32 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung

2. Gerichtsstand des begangenen Vergehens. Per du délit.

"(. Urteil vom 20. März 1901 in Sachen Benn gegen Studer und Genossen.

Ehrverletzung durch die Presse. Gerichtsstand der Widerklage gegenüber
der Ehr verletzungsklage. Gerichtssmmî des Vergeh-ens. Verletzung der
Pressf-reiheét, durch Zulassung des Gewinste-staunen der Widerklage ?

A. Am 31. Dezember 1899, vormittags-, scheint zwischen-dem Rekurrenten,
Eduard Brun, Konduiteur der S. C. B., wohnhaft in Olten, einerseits, und
den Rekursbeklagten, anderseits, im Bahnhofgebäude Luzern ein Wortwechsel
stattgefunden zu haben. Der Rekurrent veröffentlichte eine Darstellung
über diesen Vorfall in der am 12. Januar 1900 erschienenen Nummer der
Schweizerischen Eisenbahnzeitung, die in Burgdorf erscheint. Er

erhob ferner vor dem Friedensrichter des luzernischen Kreises

Emmen (dem Wohnortskreise der Retursbeklagten) gegen Studer einerseits
und gegen die beiden Sager anderseits Jnjurienklage, mit der er ein
Begehren auf Entschädigung im Betrage von 3000 Fr. gegenüber Studer
einerseits-, den beiden Sager anderseits verband. Die Rekursbeklagten
beantragte-it vor Bezirksgericht Rothenburg Abweisung der Klage
und erhoben ihrerseits widerklageweise Ehrverletzungsklage mit den
Anträgen auf Bestrafung des Rekurrenten und Verurteilung zu einer
Entschädigung von 3000 Fr. an die Rekursbeklagten. Dieser Widerklage
gegenüber verweigerte der Rekurrent die Einlassung Er wurde jedoch
erstinstanzlich durch Urteil des Bezirksgerichts von Rothenburg vom
14. Juli 1900 zur Entlassung verpflichtet, und dieses Urteil ist, in
Abweisung eines Rekurses des Rekurrenten, vom Qbergericht des Kantons
Luzern am 15. Dezember 1900 bestätigt worden. Das Bezirksgericht hatte
seine Kompetenz zur Beurteilung der Widerklage wie folgt begründet:
Die durch den Pressartikel des Rekurrenten begangene Jnjurie sei von
den Rekursbeklagten erst in (Emmen empfunden worden, erst hier sei daher
das Delikt voll-N. I. Gerichtsstand des begangenen Vergehens. N° 7. 38

endet, und somit seien die luzernischen Gerichte kompetent. Das
Obergericht führt dagegen in seinem Erkenntnis aus: Der Gerichts-stand
der Widerklage sei nach feststehender luzernischer Gerichtspraris auch
in Ehrverletzungssachen zulässig, sofern wenigstens der Gegenstand der
Widerklage mit demjenigen der Vorklage im Zusammenhange stehe; das treffe
aber hier zu. Die vom

Rekurrenten aufgeworfene Frage der Anwendbarkeit des mate-

riellen Rechts sei in diesem Verfahren noch nicht zu entscheiden.

B. In seinem vorliegenden, rechtzeitig eingereichten staatsrechtlichen
Rekurse stellt nun der Rekurrent den Antrag, der Entscheid des
Obergerichts des Kantous Luzern vom 15. Dezember 1900 sei aufzuheben und
der Reknrreni sei von der Einlassung auf die sogenannten Widerklagen
der Rekursbeklagten zu entbinden. Der Rekurs macht geltend, durch
den angefochtenen Entscheid werden die Art. 4, 55 und 58 B.-V., sowie
Art. 5 und 6 der luz. K.-V. verletzt, und führt zur Begründung aus:
Jnjurienklagen seien auch im Kanton Luzern, obschon sie in den Formen
des Civilprozesses verfolgt werden, als Strafklagen anzusehen Es
gelte daher auch für sie der Grundsatz-, dass sie nur am Wohnort des
Angeklagten oder am Begehungsorte des Deliktes verfolgt werden können;
die Aufstellung eines andern Gerichtsstandes sei bundesrechtlich nicht
zu- lässig. Speziell schliesse auch die Gewährleistung der Pressfreiheit
die Verfolgung von Pressinjurien an andern Orten als am Begehungsorte
oder eventuell am Wohnorte des Beklagten aus. Das Luzerner Pressgesetz
von 1848 kenne auch ausdrücklich eine Verfolgung von Pressinjurien,
die ausserhalb des Kantons Luzern begangen worden, nicht. Die Verfolgung
eines im Kauton Bern begangeuen Pressdeliktes durch luzernische Gerichte
bedeute daher eine Verletzung der Pressfreiheit. Ferner werde dadurch
eine Rechtsverweigerung begangen. Ein Gerichtsstand der Widerklage könne
nicht konstruiert werden, da ein solcher im Strafrecht überall mangle. Das
Vorgehen der luzernischen Gerichte bedeute für den Rekurrenten endlich
auch den Entng des verfassungsmässigen Richters, da er statt durch das
Schwurgericht des Kantons Bern durch ein luzernisches Bezirksgericht
mit schriftlichem Verfahren beurteilt werde.

