686 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. ll. Abschnitt. Bundesgesetze.

Zweiter Abschnitt. Seconde section. Bundesgesetze. Lois fédérales. M

I. Auslieferung von Verbrechern und Ang-eschuldigten. Extradition de
criminels.

116. Urteil vom 21. Dezember 1904 in Sachen Bartholdi gegen
Gerichtskommission Wil.

Zulässigkeit des auf Verletzung des Anzi. Ges. gest-Zinsen
sèaatsasiechtè. Bekurses in jedem Stadium des Verfahrens. -Unzulässiglceit
dee Verurteilung wegen eines Ausie'eferungsdeli/ctes ohne Stelluflg
des Aecslieferungsbegehrens; Ungüléigkeit ein-es Koulroretatee, das das
Gegenteil anordnen eurer-da

Das Bundesgericht hat, da sich ergibt:

A. Durch Urteil der Gerichtskommisfion Wil vom 8. September 1904 wurde
der im Kanton Thurgau heimatberechtigte und wohnhafte Rekurrent wegen
fortgesetzten Betrugs nach Art. 68 und 56 Ziff. 1 des st. gallischen StG
in contumatiam zu einer Busse von 25 Fr. und den Kosten verurteil. Der
Rekurrent war überführt und geständig, in verschiedenen Geschäften in
Wil unter falschen Angaben Waren ohne Bezahlung erhoben zu haben. Er
hatte gegen die Strafverfolgung durch die St. Galler Behörden
Verwahrung eingelegt, weil er von den thurgauischen Gerichten nach
thurgauischen Gesetzen zu beurteilen sei. Doch war diese Einsprache
von der Gerichtskommission Wil unter Hinweis auf die Übereinkunft der
Kantone St. Gallen und Thurgau vom

I. Auslieferung von Yerbrechem und Angeschuldigten. N° 116 687

30. April 1845 verworfen worden. Nach dieser Übereinkunft verpflichten
sich St. Gallen und Thurgau gegenseitig zur Vollziehung von Urteilen in
Korrektionalund Polizeistrafföllen, die gegen Bürger oder Einwohner der
beiden Kantone erlassen sind.

B. Gegen das erwähnte Strafurteil hat Bartholdi rechtzeitig den
staatsrechtlichen Rekurs ans Bundesgericht ergriffen. Es wird ausgeführt,
dass nach dem Auslieferungsgefetz von 1852, bevor gegen den Rekurrenten
im Kanton St. Gallen vorgegangen werden konnte, dessen Auslieferung vom
Kanton Thurgau hätte verlangt werden sollen. Das Urteil sei daher als
bundesrechtswidrig aufzuheben.

C. Die Gerichtskommission Wil hat beantragt, es sei auf den Rekurs nicht
einzutreten, weil der Rekurrent zuerst die Nichttgkeitsbeschwerde ans
Kantonsgericht hätte ergreifen sollen, eventuell, es sei der Rekurs als
unbegründet abzuweisen, weil das angefochtene Urteil nach der erwähnten
Übereinkunft zwischen St. Gallen und Thurgau zulässig gewesen sei; --

. in Erwägung:

1. Nach feststehender Praxis kann eine Verletzung des
Auslieferungsgesetzes vom Jahre 1852 in jedem Stadium des schwebenden
Strafverfahrens durch staatsrechtlichen Rekurs gerügt werden, sofern nur
der Betroffene sich der angeblich unstatthaften Strafverfolgung nicht
freiwillig unterworer hat, was vorliegend jedoch unbestrittenermassen
nicht geschehen ist. Der Einwand der Gerichtskommission, dass der
Rekurrent sich vorerst mit einer Kassationsbeschwerde ans Kantonsgericht
hätte wenden sollen, kann somit nicht gehört werden.

2. Nach dem Auslieferungsgesetz hat, wie das Bundesgericht schon oft
ausgesprochen hat, der Angeschuldigte, der in einem andern Kanton wegen
eines Auslieferungsdelikts zur Verantwortung gezogen wird und sich nicht
freiwillig stellt, Anspruch darauf, dass der verfolgende Kanton vor
Durchführung des Strafverfahrens vom Wohnortsoder Aufenthaltskanton
die Auslieferung verlangt, wobei dann der letztere bei Bürgern und
Niedergelassenen unter Übernahme der Strafverfolgung die Auslieferung
verweigern kann. Da der Rekurrent wegen Betrags, also wegen eines
Auslieferungsdelikts im Sinn des Art. 2 des BG, im Kanton

xxx, 1. 49031 45 '

688 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. 11. Abschnitt. Bundesgesetze.

