228 I. Entscheidungen der Schuldhetreibungsund Konkurskammer.
Die Schuldbetreibungs und Konkurskammer zieht in Erwägung:
Die Retentionsurkunde wurde aufgenommen gegen den Mieter Knecht als
Schuldner einer von ihm eingesorderten Mietzinsrate. Die Reknrrenten
als Aftermieter stehen somit diesem Akte provisorischer Beschlagnahme,
der sich lediglich gegen ihren Vermieter richtet, in der Stellung
von Drittparteien gegenüber-. Jhr Begehren, die fraglichen Objekte
ans der Retention zu entlassen, gründet sich nicht darauf, dass
es an den gesetzlichen Voraussetzungen für die Aufnahme einer
Retentionsurkunde fehle, sondern darauf, dass genannte Objekte,
weil ihr Eigentum, nicht in die Urkunde einbezogen werden können. Es
handelt sich also um Drittansprüche in dem gegen Knecht eröffneten
Exekutionsverfahren, über weiche Ansprüche die Gerichte und nicht die
Ans- sichtsbehörden zu entscheiden befugt sind (Art. 106 109 und 155 des
Betreibnngsgesetzes). Erstere werden also gegebenen Fall-s darüber zu
befinden haben, ob die sireitigen Jllaten Eigentum der Rekurrenten seien,
und wenn ja, ob nicht dennoch ein entgegenstehendes Retentionsrecht des
Obervermieters Picard diesem gegenüber deren Vindikation ausschliesse.
Demnach hat die Schuldbetreibungs und Konkurskammer erkannt: Der Rekurs
wird abgewiesen.Lausanne. Imp. Georges Bridei & Ci!A. STAATSREGHTLIUHE
ENTSGHEIDUNGEN ARRÉTS DE DROIT PUBLIC
WErster Abschnitt. Première section. Bundesverfassung. -Constitution
sédérale. I. Rechtsverweigerung und Gleichheit vor dem Gesetze.
Déni de just-ice et égalité devant; la loi.
57. Urteil vom 26. September 1902 in Sachen Golliez gegen Bern.
Nichtanwendbarkeit des Grundsatz des rechtlichen Gehò'rs im
Adminisäfrativ-Verfahren. Beschwerden aber ungleiche Behandlung mit
Bezug auf die Handelscmd Gewerbefreiäeit sind vom Bundesrate, nie-letvom
Bundesgee'siiclzt zu beurteiien. Art. {89 Ziff. 3 Org.Ges.
A. Am 22. Juni 1887 ist dem Apotheker F. Golliez in Murteu von der
Sanitätsdirektion des Kantons Bern die gestützt auf am. 8 des bernischen
Gesetzes über die Ausübung der medizinischen Berufsarten vom 14. März
1865 nachgefnchte Bewilligung erteilt worden, nebst andern Präparaten
den von ihm erstellten Eisencognac in hernischen Zeitungen und Kalendern
als Tit-zuei-
xxvm, L 1902 QG
230 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.
mittel zu publizieren Die genannte Gesetzesbestimmung lautet:
Ankündigungen von angeblichen Arzneimitteln, zum Gebrauch ohne spezielle
ärztliche Verordnung, sind ohne Bewilligung der Direktion des Innern
jedermann, auch den Medizinalpersonen, ,verboten. Am 24. September
1901 hat das bernische Sauitätskollegium, welchem die Begutachtung
solcher Fragen zusteht, bei Anlass der Behandlung des Gesuches einer
andern Firma umBewilligung zur Publikation eines ähnlichen Präparates,
der Sanitätsdirektion den Wunsch ausgesprochen, es möchte dem F Golliez
die ihm seiner Zeit erteilte Bewilligung entzogen werden. Das Kollegium
gelangte zu diesem Antrage nach dem Protokoll deshalb, weil die Ärzte
seit der Erteilung der Bewilligung genügend Gelegenheit gehabt hätten, mit
dem Eisencognac und ähnlichen Präparaten schlimme Erfahrungen zu machen,
indetn die Leute im Glauben, ein bewährtes Arzneimittel zu gebrauchen,
zum Alkoholmissbrauch verleitet worden sind und das betreffendeVi-{imm
nicht mehr wegen seines Eisen-, sondern wegen seines Cognacgehaltes
eingenommen haben. Dem Wunsche des Sanftätskollegiums folgend, hat
die bernische Sanitätsdirektion am ö. Oktober 1901 dem Apotheke-:
Golliez die im Jahre 1887 erteilte Bewilligung zur Publikation seines
Eiseneognacs entzogen, wobei ihm die angegebene Begründung mitgeteilt
wurde. Golliez suchte hieraus bei der Sanitätsdirektion darum nach,
diese möchte beim Sanitätskollegium nähere Auskunft über die Gründe
einholen, die es zu seinem Antrage veranlassten, und ihm das Ergebnis der
