138 A.. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

VI. Gerichtsstand des Wohnortes.

For du domicile.

34. Urteil vom 12. Juni 1902 in Sachen Truttmann gegen Armenpflege
Seelisberg.

Foreses-mag einer Armenpflege auf
sogen. Verissva-ndifflsieuor. Ois/79112!lich-rechtliche oder
privatrechtäiehe Forderung ? Art. 61 B.-V . --

Art. 80 Abs. 2 Sch.u. ff.-Ges. Ein [fa,-135011 kann auch s-sserwaétimgs-

entscheide anderer Kantone mit Bezug auf die Völlsireckbarkee'ä' seinen
eigenen gleiclzstellen. Art. 9 Abs.2 B.-G. betr. civitrechssti. Ver/z.

{Ser N. M. A.

A. Der heutige Rekurrent Johann Trnttmann war von seinerHeimatgemeinde
Seelisberg (Kanton Uri) mit Genehmigung desRegierungsrates von Uri zur
Leistung einer sogenannten Verivaudtschaftssteuer von 15 Fr. zu Gunsten
seines in der St. Josefsanstalt in Bremgarten untergebrachten notarmen
Bruders Josef Truttmann verpflichtet worden. Da er nicht bezahlte,
leitete die Rekursbeklagte als hiefür zuständige Behörde gegen ihn
an feinem Domizil in Arth Betreibung ein und erlangte gegenüber
seinemRechtsvorschlag durch Entscheid des Gerichtspräfidiums Schwyz
vom 20. Juli 1901 definitive Rechtsösfnung. In der Folge unterliess sie
jedoch, innert nützlicher Frist Fortsetzung der Betreibung zu verlangen;
ihr verfpätetes Begehren wurde vom Betreibungsamie zurückgewiesen. Hierauf
erwirkte sie einen neuen Zahlungsbefehl für 21 Fr. 50 Cts. (Steuerbetrag
plus erwachsene Betreibungskoften). Der Betriebene erhob wiederum
Rechtsvorschlagz

das Gerichtspräsidium Schwyz aber gewährte der Rekursbeklagten

durch Entscheid vom 2. April 1902 für die Steuerforderung von 15
Fr. neuerdings definitive Rechtsöffnung, indem es zur Be-

gründung derselben, wie schon im früheren Erkenntnis auf Art. 80-

w. 2 des B.-G. betr. Sch. u. K. hinwies, ohne sich Über den vom
Rekurrenten erhobenen Einwand, dass jene Bestimmung vorliegend nicht
zutreffe, weil ein Entscheid einer ausserkantonalen. Verwaltungsbehörde
in Frage stehe, näher auszusprechenVI. Gerichtsstand des Wohnorles. N°
31. 139

B. Gegen diesen Entscheid des Gerichtspräsidiuins Schwyz erklärte Johann
Trnttmann rechtzeitig den staatsrechtlichen Rekurs an das Bundesgericht,
indem er dessen Aufhebung beantragt und zur Begründung wesentlich
folgendes ausführt: Die Verurteilung des Rekurrenten zur Bezahlung
der streitigen Steuer verstossegegen am. 59 litt. 1 der B.-V. und
sei daher nicht vollstreckbar, denn es handle sich dabei um eine rein
persönliche Forderung, eine condictio ex lege, über die zu entscheiden
nur der Richter seines Wohnortes Aeth, nicht aber die Urner Behörden
kompetent seien. Jedenfalls aber beruhe der Rechtsöffnungsentscheid
auf vorgeschobenen Gründen, auf willkürlicher und daher Art. 4 B.-B.
verletzender Auslegung von Art. 80 Al. 2 des B-G. betr. Sch. u. K. Dieser
bestimme, dass Einscheidungen von Verwaltungsorganen innerhalb des
Kantonsgebiets, in welchem sie gefällt worden seien, vollstreckbaren
Gerichtsurteilen gleichstehen. Daher dürfe dem vorliegenden urnerischen
Verwaltungsentscheid im Kanton Schwyz diese Bedeutung nicht beigelegt
werden, eventuell müsste dies doch durch die kantonale Gesetzgebung
zugelassen sein; das schwyzerische Einführungsgesetz zum Bundesgesetz
betreffend Schuldbetreibung und Konkurs aber enthalte hierüber keine
Vorschriften. Da Art. 61 der B.-V. nur die Vollziehung ausserkantonaler
Civilurieile vorschreibe, zu denen das in Frage stehende Erkenntnis
unzweifelhaft nicht gehöre, so sei auch diese Verfassungsbestimmung
verletzt.