St. Gallen verfolgt und bestraft worden ist, und sich nicht etwa der
Jurisdiktion dieses Kantons freiwillig unterstellt hat, so verstösst das
angesochtene Urteil gegen jenen Grundsatz des Bundes- rechts. Demgegenüber
kann sich die Gerichtskommissiou auch nicht auf die Übereinkunft
der Kantone St. Gallen und Thurgau vom Jahr 1845 berufen; denn einmal
bezieht sich dieses Verkommnis nur auf die gegenseitige Vollziehung von
Urteilen in korrektionellen und Polizeisiraffällen und nicht auf die
Auslieferung von Angeschuldigten, und wenn daraus auch für den Verkehr
der beiden Kantone in gewissem Sinn eine Modifikation der Bestimmungen
des BG betreffend Auslieferung gefolgert werden wollte, so ist doch
ganz klar, dass der von bundesrechtswegen bestehende Rechtsanspruch
eines Angeschuldigten, dass vor Durchführung des Strafverfahrens seine
Auslieferung verlangt werde, durch Abmachuiigen der Kantoiie nicht
beseitigt werden kann.

Das angefochtene Urteil ist nach dem Gesagten aufzuheben; --

erkannt:

Der Rekurs wird als begründet erklärt und das Urteil der

Gerichtskominission Wil vom 8. September 1904 aufgehoben.

II. Schuldbetreibung und Konkurs. Poursuites pour dettes et fafilite.

117. Urteil vom 24. November 1904 in Sachen Vetter gegen Gebrüder Arnold &
Eie. (Obergericht Uri).

Beeèeutung von Art. 15
SR 281.1 Bundesgesetz vom 11. April 1889 über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG)
SchKG Art. 15 - 1 Der Bundesrat übt die Oberaufsicht über das Schuldbetreibungs- und Konkurswesen aus und sorgt für die gleichmässige Anwendung dieses Gesetzes.
1    Der Bundesrat übt die Oberaufsicht über das Schuldbetreibungs- und Konkurswesen aus und sorgt für die gleichmässige Anwendung dieses Gesetzes.
2    Er erlässt die zur Vollziehung dieses Gesetzes erforderlichen Verordnungen und Reglemente.
3    Er kann an die kantonalen Aufsichtsbehörden Weisungen erlassen und von denselben jährliche Berichte verlangen.
4    ...23
5    Er koordiniert die elektronische Kommunikation zwischen den Betreibungs- und Konkursämtern, den Grundbuch- und Handelsregisterämtern, den Gerichten und dem Publikum.24
SchKG betr. die Oberaufsicht in
Sclcaldbctreibnngsund Zentrierer-erobern Zulässigkeit des
staeetsrechtlzcken Rekm ses gegenüber Entscheiden betr. Bewilligung
des Rechtsverschlags in der Wechselbetres'bung, Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV, Art._182
spez. Ziff. 4 SchKG. Stellung des Bundesgericfets als Staatsgerzchtshof.

A. Der Rekurrent, Holzhändler J. Vetter in Lemberg (Galizien),
steht mit den Rekursbeklagten Gebrüder Arnold & Cie, welche m Bürglen
eine Holzhandlung betreiben, in Geschäftsverkehr, indem er denselben
waggonweise Holz liefert. Jin Sommer 1904 wurdenII. Schuldbetreibung
und Konkurs. N° 117. 689