Untersuchung mitteilen; auch wünschte Golliez Einsicht in die übrigen von
der Sanitätsdirektion erteilten Bewilligungen zu erhalten. Die Eingabe
hatte nur den Erfolg, dass Golliez aus den Rekursweg verwiesen wurde. Jn
der Tat beschwerte er sich mit Eingabe vom 28. Januar 190.2 gegen die
Verfügung der Sanitätsdirektion vom 5. Oktober 1901 beim bernischen
Regierungsrate, weil dieselbe eine offenbare Rechtsverletzung, ferner
einen Verstoss gegen die Grundsätze der Gleichheit der Bürger vor dem
Gesetze und der Handelsund Gewerbefreiheit enthalte. Die Rechtsverletzung
wurde darin erblickt, dass die Vorschrift des Art. 48 der bernischen
Kantonsversassung missachtet worden sei, wonach alle Entscheidungen in
Verroalfungsstreitigfeifen, und alle]. Rechtsverweigemng und Gleichheit
vor dem Geseize. N° 57. 231
Beschlüsse von Regierungsbehörden, die sich auf einzelne Personen
und Korporationen beziehen, motiviert werden sollen, und aus der sich
ergebe, dass der beklagten Partei das richterliche Gehör geschenkt werden
müsse. Der Regierungsrat des Kantons Beru wies den Rekurs mit Entscheid
vom 8. April 1902 ab. Über die Beschwerde wegen Rechtsverletzung
wurde bemerkt: Es sei tatsächlich unrichtig, dass die angefochtene
Verfügung nicht motiviert worden sei. Aber auch in dem Umstande, dass dem
Beschwerdesührer nicht Gelegenheit zur Verantwortung gegeben worden sei,
liege keine Rechtsverletzung; denn es habe sich weder um persönliche
Eigenschaften oder Handlungen des Golliez, noch um die Zusammensetzung
und Beschaffenheit seines Cisencognaes an und für sich und um eine
daherige Verschiedenheit der Ansichten des Sanitätskolleginrns und
des Rekurrenten gehandelt, in welchem Falle eine Verantwortung des
letztern Sinn gehabt hätte, sondern lediglich um erfahrungsgemässe Folgen
der schwunghaft betriebenen öffentlichen Anpreisung und des hierdurch
veranlassten häufigen Genusses des Eisencognaes ohne ärztliche Verordnung
durch Personen, denen derselbe geradezu zum Schaden gereichte. Was bei
dieser Sachlage es für einen Sinn gehabt hätte, Golliez Gelegenheit zur
Verantwortung zu geben, sei nicht einzusehen, da letzterer ja die Käuser
seines Präparates zu kennen und die Folgen eines missbräuchlichen Genusses
zu beobachten gar nicht im stande sei. Wohl aber sei die Sanitätsbehörde
berechtigt und selbst verpflichtet gewesen, die seiner Zeit aus
unrichtiger Voraussetzung beruhende Bewilligung wieder zurückzuziehen,
nachdem sie sich von den schädlichen Folgen desselben überzeugt hatte.
B. Gegen diesen Entscheid hat F. Golliez rechtzeitig beim Bundesgericht
staats-rechtliche Beschwerde erhoben, weil ihm das rechtliche Gehör
verweigert worden sei, und weil der angefochtene Entscheid den Grundsatz
der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz Verletze JU erfierer Beziehung
bezeichnet der Rekurreut die Weigerung der Behörden, ihm Gelegenheit
zu geben, sich über die vom Sauitätskollegium gegen ihn d. h. gegen
seinen Eifeneognae erhobenen Beschuldigungen zu rechtfertigen, als eiue
Rechtsverweigerung, und er hält in dieser Beziehung an allen seinen
Anbringen in der Beschwerde an den Regierungsrat fest Der Antrag geht
232 À. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.
dahin, es sei der Rekurs gegen die Zurücknahme der dem Reinerenten
erteilten Bewilligung, seinen Eiseneognae anzukündigen, begründet zu
erklären.
C. Der Regierungsrat des Kantons Bern schliesst in seiner Vernehmlassung
auf Abweisung der Beschwerde Von einer Verweigerung des rechtlichen
Gehör-Z könne, wird geltend gemacht, angesichts der Natur der
beanstandeten Verfügung, keine Rede sein; gleichwohl werden einzelne
Tatsachen genannt, die das Santtätskollegium seiner Zeit zu seinem Antrage
betreffend Rückng der Bewilligung veranlassten. Auch eine Verletzung
der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetze liege nicht vor.