G. Der Rekursbeklagte und das Gerichtspräfidium Schwyz beantragen
Abweisung des Rekurses.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Der angefochtene Entscheid beruht in erster Linie auf der Annahme,
die sireitige Forderung beziehe sich auf eine öffentlichrechtliche
Verpflichtung des Rekurrenten, über welche zu entscheiden die zuständigen
Behörden seines Heimatkantones kompetent gewesen seien. Dem gegenüber
bestreitet der Rekurrent die öffentlich-rechtliche Natur des Anspruches,
indem er geltend macht, es handle sich um eine persönliche Ansprache im
Sinne von am. 59 der B.-V., für die er nur an seinem Wohnsitz im Kanton
Schwyz belangt werden könne. Sollte diese Auffassung richtig sein,
so wäre der Rekurs wegen Verletzung des angerufenen Verfassungs-

140 A. siaaiseechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

arjikels gutzuheissen, denn das dem angefochtenen Entscheid zu Grunde
liegende Erkenntnis könnte in diesem Fall als von inkompetenter Behörde
erlassen Und gegen jenen Artikel verstossend nicht zu Recht bestehen
und daher auch nicht gemäss der erteilten Rechtsösfnung vollstreckt
werden. Ob dies nun aber zutreffe, d. hob die im Streite liegende
Verwandtensteuer publizistischen oder privatrechtlichen Charakter habe,
ist nach dem sie normierendeu kantonalen Rechte zu entscheiden Die
Regelung der Familienunterstützungspflicht, welche dabei in Frage
steht, ist grundsätzlich der kantonalen Gesetzgebung überlassen,
da die Bundesversassung eine Beschränkung der kantonalen Kompetenz
aus diesem Gebiete nicht ausspricht. Allerdings wird der persönliche
Geltungsbereich der kantonalen Gesetze, wenigstens indirekt, umschrieben
durch die Bestimmung von Art. 9 Al. 2 des Bandes-gesetzes betreffend die
civilrechtlichen Verhältnisse der Niedergelasseuen und Aufenthalter,
wonach die Unterstützungspflicht zwischen Verwandten nach dein
heimatlichen Recht des Unterstütznugspslichtigen beurteilt werden muss;
denn damit ist einem Kanton verboten, auf seinem Termtorinm befindliche
Angehörige anderer Kantone seinem Rechte zu unterstellen, während
umgekehrt jeder Kanton seine Bürger ohne Rücksicht auf ihren Aufenthalt
innerhalb der Schweiz nach eigenem Recht zur Verwandtenunterstützung
heranziehen darf. Allein in materieller Hinsicht steht es den Kantouen
kraft ihrer Sonveräniiät frei, diese Unterstützungspflicht beliebig
zu regeln, insbesondere sie als rein privatrechtlicher Natur in
der Civilgesetzgebnng, oder wie es tatsächlich häufiger geschehen
ist (dgl. Huber, System des schweizerischen Privatrechts, Bd. I,
S. 185 ff.) als dem öffentlichen Rechte unterstehend in speziellen
Armengesetzen zu behandeln und je nachdem die ordentlichen Gerichte,
oder aber die Verwaltungsbehörden mit der Entscheidung der daherigen
Streitigkeiten zu betrauen. Nun steht der Kanton Uri unzweifelhaft auf
dem Boden dieser zweiten Rechtsauffassung. Sein Armengesetz von 2. Mai
1897 erklärt die Unterstützung der Verwandten im angegebenen Umfang für
die Kantonsangehörigen ohne Rücksicht darauf, ob sie in oder ausser dem
Kantone wohnen, wie besonders aus Art. 9 und 10 des Gesetzes hervorgeht,
als öffentlich-rechtliche Pflicht, als Stenerleistung, deren Verhängung
undVI. Gerichtsstand des Wohnortes. N° 34. 141