verschiedene Eigenwechsel, welche die Rekursbeklagten zur Regiiernng
der Fakturen solcher (zum Teil erst zukünftiger) Lieferungen ausgestellt
hatten, protestiert Hieran leitete der Rekurrent gegen die Rekursbeklagten
folgende Wechselbetreibungen ein: Am 25. Juli 1904, unter Nr. 227, 228 und
229, für Wechselbeträge mit Spesen von 710 Fr. 55, 710 Fr. 80 und 1013
Fr. 35, fällig auf den 30. Juni bezw. 1. Juli 1904; am 26. Juli 1904,
unter Nr. 230, für einen Betrag von 1016 Fr. 35, fällig auf den 10. Juli
1904; am 4. August 1904, unter Nr. 234, für einen Betrag von 1014 Fr. 45,
fällig auf 20. Juli 1904; endlich am 16. August 1904, unter Nr. 239, für
einen Betrag von 1015 Fr. 50, fällig auf 31. Juli 1904. Auf alle diese
Betreibungen mit Ausnahme von Nr. 234, deren Forderungebetrag sie am
24. August 1904 bezahlten erhoben die Rekursbeklagten Rechtsvorschlag,
und zwar bei Nr. 227-230 ohne schriftliche Angabe des Rechtsgrundes,
bei Nr. 239 mit der Be- gründung: weil wir die Ware für den Betrag noch
nicht erhalten. Der Rechtsvorschlag wurde vom Kreisgericht Uri verworfen:
betreffend die Betreibungen Nr. 227 230 durch Entscheid vom 16. August
1904, weil die Schuldner es unterlassen, den Rechtsvorschlag zu begründen
oder eine wechselrechtliche Einrede geltend zu machen, in Anbetracht,
dass keine der in Art. 182
SR 281.1 Bundesgesetz vom 11. April 1889 über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG)
SchKG Art. 182 - Das Gericht bewilligt den Rechtsvorschlag:
1  wenn durch Urkunden bewiesen wird, dass die Schuld an den Inhaber des Wechsels oder Checks bezahlt oder durch denselben nachgelassen oder gestundet ist;
2  wenn Fälschung des Titels glaubhaft gemacht wird;
3  wenn eine aus dem Wechselrechte hervorgehende Einrede begründet erscheint;
4  wenn eine andere nach Artikel 1007 OR353 zulässige Einrede geltend gemacht wird, die glaubhaft erscheint; in diesem Falle muss jedoch die Forderungssumme in Geld oder Wertschriften hinterlegt oder eine gleichwertige Sicherheit geleistet werden.
SchKG vorgesehenen Voraussetzungen vorliege;
betreffend die Betreibung Nr. 289 durch Entscheid vom 20. September
1904, in Anbetracht, dass die von den Schuldnern, gestützt auf Art. 182
Ziff.4
SR 281.1 Bundesgesetz vom 11. April 1889 über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG)
SchKG Art. 182 - Das Gericht bewilligt den Rechtsvorschlag:
1  wenn durch Urkunden bewiesen wird, dass die Schuld an den Inhaber des Wechsels oder Checks bezahlt oder durch denselben nachgelassen oder gestundet ist;
2  wenn Fälschung des Titels glaubhaft gemacht wird;
3  wenn eine aus dem Wechselrechte hervorgehende Einrede begründet erscheint;
4  wenn eine andere nach Artikel 1007 OR353 zulässige Einrede geltend gemacht wird, die glaubhaft erscheint; in diesem Falle muss jedoch die Forderungssumme in Geld oder Wertschriften hinterlegt oder eine gleichwertige Sicherheit geleistet werden.
SchKG erhobene Einrede nach den Akten nicht genügend glaubwürdig
erscheine. Auf Appellation der Schuldner aber erkannte das Qbergericht
des Kantons Uri am 14. Oktober 1904 für alle Betreibungen,

in Anbetracht, dass die Schuldner, Gebrüder Arnold & Cie, an Hand der
Akten glaubhaft zu machen im Falle seien, dass zwischen ihnen und dein
Kreditor J. Vetter bezüglich der fraglichen Wechselforderungen wirklich
Rechnungsdifferenzen bestehen und das Schuldverhältnis kein abgeklärtes
sei,

in Anwendung des Art. 182 Abs. 4
SR 281.1 Bundesgesetz vom 11. April 1889 über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG)
SchKG Art. 182 - Das Gericht bewilligt den Rechtsvorschlag:
1  wenn durch Urkunden bewiesen wird, dass die Schuld an den Inhaber des Wechsels oder Checks bezahlt oder durch denselben nachgelassen oder gestundet ist;
2  wenn Fälschung des Titels glaubhaft gemacht wird;
3  wenn eine aus dem Wechselrechte hervorgehende Einrede begründet erscheint;
4  wenn eine andere nach Artikel 1007 OR353 zulässige Einrede geltend gemacht wird, die glaubhaft erscheint; in diesem Falle muss jedoch die Forderungssumme in Geld oder Wertschriften hinterlegt oder eine gleichwertige Sicherheit geleistet werden.
SchKG:

1. Der Wechselrechtsvorschlag der Gebrüder Arnold & Cie sei bewtlligt,
dieselben jedoch verpflichtet, sofort den Forderungsbetrag
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 30 I 686
Date : 21. Dezember 1904
Published : 31. Dezember 1904
Source : Bundesgericht
Status : 30 I 686
Subject area : BGE - Verfassungsrecht
Subject : 686 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. ll. Abschnitt. Bundesgesetze. Zweiter Abschnitt.


Legislation register
BV: 4
SchKG: 15  182
StG: 56  68
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