darstellen, gehen die Kassationsklägerin und die Staatsanwaltschaft des
Kantons St. Gatten (mit dem Einstellungsbeschluss) insofern auseinander,
als der Einstellungsbeschluss verneint, dass es sich um ein Verfälschen
von Bundesakten handle, während die Kassationsbeschwerde das bejaht.
Auch vom Kafsationshof ist zweckmässig vorab diese Frage zu erörtern.

4. Das in Frage stehende Delikt des Kassationsbetlagten ist gemäss der
Doktrin als Falschbeurkundung oder intellektuelle Urkundeufälschung
(faux immatériel) zu bezeichnen. Diesem Delikt steht als andere Art
von Urkundendelikten die eigentliche Urkundenfälschung (faux matériel)
gegenüber. Die letztere charakterisiert sich als Anfertigung einer Urkunde
unter falschem Namen (Anfertigung einer falschen Urkunde), oder als
Veränderung einer wahren Urkunde (durch Beifügungen, Streichungen aim);
die erstere dagegen als Beurkundung von unwahren Tatsachen unter wahrem
Namen, die Anfertigung echter Unwahrheitsurkunden. (S. Binding, Lehrbuch,
Besonderer Teil Il. Hälfte 1. Abt., §§ 251 ff. S. 238 ff. [i. Aube Vergl·
sodann insbesondere die Gegenüberstellung in Art. 177 des waadtländ
Code pénal; Stooss, Schweiz. Strafgesetzbücher 2 S. 823 ff.) Die zu
entscheidende Frage ist demnach die, ob diese Falschbeurkundung, diese
Anfertigung einer echten Urkunde mit unwahrem Inhalt, als Verfälschung
von Bundesakten im Sinne des Art. 61 BStrR zu betrachten sei. Hiegegen
spricht schon der dem Wortlaut zu eutnehmende Sinn der Bestimmung Das
Verfälschen einer Urkunde ist begrifslich etwas von der Anfertigung einer
echten Urkunde mit unwahrem Inhalt durchaus verschiedenes Art. 61 BStrR
kennt viererlei Tatbeftände: die Verfälschung Von Bundesurkundenz die
Zerstörung von solchen; die Anfertigung von Schriften unter dem Namen,
Siegel oder der Unterschrift einer Amtsbehörde oder eines Bundesbeamten
(d. h. die falsche Unterschrift usw.); endlich das Geltendmachen falscher
oder verfälscht-et Urkunden. Hieraus geht zunächst hervor, dass das
Gesetz zwischen fälschen und verfälschen unterscheidet Unter ersterem
ist die falsche Unterschrift usw., die Herstellung einer unechten,
d. h. nicht vom[. Bundesstrafrecht. N° 57. 373

Aussteller herrührenden Urkunde zu verstehen; unter Verfälschen
die Veränderung einer ursprünglich echten Urkunde Beide Tatbestände
fallen daher unter die eigentliche Urkundenfälschung, den sogen. faux
matériel. Für die sogen. intellektuelle Urkundenfälschung bleibt
hiebei kein Raum; sie ist weder ein Fälschen im gedachten Sinne, noch
ein iVerfälschen, sondern etwas ganz anderes, nämlich die Benrkundung
von etwas unwahrem durch den Aussteller selbst, also, wie Binding,
a. a. O. S. 240 treffend sagt, das Gegenteil einer Fälschung. Dieses
Delikt ist in Gesetzgebung und Doktrin von jeher von der eigentlichen
Urkundenfälschung abgetrennt gewesen (vergl. die histor. Darstellung bei
Binding, a. a. O.); die Zweiteilnng war auch längst sehr wohl bekannt
bei Erlass des BStrR. Im Gegensatz zur Kassationsbeschwerde ist aus
diesem Umstande zu schliessen, dass das Gesetz diesen Tatbestand nicht
aufnehmen wollte. Das erklärte sich denn auch sehr natürlich aus zwei
Gründen. Erstens nämlich wird diese Falschbeurkundung wohl nie als
Selbstzweck vorgenommen, sondern stets ais Mittel zu einem Zweck, der
seinerseits seine Grundlage in einem Delikt hat (Mittel zur Verheimlichung
einer Unterschlagnng, zur Begehung eines Betruges; vergl. auch § 278 des
RStrGB als Spezialfall); die Falschbeurtunduug wird daher meist unter
diesem Gesichtspunkte mit zu fassen sein. Sodann ist nicht zu übersehen,
dass zur Zeit des Erlasses des Bundesstrafrechts die Kompetenz des
Bandes auf dem Gebiete des Strafrechts sehr eng begrenzt war und der
Bundesgeseizgeber eher die Tendenz verfolgte, alles, was nicht notwendig
und unbedingt in den Rahmen des Bandes-gesetzes gehörte, der Gesetzgebung
der Kantone anheimzustellen Auch von diesem Gesichtspunkte aus darf in
das Gesetz nicht etwas hineingelegt werden, was nach seinem Wortlaut und
nach der allgemein herrschenden Anschauung nicht darunter fällt. Ganz
ohne Behelf sind die Hinweisungen der Kassationsklägerin auf BBl 1905
I S. 734
und Salis, Bundesrecht 4 Nr. 1677 und 1678. Bei dem am ersten
Orte angeführten Fällen von Fälschungen von Bundesakten scheint es sich
stets um eine eigentliche Urkundenfälschung gehandelt zu haben. am. 1677
bei Salis führt aus, dass die intellektuelle Urkundensälschung ein im
Bundesstrafrecht nicht vorgesehene-Z Vergehen- sei; wenn es sich auch
um einen Fall der Bewirknng