Bemessung in die Kompetenz der Adminiftrativbehörden (Gemeinde: rat,
Regierungsrat) gelegt wird. Den formellen und materiellen Bestimmungen
dieses Gesetzes entspricht die vorliegend streitige Verpflichtung Handelt
es sich aber demnach um eine auf dem öffentlichen nicht dem civilen
Recht beruhende Forderung, so kann von einer Verletzung des Art. 59 der
B.-V., welcher ausdrücklich nur für diese letzteren den persönlichen
Gerichts-stand des Wohnsitzes garantiert, keine Rede sein.

2. Aus dem gleichen Grunde erscheint auch die Berufung des Rekurrenten
auf Art. 61 der B.-V. ohne weiteres als unzutressend, da dieser nur auf
die Durchsetzung civiler Ansprüche Bezug hat, abgesehen davon, dass er
jedenfalls lediglich wegen Verweigerung der Rechtshiilse, nicht aber,
wie es vorliegend geschieht, wegen angeblich unzulässiger Gewährung
derselben angerufen werden könnte.

3. Was endlich die Argumentation des Rekurrenten betrifft, der
angesochtene Rechtsöffnnngsentscheid basiere auf vorgeschobenen Gründen,
auf willkürlicher Auslegung des Bundesgesetzes betreffend Schuldbetreibung
und Konknrs und involviere deshalb eine Rechtsverweigernng im Sinne
von Art. 4 der V. V., so ist vorab festzustellen, dass der Rekurs
auch in dieser Hinsicht als rechtzeitig eingereicht zu betrachten
ist; denn er qualifiziert sich nicht als Beschwerde nach Art. 19 des
B.-G. betr. Sch. u. K., sondern als siaatsrechtlicher Rekurs.

Materiell erweist sich jedoch auch dieser Rekursgrund als unstichhalttg
Der Rekurrent beschwert sich, wie schon oben bemerkt, darüber, dass
die retursbeklagte Gerichtsstelle durch Erteilung der Rechtsösfnung in
ungesetzlicher Weise Rechtshiilfe gewährt habe-. Nun bestimmt Art. 80
Al. 2 des B.-.G betr. Sch. n. K., auf welchen sich der angefochtene
Entscheid beruft, in seinem hier wesentlichen Passus, dass Rechtsössnung
verlangt werden kann innerhalb des Kantonsgebiets gestützt aus die
über öffentlichrechtliche Verpflichtungen ergangenen Beschlüsse und
Entscheide derVerwaltungsorgane, welche der Kanton vollstreckbaren
gerichtlichen Urteilen gleichstellt. Diese Gleichstellung hat sowohl das
Einführungsgesetz des Kantons Uri vom 3. Mai 1891 in Art. 86 liti,. b
den rechtskräftigen Entscheidungen der Verwaltungsbehörden