C. Die Rekursbeklagten tragen auf Abweisung des Rekurses

XXVII, {. 1901 3

34 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

an. Der Rekursbeklagte Studer führt speziell aus: Es handle sich um eine
Strafsache und über den Gerichts-stand in Strafsachen enthalte weder die
Bundesversassung noch das Bundesrecht überhaupt eine Bestimmung; Art. 58
B.-V. komme hier nicht in Frage, ebensowenig wie am. 5 der luz. K.-V.,
da der Rekurrent nicht vor ein Ausnahmegericht gestellt werde. Nach
luzernischer Gesetzgebung, die danach anwendbar sei, gelten nun für
die Durch-

sährung von Ehrverletzungsklagen die Formen des Civilprozesses,

und somit sei auch die Widerklage zulässig. Eine Verletzung der
Bundesverfassung finde dadurch in keiner Weise statt, speziell auch
nicht eine Verletzung der Pressfreiheit, da die Bestimmungen des

luzernischen Civilrechtsverfahrens auf alle Ehrverletzungen, ohne

Unterschied, ob sie durch die Presse begangen seien oder nicht, An-

wendung finden müssen und auch thatsächlich angewendet werden

und da ihre Nichtanwendbarkeit aus Pressinjurien ein unzulässiges

privilegium favorabile für die Presse statuieren würde. Dies

Rekursantwort der Rekursbeklagten Sager führt im wesentlichen

die luzernischen Prozessvorschriften, welche vorliegend massgebend-

gewesen seien, an, siellt sich ferner auf den Standpunkt, die Hauptsache
sei in easu die Entschädigungsforderung, nicht die

Strafklage gewesen, so dass eine Widerklage auch auf Grund des

Art. 59 B.-V. zulässig gewesen sei, und macht geltend, die durch die
Widerklage verfolgte Jnjurie sei erst in Emmett vollendet worden.

D. Das Obergericht des Kantons Luzern hat aus Gegenbemerkungen verzichtet-

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Entgegen der Ansicht der Rekursbeklagten Sager ist zunächst
festzustellen, dass bei der Jnjurienklage, sofern mit ihr gleichzeitig
einerseits Schuldigerklärung und Bestrafung des Angeklagten, anderseits
Entschädigng und Genugthuung verlangt wird, stets das ftrafrechtliche
Moment als das prinzipale, dercivilrechtliche Anspruch nur als der
accessorische zu betrachten ist, und dass an diesem Wesen der genannten
Klage der Umstandnichts ändert, dass sie nach einigen kantonalen
Gesetzgebungen, und so auch im Kanton Luzern, in den Formen des
Civilprozefses und vor den Civilgerichten verfolgt wird (ng Ath Sig-
ZV. 2. Gerichtsstand des begangenen Vergehens. N° 7. 35

