174 Civurechtspflege.
die Revisionsktägerin auf diese Behauptung im Scheidungsprozesse niemals
abgestellt hat, es sich also gleichfalls nicht um eine Beweisverstärkung
im Sinne von Art. 192 Ziff. 2 cit. handelt. Demnach hat das Bundesgericht
erkannt: Das Revisionsbegehren wird abgewiesen.
20. Zweit vom 14. Februar 1902 in Sachen Emle Bekl. U. Kass-Kl gegen
Entgelt-, Kl. u. Kass.-Bekl.
Kassationsbeschwerde in Civitas-chen, Am. 89 13°. Org.-Ges. Zulässigkeit.
A. Durch Urteil vom 9. Januar 1902 hat das Qbergericht des Kantons
Solothurn erkannt:
Durch das vom Amtsgericht Solothurn-Lebern am 22. November 1901 erlassene
Urteil hat keine offenbare Gesetzesverletzung stattgefunden und es ist
genanntes Urteil nicht aufzuheben .
B. Gegen dieses Urteil hat der Beklagte rechtzeitig und in richtiger Form
die Kasfationsbeschwerde im Sinne der Art. 89 ff. eidg. Org.-Ges. an
das Bundesgericht ergriffen, mit dem Antrage: Das angefochtene Urteil
sei aufzuheben und die Streitsache zu neuer Beurteilung an das kantonale
Gericht zurückzuweiseu.
C. Der Klager hat aus Abweisung der Kassationsbeschwerde angetragen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Dem dem angefochtenen Urteile vorausgegangenen Urteile des Amtgerichtes
Solothurn-Lebern liegt folgender Sachverhalt zu Grunde: Am 2. April 1901
verkaufte der Kläger (heutige Kassationsbeklagte) Jngold, Viehhändler
in Nieder-Grasswyl, dem Beklagten (heutigen KasfationsklägerJ Misteli,
Metzger, in Solothurn, eine Kuh zum Preise von 1 Fr. das Kilo; das Gewicht
sollte nach den Vierteln bestimmt werden. Die Wägung der dem Beklagten am
Z. April gelieferten und von ihm gleichen Tages in Empfang genommenen Kuh
im Schlachthause Solothurn ergab in den Vierteln ein Gesamtgewicht von
222 Kg. Bei der tier-VIII. Organisation der Bundesrechtspflege. N° 20. 175
ärztlichen Kontrolle erwies sieh das Fleisch alssmnigs weshalb dessen
Beseitigung versügt wurde. Der Beklagte weigerte sich infolge dessen,
den Kaufpreis zu bezahlen, und der Slaget erhob daher gegen ihn Klage
auf Bezahlung des Kaufpreises von '222 Fr: nebst 50/0 Zins seit Anhebung
der Klage· Er stellte sich dabei auf den Standpunkt, es handle sich um
einen Viehhandeh zu dessen Beurteilung das kantonale Recht zur Anwendung
fornirle, nach diesem hafte der Verkänfer für Mangel nue, wenn ein
schriftliches Gewährleistungsverfprechen vorliege, an diesem Erfordernisse
mangle es aber. Der Beklagte vertrat dem gegenuber die Auffassung, wenn
Vieh zum Schlachten verkauft 'ma-de handle es sich nicht sowohl um einen
Viehhandel, als vielmehr Um den Verkauf von Fleisch; daher kommen nicht
die (kantonalen) Bestimmungen über die Gewährleistung beim Viehhandel,
sondern die Bestimmungen des eidgenössischen Obligationenrechtes uber
Gewährleistung für Mängel der Kaufsache zur Anwendung Uberdies herrsche
im Kanton Solothurn, wie auch ansoielen andern Orten, im Schlachtverkehr
die Ufance, dass. in llFallen, wo dasFleisch des geschlachteten Tieres
als gesundhettsschadlich abgeschatzt werde, der Schaden den Verkäufer
treffe. Uber letztere Behauptung nahm das Amtsgericht den vom Beklagten
anerbotenen Zeugenbeweis ab, der jedoch ein positives Resultat nicht
ergal). Zur Entscheidung der Sache selbst hat sodann das Amtsgertcht
die: Bestimmungen über Gewährleistung im Viehhandel, also das kantonale,
und zwar (da der Kanton Solothurn vom Kontordate über Viehhauptmängel
zurückgetreten ist) das vsolothurmsche Recht als anwendbar erklärt und
gestützt hierauf die Klage gute et en.
g h2.ssGegen dieses Urteil ergriff der Beklagte und heutige Kassel:
tionskläger die Appellation wegen ossenbarer Gesetzesverletzung
im Sinne der §§ 219 ff. solothurnische C.-P.-O., Indem er geltend machte,
darin, dass das Amtsgericht kantonales Recht und nicht das eidgenössische
Obligationenrecht, speziell Art. 243, zur Anwendung gebracht habe, liege
eine offenbare Gesetzesverletzung Das Obergericht des Kantons Solothurn
hat hierauf das em-, gangs genannte Urteil gefällt, dessen Begründung
sich aus dem Wortlaute des Dispositivs 1 ergibt. Die hiegegen gerichtecie
Kassentionsbeschwerde stützt sich darauf, dass die kantonalen Justanzen
178 Givilrechispflege.
zu Unrecht die kantonalen Bestimmungen über Gewährleistung bei
Viehhauptmängeln statt das eidgenössische Obligationenrecht zur Anwendung
gebracht hätten.
3. Die Kafsationsbeschwerde an das Bundesgericht in Grilsachen ist
gemäss am. 89 Org.-Ges. zulässig in denjenigen Rechtsstreitigkeiten,
die nach eidgenössischen Gesetzen zu entscheiden sind, bei denen aber
die Berufung nicht statthaft ist. Letzteres Erforsdernis trifft hier zu,
und das erstere, die Anwendbarkeit eidgenössischen Rechts wenigstens
insoweit, als diese Anwendbarkeit vom Kassationskläger behauptet und
also, wie es zur Begründung der Kassationsbeschwerde erforderlich ist,
geltend gemacht wird, das kantonale Gericht habe statt des eidgenössischen
kantonales Recht zur Anwendung gebracht. Eine weitere Voraussetzung der
Zulässigkeit der Kassationsbeschwerde ist sodann, dass diese sich gegen
ein letztinstanzliches kantonales Urteil richte, und zwar ist hierunter
nach feststehender Praxis des Bundesgerichtes (s. Urteil vom 22. Oktober
1898 i. S. Baum und Mosbacher gegen Stauber, Amtl. Samml., Bd. XXIV,
II, S. 933 und dort eitierte) und in Anlehnung an den französischen und
italienischen Text des Gesetzes ein Haupturteih d. h. ein Urteil, das
über den eingeklagten Anspruch selbst materiell endgültig entscheidet,
zu verstehen. Es ist daher zu prüfen, ob das angefochtene Urteil sich
als Haupturteil in diesem Sinne darstelle. Nun geht das Dispositiv dieses
Urteils seiner Fassung nach dahin, das amtsgerichtliche Urteil habe eine
offenbare Gesetzesverletzung nicht begangen und sei daher nicht aufzuheben
Dieser Fassung nach enthält also das obergerichtliche Urteil zweifellos
keinen Entscheid in der Sache selbst, über den eingeklagten Anspruch,
sondern nur einen solchen Über die Begründetheit oder Unbegründetheit
des vom Kassatiouskläger gegen das amtsgerichtliche Urteil ergriffenen
.Rechtsmittels. Nach der solothurnischen Civilprozessordnung hatte sich
denn auch in der Tat die Überprüfung des Obergerichtes zunächst hieraufo
beschränken: Eine eigentliche Appellation gegen das amtsgerichtliche
Urteil war mangels der erforderlichen Appellationsfumme nicht zulässig;
dagegen war gegen das Urteil gemäss s 219 solothurnische C.-P.-O. die
sogenannte Appellation wegen offenBareiGesetzesverletzung zulässig, die
also nur darauf gestützt wer-VIII. Organisation der Bundesrechtspflege. N°
20. 177
den fami, das mit ihr angefochtene Urteil beruhe ans offenbar-er
Gesetzesverletzung In einem solchen Falle hat das Obergericht gemäss §
220 eod. zunächst zu untersuchen, ob die behauptete Gesetzesverletzung
stattgefunden habe; und nur wenn es finder, seine solche liege vor,
urteilt es materiell in der Streitsache ab. Die Prüfung des Obergerichts
erstreckt sich also zunächst aus die Frage der Begründetheit des
Rechtsmittels, und wenn diese verineint wird, findet eine Entscheidung
in der Sache selbst nicht statt, sondern geht der Entscheid lediglich auf
Abweisung des Rechtsmittels Es handelt sich also bei dem letztern, trotz
seiner Bezeichnung als Appellation, in Wirklichkeit nicht um eine solche,
sondern um ein Rechtsmittel, das Kassationsgründe geltend macht. Das über
dieses Rechtsmittel ergehende Urteil ist daher kein über den streitigen
Anspruch entscheidendes Haupt.urteil, sondern es spricht zunächst nur aus,
und kann nur aussprechen, ob dem untergerichtlichen Urteile der behauptete
Mangel der offenbaren Gesetzesverletzung anhaste oder nicht. Nur soweit
diese Frage zu Gunsten des Kassatiousklägers entschieden wird, hat das
Obergericht zur materiellen Beurteilung der Sache zu schreiten. Wird,
wie im vorliegenden Falle, die Kassationsbeschwerde abgewiesen,
so fällt das Obergericht überhaupt keinen Entscheid in der Sache
selbst und ist sein Urteil ans diesem Grunde nicht als Haupturteil
anzusehen, als letztinstanzliches kantonales Urteil erscheint
vielmehr das unter-gerichtliche Urteil; gegen dieses hätte daher die
Kafsationsbeschwerde an das Bundesgericht ergriffen werden sollen.
Demnach hat das Bundesgericht erkannt: Auf die Kassationsbeschwerde wird
wegen Unstatthaftigkeit derselben nicht eingetreten.
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