142 A... Staatsrechtliche Entscheidungen. l. Abschnitt. Bundesverfassung.

speziell in Steuerfragen (wozu auch die streitige verwandtschaftliche
Armenunterstützung gehört), als auch dasjenige des Kantons Schwyz
vom 4. Oktober 1891 in Art. 65 litt. b den Erkenntnissen jener
Behörden über Unterstützungsverpflichtungen verliehen. Wenn daher der
Gerichtspräftdent von Schwyz den in Frage stehenden Entscheid über
die urnerische Verwandtschaftssteuer gleich einem rechtskräftigen
Civilurteil behandelt hat, so hat er ihm diejenige Wirkung beigelegt,
welche ihm seinem Inhalte nach unzweifelhaft im verfiigenden, wie im
oollziehenden Kanton zukommt. Allein der Rekurrent macht geltend,
nach dem Wortlaut von Art. 80 Al. 2 des eitierten Bandes-gesetzes
seien die Kantone nur berechtigt, den Entscheidungen ihrer eigenen,
nicht aber denjenigen ansserkantonaler Verwaltungsbehörden die Wirkung
rechtskräftiger Civilnrteile zuzuerkennen. Dieser Rechtsaufsassung kann
jedoch nicht beigetreten werden, vielmehr ist die damit ausgeworfene, in
der Litteratur kontroverse Frage (ng. Jäger, Kommentar zum Bundesgesetz
betreffend Schuldbetreibung und Konkurs, Art. 80 Anm. 13 und die
dortigen Citate) dahin zu lösen, dass ein Kanton freiwillig auch
Verwaltungsentscheide anderer Kant-me gleich den eigenen auf seinem
Gebiete oollstreckbar erklären kann, denn die Worte innerhalb des
Kantonsgebiets in Art. 80 Al. 2 leg. cit. lassen sich nur dahin auflegen,
dass das Recht der Kantone, Verwaltungsmtscheiden die Vollziehbarkeit
rechtskräftiger Civilurteile zu verleihen, auf ihr eigenes Gebiet,
nicht aber auf ihre eigenen Entscheide beschränkt fei. Kein Kanton kann
danach, wie dies bei Civilurteilen gemäss Art. 61 B.-V. der Fall iii,
gezwungen werden, die Verwaltungserkenntnisse eines andern Kantons,
welche dieser selbst den Cidilurteilen gleichgestellt hat, zu vollziehen
oder dabei Rechtshiilfe zu leisten; damit ist aber nicht ausgesprochen,
dass er zur freiwilligen Rechtshülfe nicht berechtigt sei. Vielmehr
ist dieses Recht der Kantone, da es weder durch die Bundesverfafsung,
noch durch bundesgesetzliche Bestimmungen irgendwie beschränkt wird,
als selbstverständlicher Ausfluss der in Ari. 3 der B.-V. garantierten
Kantonssouveränität ohne weiteres anzuerkennen Übrigens setzt Art. 9
Ill. 2 desB.-G. betr. die civilrechtL Verhältnisse der Niedergelassenen
und Aufenthalter die gegenseitige freiwillige Rechtshiilfe unter den
Kantonen für dieVI. Gerichtsstand des Wohnortes. N° 34. 143

Realisiernng von Ansprüchen vorliegender Art geradezu voraus, denn ohne
sie würde das dort statuierte Recht der Heimatgemeinden, ihre ausser
dem Kanton wohnenden Angehörigen zur gesetzlichen Unterstützung notarmer
Verwandten heranzuziehen in vielen Fällen illusorisch bleiben.

4. Steht somit die Kompetenzeines Kantons, die Verwaltungsentscheidungen
anderer Kantone nach Massgabe seiner eigenen, resp. der rechts-kräftigen
Cioilurteile auf seinem Gebiete zu vollziehen, ausser Zweifel, so vermag
auch der fernere Einwand des Rekurrenten, dass die Gewährung so weit
gehender Rechtshülfe jedenfalls von der schwyzerischen Gesetzgebung
nicht anerkannt sei und aus diesem Grunde vorliegend als Willkürakt
des Richters-.erscheine, nicht durchzudringen. Allerdings bezieht
sich das schwyzerische Einführungsgesetz zum Bundesgesetz betreffend
Schuldbetreibung und Konkurs in dem bereits citierten Artikel offenbar
nur auf Entscheidungen der kantonalen Verwaltungsbehörden, allein
eine Ausdehnung dieser Bestimmung durch die Praxis auf ausserkantonale
Erkenntnisse steht unzweifelhaft mit dem Sinn des Gesetzes nicht derart
im Widerspruch, dass darin eine die Grenzen erlaubter Interpretation
überschreitende Willkür und damit eine Verletzung der verfassungsmässig
garantierten Gleichheit vor dem Gesetz erblickt werden könnte, welche
zur Aufhebung des angefochtenen Entscheides führen müsste.

Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Der Rekurs wird abgewiesen
Information de décision   •   DEFRITEN
Document : 28 I 138
Date : 12 juin 1902
Publié : 31 décembre 1903
Source : Tribunal fédéral
Statut : 28 I 138
Domaine : ATF- Droit constitutionnel
Objet : 138 A.. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung. VI. Gerichtsstand


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