der bundesger. Entsch. Bd. XIV, S. 29; Bd. XIX, S. 104; Bd. XXIII, S
538). Danach kann vorab weder von einer Anrufung des Art. 59 B.-V., der
den Gerichtsstand des Wohnortes für civilrechtliche persönliche Ansprachen
gewährleistet, die Rede sein, noch zur Begründung des vorliegeud vom
Rekurrenten als verfassungswidrig angefochtenen Gerichtsstandes der
Widerklage angeführt werden (wie dies die Rekursantwort Sager thut), dass
der genannte am. 59 B.-V. den Gerichtsstand der Widerklage gestatte. Es
kann sich vielmehr nur um den Gerichtsstand des Vergehens handeln. Jn
dieser Beziehung kann nun aber dem Rekurrenten nicht beigestimmt werden,
wenn er glaubt, für die Verfolgung von Vergehen seien bundesrechtlich
nur der Gerichtsstand des Wohnortes des Angeklagte-u oder derjenige
des begangenen Vergehens (forum delicti commissi) zulässig, und die
Schaffung eines Gerichtsstandes der Widerklage enthalte aus diesem
Grunde einen Verstoss gegen die Bundesverfassung. Dass Art. 59 B.-V. zur
Begründung dieses Satzes nicht angerufen werden kann, ist eben ausgeführt
worden. Aber auch aus Art. 58 B.-B. folgt jene Auffassung nicht; diese
Verfassungsbestimmung gewährleistet bloss, dass niemand in Civiloder
Strafsachen der Beurteilung durch die nach der Gerichtsverfassung zur
Ausübung der Cioffi oder Strafgerichtsbarkeit berufenen ordentlichen
Gerichte entzogen und vor ein Ausnahmegericht (im Sinne eines nicht
verfassungsmässig eingesetzten, ordentlichen Gerichtes) gestellt werden
darf (Amii. Slg. Bd. XIV, S. 168, Erw. 3), sowie, dass nicht ein nach den
bestehenden Vorschriften schlechterdings nicht zuständiges Gericht sich
als zuständig erklärt (Antil. Slg. Bd. XXIII, S. 537, Erw. 3), stellt
dagegen ihrerseits selbst keine Gerichtsstandsvorschriften auf. Die
Bundesverfassung enthält überhaupt (abgesehen von den Bestimmungen
über die strafrechtlichen Kompetenzen des Bundesgerichts) keine
Bestimmungen über den Gerichtsstand in Strafsachenz die Aufstellung
solcher Bestimmungen ist, soweit nicht die gesetzgeberischen Befugnisse
des Bundes in strafrechtlichen Materien in Betracht kommen (wofür die
Bundesgesetzgebung massgebend isf), Sache der kantonalen Verfassungsund
Gesetzgebung Das Bundesrecht hat hier nur unter zwei Voraussetzungen
einzugreifen: zur Lösung interkantonaler

36 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. [. Abschnitt. Bundesverfassung.

Jurisdiktionskonflikte, sowie zum Ausschlusse der Aufstellung
und Anwendung derartiger kantonaler Gerichtsstandsnormen, welche
bundesverfassungsmässig gewährleistete individuelle Rechte beeinträchtigen
würden (Umts. Slg., Bd. XIV, S. 168 f., Erw. 1). Nur aus das Vorhandensein
dieser Voraussetzungen hin kann daher auch das Bundesgericht die
Aufstellung und Anwendung kantonaler Gerichtsstandsnormen in Strafsachen
über-prüfen

2. Danach könnte von einer Verletzung des Art. 58 B.V. (die der Rekurrent
in erster Linie behauptet) nur dann die Rede sein, wenn der Gerichtsstand
der Widerklage von den luzernischen Gerichten in völlig willkürlicher
Weise angewendet worden wäre, wenn also durch dessen Anwendung eine
Verletzung des Grundsatzes der Gleichheit vor dem Gesetz und damit
gleichzeitig ein Verstoss gegen Art. 4 B.-V. begangen worden ware. Das ist
nun aber nicht der Fall. Die luzernischen Gerichte haben sich zuständig
erklärt gestützt auf eine verfassungsmässig abgesehen von der nachher zu
erörternden Frage der Verletzung besonderer individueller Rechte völlig
zulässige Bestimmung der luzernischen Gesetzgebung und diese Bestimmung
durchaus nicht willkürlich ausgelegt und angewendet; die Praxis der
luzernischen Gerichte betreffend Anwendbarkeit des Gerichtsstandes
der Widerklage aus Jnjurienklagen lässt sich sehr wohl, wie die
luzernischen Gerichte das in concreto thun, folgern aus der Thatsache,
dass Jnjurienklagen im Kanton Luzern in den Formen des Grilprozesses
zu verfolgen find; es liegt also nicht etwa ein Fall vor, wo sich unter
dem blossen Schein der Anwendung gesetzlicher Gerichtsstandsregeln eine
willkürliche behördliche Verfügung betreffend den Gerichts-stand verbirgt
und somit das verfassungsmässige Prinzip umgangen wäre (ng. Amtl. Shy,
Bd. XVI, S. 488, Erw. 4).