374 B. Strafrechispflege.

einer Unrichtigen Eintragung durch einen Militärpflichtigen in das
Dienstbüchlein handelte, so kann daraus doch jedenfalls nichts gegen die
hier vertretene Auffassung gefolgert werden. Nr. 1678 endlich betrifft
falsche Eintragungen in die Schiesstabellen seitens des Präsidenten einer
Schützengesellschaft. Hier scheint allerdings eine Falschbeurkundung
vorgelegen zu haben. Allein die damalige Auffassung des Bundesrates, dass
darin eine Fälschung von Bundesakten liege, ist für den Kassationshof
nicht verbindlich.

5. Erweist sich danach die Auffassung der angefochteuen Verfügung als
richtig, so kann eine Erörterung der Frage, ob die betreffenden Register
als Bundesakten zu betrachten waren, unterbleiben, wie das auch in
der Begründung des Einfiellungsantrages durch die Staatsanwaltschaft
geschehen ist.

Demnach hat der Kafsationshof erkannt:

Die Kassationsbeschwerde wird abgewiesen

II. Polizeigesetze des Bundes. Lois de police de la Confédération.

Patenttaxen der Handelsreisenden. Taxes de patente.; des voyageurs
de commerce.

58. Eli-teil des Einhalten-honvom 9. Juni 1908 in Sachen
grundeganwaltlchafh Kass·-Kl gegen Herbei-. Kass.-Bekl.

Art. .! und 2 Patenttaxengesetz : Was ist (( bereisefl ernst Aufsuchen
von Bestellungen? Es liegt nicht vor, wenn ein Kaufen-annauf vorherige
Offerte eines auswärts Wohnenden hin zu tiefe-sent geht und die Bestellung
in der Folge ausfu'àrt.

A. Durch Urteil vom 20. Dezember 1907 hat das Obergericht des Kantons
Aargau (Abteilung für Strassachen) über die gegen Jean Gerber
angehobene Strafklage wegen Verletzung des Patenttaxengesetzes
erkannt:ZI. Poiîzeigeseize des Bundes. Patenttaxen der
Handelsreisenden. N° 58. 375

Der Beanzeigte Jean Gerher wird von Schuld und Strafe freigesprochen

B..Unter dem 23. Januar 1908 hat der Schweizerische Bundesrat
beschlossen, gegen das ihm am 18. gleichen Monats zugestellte Urteil
die Kassationsbeschwerde im Sinne der Art. 160 ff . OG zu erheben,
und die Bundesanwaltschaft hat das Rechts.mittel in Ausführung dieses
Beschlusses unter dem 24. gleichen Monats beim Regierungsrat des Kantons
Aargau eingelegt und alsdann unter dem 27. Januar dem Kassationshof die
Anträge und deren Begründung eingereicht. Die Anträge gehen dahin:

1. Der Kassationshof möge das Urteil des Obergerichts des Kautons Aargau
wegen Verletzung des Art. 2 und 3 des Bundesgesetzes vom 24. Juni 1892
gemäss den Bestimmungen der Art. 160 ff . OG aufheben und die Sache zu
neuer Entscheidung an die kantonale Behörde zurückweisen

2. Bei dieser Entscheidung habe der kantouale Gerichtshof die rechtliche
Beurteilung, die vom Kassationshof erfolgt, zu respektieren und über
die Anwendung des Gesetzes gegen Jean Gerber ein neues Urteil zu fallen.

C. Der Kassationsbeklagte hat auf Abweisuug der Kassationsbeschwerde
angetragen.

Der Kassationshof zieht in Erwägung:

1. Form und Frist des Rechtsmittels sind nach den in Fakt.B mitgeteilten
Daten gewahrt; die Legitimation des Bundesrates steht gemäss Art. 155
OG, in Verbindung mit dem Bundesratsbeschluss vom 27. Oktober 1905,
betreffend die Mitteilung der Gerichtsurteile in Patenttaerftreitigkeiten
(BBl 1905 V S. 499 f.) ausser Zweifel.

2. In tatsächlicher Beziehung ist festgestellt: Im Sommer 1907 wandte sich
der Gemeinderat von Reinigen schriftlich an den in Lausanne wohnenden
Kafsatiousbeklagten, mit dem Ersuchen, eine foerte über verschiedene
Feuerlöschgerätschaften für die von der Gemeinde neu erstellte
Hydrantenanlage zu machen. Da die Behörde nach Eingang der Offerte noch
nähern Anfschluss wünschte, veranlasste sie den Kassationsheklagten,
persönlich nach Remigen zu kommen (Mitte Juli). Am 26. Juli erfolgte,
gestützt auf die vom Kassationsbeklagten am 15. und 22. Juli eingereichten
schriftlichen Offerten und auf die in Remigen ge-
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 34 I 371
Date : 27. Mai 1908
Published : 31. Dezember 1908
Source : Bundesgericht
Status : 34 I 371
Subject area : BGE - Verfassungsrecht
Subject : 370 A. Staatsrecmliche Entscheidungen. IV. Abschnitt. Staatsvertrà'ge. Sachauslieferung


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OG: 2  3  155  160
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BBl
1905/I/734 • 1905/V/499