D. Der Rekurrent hat mit der nämlichen tatsächlichen Begründung auch
beim Bundesrat gegen den regierungsrätlichen Entscheid vom 8. April
1902 Beschwerde erhoben wegen Verletzung des Grundsatzes der Handelsund
Gewerbefreiheit. Über die Kompetenzfrage fand nach Anleitung von Art. 194
des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege ein
Meinungsaustausch zwischen den beiden angegangenen Behörden statt;
die Übereinstimmung darüber ergab, dass das Bundesgericht nur zuständig
sei zur Beurteilung der Beschwerde wegen Verweigerung des rechtlichen
Gehörs, dass dagegen die beiden andern Beschwerdepnnkte dem Bundesrat
zur Prüfung anheimfallen, und dass zweckmässiger Weise das Bundesgericht
zuerst seinen Entscheid zu fällen habe.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Der Rekurrent ruft in seiner Eingabe an das Bundesgericht den
am. 48 der berntschen Kantonsversassung nicht mehr an, wie er es
in der Beschwerde an den Regierungsrat zur Begründung des Vorwurfs
einer Rechtsverletzung getan hatte. In der Tat war der Vorschrift
jenes Verfassungsartikels, wenn sie liberhanpt auf die Verfügung der
bernischen Sanitätsdirektion Anwendung findet, durch die freilich nur
summarische Begründung derselben Genüge geleistet. Wie aus der Vorschrift
gefolgert werden will, dass der Rekurrent vor dem Erlass der Verfügung
hätte angehört werden sollen, ist unersindlich. Dagegen kann es sich
fragen, ob er nicht nach Bundesrecht, nämlich gemäss dem in Art. 4 der
Bundesverfassung niedergelegten Grundsatz der Gewährung rechtlichen
Gehörs, Anspruch darauf hatte, vor Erlass]. Rechtsverweigerung und
Gleichheit vor dem Gesetze. N° 57. 233
der Verfügung einvernommen zu werden. Allein die bundesgerichtliche Praxis
hat den verfassungs-rechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör stets nur
denjenigen zugestanden, die gerichtlich mit einer Civiloder Strafklage
belangt wurden, und auf das Administrativ-Verfahren wurde derselbe nicht
ausgedehnt Es wäre dies auch schwer durchführbar angesichts des wohl
in den meisten Kantonen in Verwaltungssachen geltenden Grundsatzes-,
dass die Behörden von sich aus tätig werden Und von Amtes wegen in der
ihnen gutscheinenden Weise die nötigen Erhebungen machen. Im vorliegenden
Falle nun handelt es sich lediglich um eine den allgemeinen Interessen
dienende, auf die Vorschrift eines Verwaltungsgesetzes sich stützende
Massregel einer Verwaltungsbehörde, die sich weder als Strafe darstellt,
noch private Rechtsgüter antastet. Dabei hing nach der entscheidenden
Gesetzesbestimmung, deren Verfassungsmässigkeit nicht in Frage gestellt
ist, der Entscheid nicht etwa von Tatsachen ab, für deren Feststellung
oder rechtliche Wärdigung die Einvernahme des-Rekurrenten von Wert gewesen
wäre, sondern lediglich von Erfahrungstatsachen, die Sachverständige
von sich aus feststellen konnten. Gewiss war denn auch das bernische
Sanitätskollegiurn ohne weiteres in der Lage und befugt, über die Frage
des Rückzugs der erteilten Publikationsbewilligung bei der kompetenten
Behörde Antrag zu stellen, welche ihrerseits durch nichts gehalten war,
vor ihrem Entscheid den Rekurrenten anzuhören. Übrigens ist diesem
das Recht des Rekurses an den Regierungsrat eingeräumt worden, und
es hat sich letzterer einlässlich mit allen vom Rekurrenten erhobenen
Einwendungen befasst Auch hat der Rekurrent tatsächlich das erreicht, was
er mittelst der Beschwerde wegen Rechtsverletzung bezw. Rechtsverweigerung
zu erreichen versuchte-, indem in der ihm mitgeteilten Vernehmlasfung
der Regierungsrat eine Anzahl von einzelnen Fällen genannt hat, die dem
Sanitätskollegium vorlagen, als es den fraglichen Beschluss fasste. Um
so weniger kann die Beschwerde wegen Verweigerung des rechtlichen Gehörs
geschützt werden.