3. Ernstlich kann sich daher nur noch fragen, ob die Anwendung
des Gerichtsstandes der Widerklage bei Jnjurienklagen gegen ein
verfassungsmässig gewährleistetes individuelles Recht des Rekurrenten
verstosse, und zwar kann als solches Jndividualrecht vorliegend nur die
Pressfreiheit in Betracht kommen. Als Verletzung der Pressfreiheit ist
von den Bundesbehörden eine Bestimmung des Inhalts bezeichnet worden,
dass Presserzeugnjsse nach der Wahl des Klägers oder Anklägers am Orte
der Her-IV. 2. Gerichtsstand des begangenen Vergehens. N° 7. 3?

ausgabe der Schrift oder am Orte der Verbreitung derselben verfolgt
werden können (s. Ullmer, Staatsrechtliche Praxis, I, Nr... 182). An
diesem Grundsatze ist gewiss festzuhalten (ng. Amtl Slg. Bd XIV,
S. 169), da durch die Bestimmung, dass Presserzeugnisse überall am
Orte der Verbreitung verfolgt werden können, für ihre Verfolgung
also der sogenannte fliegende Gerichts-stand eingeführt wird, ein
privilegium odiosum für die Presse geschaffen, die Presse ausserhalb
der gemeingültigen strafrechtlichen Grundsätze über Vollendung der
Delikte und der strafprozessualen Bestimmungen über den Gerichts-stand
gestellt würde. Ebenso würde, aus demselben Grunde, eine Verletzung
der Pressfreiheit in der Aufstellung eines Gerichtssiandes liegen, der
nicht aus dem Wesen des Pressdeliktes folgt, sondern lediglich zu dessen
leichterer Verfolgbarkeit geschaffen würde (s. Beispiele bei Blumer-Morel,
Handbuch I, 3. Aufl., S. 498 ff.). Dagegen verlangt der Grundsatz der
Presssreiheit nicht, dass für die Verfolgung der Pressdelikte nur der
Gerichtsstand des Ortes der Herausgabe ausschliesslich zulässig sein
soll; die Bundesbehörden haben vielmehr stets auch den Gerichtsstand
des Wohnortes des Angeklagten anerkannt (vgl. Ullmer, I, Nr. 184). Aus
dem Wesen der Presssreiheit folgt denn auch nur, dass nicht privilegia
odiosefür die Presse geschaffen werden, nicht aber, dass privilegia
favorabjlja ausgestellt werden müssen; die Presse ist daher, sofern nicht
ausdrücklich Ausnahmen gesetzlich geschaffen sind, in allen Beziehungen,
und so auch bezüglich des Gerichts-standes, dem ge-. meinen Rechte
unterstellt Alsdann aber kann in der Anwendung des Gerichtsstandes
der Widerklage auf Pressinjurien, sofern nur dieser Gerichisstand
gesetzlich auf Jnjurien überhaupt anwendbar ist, eine Verletzung
der Pressfreiheit nicht liegen. Die Befürchtung des Rekurrenten,
dass durch die Aufstellung dieses Gerichtsstandes und seine Anwendung
auf Jnjurien interkantouale Jurisdiktionskonflikte entstehen könnten,
ist unbegründet, da die Widerkläger ihr Klagerecht durch Anstellung
der Widerklage konsumieren. Demnach hat das Bundesgericht erkannt:
Der Nekurs wird abgewiesen
Information de décision   •   DEFRITEN
Document : 27 I 32
Date : 20 mars 1901
Publié : 31 décembre 1902
Source : Tribunal fédéral
Statut : 27 I 32
Domaine : ATF- Droit constitutionnel
Objet : 32 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung 2. Gerichtsstand


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