· 2. Auf die Beschwerde wegen ungleicher Behandlung ist nicht einzutreten
Mit derselben wird geltend gemacht, dass der Rekurrent in der Anwendung
der Regeln über die Ausübung von Handel
234 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. 1. Abschnitt. Bundesverfassung.
und Gewerbe durch den bernischen Regierungsrat eine ausnahmsweise
Behandlung erfahren habe. Da nun die Normen des kauteWien Rechts hierüber
und ihre Anwendung materiell der Kontrolle der politischen Bundesbehörden
insofern unterstehen, als diese über Beschwerden darüber zu entscheiden
haben, dass dadurch der Grundsatz der Handelsund Gewerbefreiheit verletzt
sei, erscheint es zweckmässig und in der Natur der Sache begründet,
dass Beschwerden über ungleiche Behandlung auf diesem Gebiete durch
die nämlichen Behörden entschieden werden. Denn regelmässig wird eine
ungleiche Behandlung gleichzeitig eine Verletzung des Grundsatzes der
Handels-: und Gewerbesreiheit in sich schliessen, und auch da, wo dies
nicht der Fall sein sollte, sind die Behörden, die hierüber zu befinden
haben, am besten in der Lage, darüber zu entscheiden, ob das kantonale
Handelsund Gewerberecht nicht gleichmässig angewendet worden sei. Der
Bundesrat und das Bundesgericht haben sich denn auch schon mehrfach
dahin ausgesprochen, dass das kantonale Handelsund Gewerberecht und
seine Anwendung nicht nur hinsichtlich der Übereinstimmung mit dem
Mindest-erfassungsmässigen Satz der Freiheit von Handel und Gewerbe,
sondern auch hinsichtlich des Anspruchs auf gleiche Behandlung der
Bürger dem Schutze der politischen Bundesbehörden unterstehen (vergl.
z. B. Amtl. Samle Bd. XXV, 1. Teil, S. 451).
Demgemäss ist denn das Bundesgericht zur Beurteilung dieses
Beschwerdegrundes nicht kompetent
Aus diesen Gründen hat das Bundesgericht erkannt:
Der Refin-? wegen Verweigerung desrechtlichen Gehör-Z wird abgewiesen;
auf den Rekurs wegen Verletzung der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz
wird nicht eingetreten.
Vergl. auch Nr. 58, erre-t dans la cause Association des médecins
du canton de Genève c. Genève.-ll. Ausübung der wissenschaftlichen
Berufsarten N° 58. 235
II. Ausübung der wissenschaftlichen Berufsarten.
Exercice des professions liberales.
58. Arrest du 22 juillet 1902, dans la cause Association des médecins
du canton de Geneva contre Genève.
Admission d'un médecin étrangei' (hollandais) pour i'exereice de l'art de
guérir dans le canton de Genève. Recours de l'Association des médecins
contre cette decision. Legitimation de la dite société. Art. ier de
la loi genevoise du 29 mai 1895 sur l'exereice de l'art de guérir:
réciprocilé. Procede arhiiraire dela part de l'autorité cantonale.
Per requète du 26 octobre 1901, le Dr Willem Francken, d'origine
hollandaise, a sollicite' du Conseil d'Etat du canton de Genève
l'autorisation de pouvoir exereer la médecine dans ce canton. Iiproduisait
entre autres, à l'appui de sa demande, les diplòmes de docteur en médecine
de l'Université d'Amsterdam (1880), de médecin hollandais après examen
d'Etat (1880), de doeteur de la Faculté de me'-decine de Paris, ainsi
que d'autres titres et attestations etablissant sa qualité de membre de
diverses sociétés scientifiques médicales.
Par arréte du 14 février 1902, le Conseil d'Etat, vu l'art. 1, lettre
:; de la loi du 29 mai 1895 modifiant la ioi du 23 mars 1892 sur l'art
de guérir, et sur la proposition du Département de Justice et Police,
a accorde eu requerant l'autorisation d'exercer la médecine dans le
canton de Genève.
Par lettre du 16 mars 1902, I'Associetion des médecins du canton de
Genève protesta contre cet errété, et prie le Conseil d'Etat de bien
vouloir étudier à nouveau la question, se réservent, le cas echéant,
de faire de sa revendication l'objet d'un recours de droit public en
temps utile, attendu que, selon la reclamante, l'interprétation donnée
à la loi dans cette occasion créerait un précédent dangereux pour le
corps médical genevois.
A l'appui de sa requéte, I'Association recourante faisait valoir en
substanee ce qui suit: