465 A. Siaatsrechtliche Entscheidungen. II. Abschnitt. Bundesgesetze.
Il suit de tout ce qui précède que les recourants, n'ayant pas fait
usage, dans le délai de 10 jours dès la communication de l'arrét attaqué
(art. 164 ibidem), du moyen de cassation que l'art. 160 précité mettait
à leur disposition, les jugements dont est recours sont passés en force,
et ne sauraient étre portés devant le Tribunal fédéral par la voie d'un
recours de droit public pour déni de justice. Le Tribunal de céans n'a
point, dès lors, à. se nantir d'un semblable recours.
Par ces motifs, Le Tribunal fédéral prononce:
Il n'est pas entré en matière sur le recours de Charles Pavillard et
consorts.Uebergriff in das Gebiet der gesetzgebenden Gewalt. N° 87. 467
Dritter Abschnitt. Troisième section.
Kantonsverfassungen .
Constitutions cantonales.Übergriff in das Gebiet der gesetzgebenden
Gewalt. Empiétement dans
le domaine du pouvoir législatif.
87. Urteil vom 17.18. Oktober 1900 in Sachen Hungerbühler & Eie. gegen
Appenzelk Ausserrhoden.
Vollziehungsverordnung zu einem Gesetz (und zur Verfassung), oder in
die Form einer Verordmmg gekteiaîetes Gesetz ?
A. Art. 7 der Verfassung für den Kanton Appenzell Ausserrhoden vom
15. Oktober 1876, der die Sicherheit und Unverletzbarkeit des Eigentums
gewährleistet, bestimmt des weitern: Zwangsabtretungen sind nur zulässig,
wenn das öffentliche Wohl sie erfordert, und es ist in diesen Fällen volle
Entschädigung zu leisten. Das Nähere bestimmt das Gesetz. In Ausführung
dieser letztern Bestimmung ist ein Gesetz über die Liegenschaften im
Kanten Appenzell Ausserrhoden erlassen und von der Landsgemeinde am
28. April 1889 angenommen worden. Dieses Gesetz enthält im IX. Titel unter
der Überschrift: Von den gesetz- lichen Beschränkungen des Grundeigenlums
CZwangsabtretunH Art. 7 der Kantonalverfassung) folgende Bestimmungen
über die Zwangsabtretung: Nachdem § 49 das Expropriationsrecht des
Kantons und der Gemeinden normiert hat, ermächtigt § 50 den Kantonsrat,
auch Korporationen, Gesellschaften oder Privatm,
468 A. Staatsrechtliche
Entscheidungen. III. Abschnitt. Kantonsverfassnngen.
welche ein im öffentlichen Interesse liegendes Werk ausführen
wollen, das Recht einzuräumen, die Abtretung des dafür erforderlichen
Grundeigentnms oder die Verzichtleistung auf die bisherige Benutzungsart
von Gebäulichkeiten oder Grundstücken zu verlangen (im Sinne von Art. 7
der Kantonalverfassung). § 51 bestimmt sodann: Der abtretungspflichtige
Eigentümer hat in allen Fällen Anspruch auf volle Entschädigung
-Wenn über den Betrag der zu bezahlenden Entschädigung eine gütliche
Verständigung nicht erzielt werden kann, so entscheidet hierüber der
Richter. Schliesslich stellt noch § 52 fest, dass auch ein Eigentümer,
von dem zwar keine Abtretung verlangt wird, dessen Liegenschaft
aber infolge von Anfdammungen, Abgrabungen oder andern Schädiguugen
nicht mehr in bisheriger Weise benutzt werden farm, Anspruch auf volle
Entschädigung hat. Damit sind die Bestimmungen des Liegenschaftengesetzes
über die Zwangsabtretung erschöpft; insbesondere enthält das Gesetz keine
Bestimmungen über das Expropriationsverfahren; der Hinweis auf den Richter
in § 51 schliesst also den Hinweis auf den gewöhnlichen Civilprozess
in sich. Nach letzterem hat der Kläger seine Forderung in Form eines
Rechtsbotes geltend zu machen; auf erfolgten Rechtsvorschlag folgt die
Verhandlung vor dem Vermittler, und wenn diese fruchtlos abgelaufrn ist,
die Anhängigmachung binnen einer Frist von 10 Tagen beim zuständigen
Gerichtspräsidenten durch Einlegung des Leitscheines. Nach § 51 ist die
Anhängigmachung stets für beide Parteien verbindlich und kann daher die
Zurückziehnng derselben nur im Einverständnis beider Parteien erfolgen-
B. Unterm 20. Juli 1897 erteilte der Regierungsrat des Kantons Avpenzell
Ausserrhoden dem Elektricitätswerk Kubel die Wasserrechtskonzesfion
für Ausbeutung und Verwertung der Wasserkräfte der Urnäsch und der
Sitter von Zweibrücken an bis zur Einmündung in die Urnäsch, zum
Zwecke der Ausführung eines Elektricitätswerkes im Kubel bei Herisauz am
23.X27.Februar 1899 erteilte der Regierungsrat von Appenzell Ausserrhoden
und die Standeskommission von Appenzell Jnnerrhoden weitere Konzesfion
für Fassung der Sitter circa 100 Meter oberhalb der Listmühle und für
Zuführung derselben mittelst Stollen in den Hauptstollen für das Wasser
der Urnäsch und mit diesemUebergrifl' in das Gebiet der gesetzgebenden
Gewalt. N° 87. 469
vereinigt in den Sammelweiher im Gübsenmoos. In beiden Konzefsionen war
bestimmt, dass die Gesuchsteller den Nachweis zu leisten haben, dass sie
sich mit den anstossenden Uferbesttzern auf dem Civilweg abgefunden haben,
sowie, dass allfällig notwendig werdende Expropriationsbewilligungen Art.
50 des Liegenschaftengefetzes beim Kantonsrat nachzusuchen seien. Die
Expropriationsbewilligungen wurden dem Elektricitätswerk Kubel erteilt:
am 21. November 1898 für das erste und am 16. Mai 1899 für das erweiterte
Projekt. Unter den Privaten, mit denen sich die Konzessionärin,
Aktiengesellschaft Elektricitätswerk Kubel, abzufinden hatte, befand
sich auch die heutige Rekurrentin, die Firma Hungerbühler & Cie., die in
Zweibrücken ein grosses Mühle-Etablissement besitzt, dessen Wasserkraft
von der Sitter geliefert wird. Unterhandlungen über freihändigen
Kauf führten nicht zum Erfolg, da die Rekurrentin als Kaufpreis
750,000 Fr. forderte, und die Konzessionärin sah sich genötigt, an den
Ermopriationsweg zu denken. Hiebei gaben ihr aber die oben in Fakt. A
angeführten Bestimmungen über Erpropriation zu Bedenken Anlass, und sie
wandte sich deshalb mit Eingabe vom 19. Januar 1900 an den Regierungsrat
des Kantons Apvenzell Ausserrhoden, indem sie ausführte: Die meisten
Erpropriationsgesetze, so auch das st. gallische, geben dem Exproprianten
das Recht, im Laufe des Expropriationsverfahrens von der Erpropriation
zurückzutreten. Da Appenzell Ausserrhoden kein Expropriationsgesetz
befügt, und somit eine Erpropriation auf dem gewöhnlichen Prozesswege,
ohne vorhergehende Schatzung, mittelst Rechtsbot eingeleitet werden muss,
so könnte die Frage zweifelhaft werden, ob der Expropriant im Laufe dieses
Prozesse-Z noch zurücktreten 'fann, und bitten wir um Ihren bezüglichen
Entscheid. Diese Frage ist nämlich von grösster Wichtigkeit für die
Ausbeutung der Sitter und die Erpropriation Hungerbühler &: Cie., weil
wir mangels jeder Gesetzgebung nicht einmal wissen, was wir eigentlich
dort expropriieren müssen, und wenn noch unerwarteterweise eine Expertise
oder eine Instanz auch nur annähernd den geforderten Preis von 750,000
Fr. zusprechen würde, so liegt auf der Hand, dass wir alsdann auf die
Ausführung des Sitterprojektes verzichten mästen Wenn wir aber nicht
einmal ein Rücktrittsrecht hätten, so können wir auch das Risiko eines Ex-
470 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. HL Abschnitt. Kantonsverfassungen.
propriationsprozesses nicht auf uns nehmen, und müsste dann das
Projekt von vornherein zum Schaden der Allgemeinheit unterbleiben.
Der Regierungsrat wies die Frage betreffend Rücktrittsrecht vom
Expropriationsprozess unverzüglich an eine Kommission, und arbeitete
dann, gestützt auf deren Bericht, Bestimmungen betreffend das Verfahren
in Expropriationssachen aus-, in welchen speziell die Zurückziehung
von Erpropriationsbegehren geregelt war. Der Koinmissionalbericht,
den der Regierungsrat hiebei vollständig aufnahm, hatte jene Frage
dahin entschieden: Sie sei mit Nein zu beantworten, wenn darunter der
Prozes3 betreffend Feststellung der Entschädigungssumme im engem Sinne
verstanden fei, im Hinblick aus § 51 C.-P.-O.; dagegen mit Za, wenn das
ganze Erpropriationsverfahren ins Auge gefasst werde. Es sei nämlich nicht
zu übersehen, dass der appenzellische Richter im Erpropriationsprozess
nur denjenigen Teil der Erpropriation zu ordnen habe, welchen anderorts
die Schatzungskommissionen besorgen, d. h. einzig und allein über den
Betrag der zu bezahlenden Entschädigung abzusprechen, keineswegs aber
über die Pflicht zur Zahlung oder das Perfektwerden der Erpropriation zu
entscheiden habe; dass dem Erproprianten von der Behörde nur ein Recht
eingeräumt, nicht eine Pflicht überbunden worden sei, und dass demselben
naturgemäss nach endgültiger Feststellung der Entschädigungssumme noch
zustehen müsse, in Erwägung zu ziehen, ob er das Werk bei der einmal
fixierten Leistung zur Ausführung bringen könne oder nicht. Dies war
dann des nähern ausgeführt. Auf Grund dieses Kommissionalberichtes
und der Anträgesdes Regierungsrats hat nun der Kantonsrat am 21. Juni
1900 folgende vom Regierungsrat vorgelegte Bestimmungen betreffend das
Verfahren bei Zwangsabtretung (C7:propriation) genehmigt: § L
Wenn Zwangsabtretungen begehrt werden, sei es vvom Kanton oder von
Gemeinden (Art. 7 der Kantonsverfassung), oder wenn der Kantonsrat
dieses Recht auf Grund von Art. 50 des Liegenschaftsgesetzes und nach
Vorlage eines generellen Planes erteilt hat, so sind die Detailpläne in
allen Fällen dem Regierungsrate zur weitern Behandlung und Genehmigung
vorzulegen.
Der Regierungsrat macht den Eigentümern Mitteilung, be-Uebergriff in
das Gebiet der gesetzgebenden Gewalt. N° 87. 471
stimmt eine Einspruchsfrist von 30 Tagen und bringt nach Ablauf dieser
Frist die erhobenen Einsprachen dem Erproprianten zur Kenntnis-. Über
die Abtretungspflicht entscheidet nach Anhörung der Parteien der
Regierungsrat, über die zu zahlende Entschädigung und über weitere
rechtliche Anstände der Richter.
% 2°
Liegen, ausser der Festsetzung des Entschädigungsbetrages, keine
Streitfragen vor, so kann nach erfolgter Plangenehmigung der Regierungsrat
die Ausführung gegen genügende Sicherheitsleistung (Kaution) nach Anhörung
der Parteien bewilligen, sofern die Dringlichkeit des zu erstellenden
Werkes dies rechtfertigt und wenn dadurch die gerichtliche Entscheidung
in keiner Weise erschwert wird.
% 3'
Wenn die Abtretungspflicht anerkannt oder durch den Regierungsrat
festgestellt ist und die Beteiligten sich über die zu leistende
Entschädigung nicht einigen können, so ist, sofern ein Beteiligter das
Begehren stellt, vom Regierungsrat eine Schätzungskommission zu wählen,
welche über die Forderungen zu entscheiden und den Entscheid {den
Beteiligten schriftlich zur Kenntnis zu bringen hat.
st§ 4
Die Schätzungskommission ist aus drei wahlsähigen Kantons: einwohnern
zu bestellen. Gleichzeitig sind drei Erfatzmänner zu bezeichnen. Die
Kommission hat das Recht, nötigenfalls Experten beizuziehen. % 5.
Über den Entscheid der Schätzungskommission kann binnen 14 Tagen, vom
Tage der erhaltenen Mitteilung an gerechnet, gemäss den Vorschriften
der Civilprozessordnung von jedem Beteiligten der Richter angerufen
werden; ebenso kann der Expropriant iunert der gleichen Frist vom
Erpropriationsbegehren zurücktreten.
Erfolgt innert dieser Frist weder Einleitung des gerichtlichen Verfahrens
noch Rücktritt vom Enteignungsbegehren, so gilt der Entscheid der
Schätzungskommission als anerkannt.
Die Kosten des Schätzungsverfahrens sind vom Exprotpriam ten zu
tragen. Bei Weiterng an das Gericht entscheidet darüber der Richter. è 6.
Im Falle des Rücktrittes hat der Expropriant für alle dem
472 A. Staaisrechtliche
Entscheidungen. III. Abschnitt. Kantonsverfassungen.
Expropriaten durch das Erpropriationsverfahren verursachten Schädigungen
und Umtriebe aufzukommen Die Feststellung dieser Entschädigung ist wenn
darüber eine gütliche Einigung nicht erzielt werden kann, Sache des
zuständigen Richters% 7.
Diese Bestimmungen treten mit dem 1. Juli 1900 in Kraft."
C. Mit Eingabe vom 4. Juli 1900 hat nun die Firma Hungerbühler &
(Sie. den staatsrechtlichen Rekurs gegen die oben mitgeteilten
Bestimmungen vom 21. Juni 1900 ergriffen, mit dem Antrage, diese
Verordnung sei als verfassungswidrig aufzuheben. Der Rekurs giebt
zunächst die Entstehungsgeschichte des angefochtenen Erlasses wieder
und führt sodann in rechtlicher Beziehung aus: Das in Art. 7 der
Kantonsverfassung vorgesehene Gesetz betreffend Zwangsabtretung sei das
Liegenschaftettgesetz. Da dieses, was das Verfahren anbelange, auf den
Richter verweise, sei das Verfahren nach dem ordentlichen Civilprozess
geordnet, und damit auch die Frage des Rücktrittsrechts des Erproprianten
gemäss § 51 C.-P.-O. in verneinendem Sinne entschieden· Auch wären nach
der Civilprozessordnung die sachverständigen Schätzer vom Gericht zu
ernennen und deren Gutachten vom Gericht nach freiem Ermessen zu würdigen
gewesen (§§ 93 97 C.-P.-O.). Mit all dem habe nun der angefochtene Erlass
aufgeräumt und an Stelle des gewöhnlichen Civilprozesses ein besonderes
Zwangsenteignungsverfahren gesetzt, wie des nähern ausgeführt wird.
Diese Bestimmungen seien in Wirklichkeit nichts anderes als ein Gesetz;
denn sie schaffen Recht, sie führen nicht nur schon bestehendes Recht aus,
seien auch nicht eine generelle VerwaltungsmassregeL Es könne nicht etwa
eingewendet werden, die Bestitnmungen lassen das eigentliche richterliche
Verfahren intakt, sie setzen ihm nur ein Vorverfahren vor; wenn für eine
gewisse Kategorie von Klagen die im Civilprozessgesetz vorgesehene direkte
Einleitung des Rechtsstreites mittelst Rechtsbotes und Rechtsverschlages
ersetzt werde durch ein an bestimmte Fristen gebundenes Vorverfahren, so
werden eben dadurch die generellen Vorschriften der Civilprozessordnung
für diese bestimmte Kategorie von Klagen abgeändert. Ganz ähnlich verhalte
es sich mit den andern Bestimmungenii betreffend Fristansetzung für den
Einspruch gegen die Abtretungspflicht und betreffend vorzeitige Einweisung
in dasUebergnfl' in das Gebiet der gesetzgebenden Gewalt. N° 87. 473
Erpropriationsobjekt; das seien tief einschneidende Rechtsnormen,
die nicht auf dem Verordnungswege geschaffen werden können. Da nun
gemäss Art. 27 K.-V. allein die Landsgemeinde zum Erlass von Gesetzen
befugt sei, während nach Art.28 Ziff. 3 dem Kantonsrat nur die Erlassung
von Verordnungen zum Vollzug von Bestimmungen der Verfassung oder der
Gesetzgebung zustehe, enthalten die angefochtenen Bestimmungen, da sie
eben in Wirklichkeit ein Gesetz seien, eine Kompetenzüberschreitung
des Kantonsrates, einen Übergriff desselben in die Befugnisse der
Landsgemeinde, und damit eine Verletzung der Art. 7, 27 und 28 der
Kantonsverfasfung _
D. Der Regierungsrat und der Kantonsrat von Appenzell Ansserrhoden legen
in ihrer Antwortschrift ebenfalls zunächst die Entstehungsgeschichte
der fraglichen Bestimmungen dar. In rechtlicher Hinsicht machen sie
geltend: Das Liegenschaftengesetz enthalte nur eine ganz geringe
Anzahl Bestimmungen über die Expropriationz eine ganze Anzahl
wichtiger Fragen seien darin nicht geregelt. Da nun diese Fragen durch
das Elektrieitätswerk Kubel aktuell geworden seien, haben sich die
appenzellischen Behörden, bezw. der Kantonsrat, notgedrungen entschliessen
müssen, in Ausübung der der genannten Behörde in Art. 28, Abs. 5, Biff. 3,
K.-V. ausdrücklich zustehenden Verpflichtnngen und Befugnisse eine
Verordnung zum Vollng von Bestimmungen der Verfassung oder Gesetzgebung zu
erlassen. Das sei der erste praktische Expropriationsfall gewesen der an
die Behörden herangetreten sei. Ein Eingriff in die Civilprozessordnung
finde nicht statt, da das richterliche Verfahren vollständig intakt
gelassen und lediglich ein Vorverfahren eingeführt werde, das der Natur
der Sache entspreche; erst wenn der Entscheid der Schätzungskommission
nicht anerkannt werde, liege ein Prozess vor, und dann gelten die
Vorschriften der Civilprozessordnung nach wie vor. Wenn vom Erlass eines
Rechtsbotes oder eines Zahlungsbefehls abgesehen und der Entscheid der
Schätzungskommission zum Ausgangspunkt des Prozesses gemacht worden sei,
so sei dies in Anlehnung an § 38, Abs. 2 C.-P.-O. geschehen. Auf den
Titel der Bestimmungen" komme es nicht an; sie seien unzweifelhaft eine
Verordnung zum Vollng der Verfassung und der Gesetzgebung Eventuell,
wenn den Bestimmungen gesetzlicher Charakter bei-
474 A. Staatsrechtliche
Entscheidungen. Ill. Abschnitt. Kantonsverfassungen.
gemessen werden wollte, könne von einer Verfassungsverletzung dennoch
nicht die Rede sein, weil die Landsgemeinde von 1877 den Kantonsrat
ermächtigt habe, auch in Bezug auf diejenigen Fragen, über welche die
in der neuen Verfassung vorgesehenen Gesetzesbestimmungen noch nicht
aufgestellt find, einstweilen, bis zum Erlass der bezüglichen Gesetze,
von sich aus aus dem Verordnungswege das nötigfte anzuordnen. Durch
diese Delegation von Befugnissen der Landsgemeinde wäre der Kantonsrat
gerechtfertigt; Notwendigkeit habe vorgelegen und die Anordnungen haben
sich auch auf das nötigste beschränkt. Aus diesen Gründen trägt die
Antwort aus Abweisung des Rekurses an.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Nach dem in Fakt. A im Wortlaute mitgeteilten Art. 7 der
Kantonsverfassung für Appenzell Ausserrhoden hat das Gesetz das
nähere über die Zwangsabtretung zu bestimmen, und in Ausführung
dieser Vorschrift hat das Liegenschaftengesetz vom 28. April 1889
einige Bestimmungen über die Zwangsabtretung aufgestellt, wobei es
betreffend das Verfahren auf die Civilprozessordnung hingewiesen
hat. Nun war nach Art. 27, Abs. 4 der genannten Kantonsverfassung
einzig die Landsgemeinde befugt, auf verfassungsmässigem Wege dieses
Gesetz abzuändern oder in einzelnen Teilen aufzuheben, oder ein neues
Gesetz zu erlassen. Wenn sich daher die angesochtenen Bestimrnungen als
Gesetz im Sinne des appenzellischen Staatsrechts darstellen, so ist klar,
dass Regierungsrat und Kantonsrat zu ihrem Erlasse nicht befugt waren,
sofern nicht etwa eine spezielle verfassungsmässige Kom-petenzübertragung
(Delegation) seitens der Landsgemeinde an den Kantonsrat vorliegt,
sondern dass sie der Landsgemeinde hätten unter-breitet werden müssen,
und dass sie daher, weil sie nicht auf verfassungsmässigem Wege erlassen
sind, sondern einen Übergriff des Kantonsrates in die Befugnisse der
Landsgemeinde enthalten, als verfassungswidrig aufzuheben sind. Sollten
sie dagegen, wie die Antwort auf den Rekurs geltend macht, als Verordnung
zum Vollng der Verfassung oder der Gesetzgebung zu bezeichnen sein, so
wäre allerdings der Kantonsrat zu ihrem Erlasse gemäss Art. 28, Abs. 5,
Ziff. 3 K.-B. befugt gewesen, und wäre der Rekurs abzuweisen. Ebenso
müsste der Rekurs abgewiesen werden, wenn es sich um eine in Ausübung des
Notrechts des Staates erlasseneUebergriff in das Gebietder gesetzgebenden
Gewalt. N° 87. 475
sog. Notverordnung handeln würde, oder wenn der schon erwähnte Fall der
Delegation vorläge.
2. Die Verfassung des Kantons Appenzell Ausserrhoden enthält eine
Bestimmung Darüber, was als Gesetz und was als .Verordnung anzusehen sei,
nicht; doch ergibt sich immerhin aus dem angeführten Art. 28, Abs. 5,
Biff. 3 K.-V., aus den sich die Rekursantwort stützt, dass es sich bei
der Verordnung um den Vollng von Bestimmungen der Verfassung oder der
Gesetzgebung handeln mug, dass also die Verordnung die Verfassung oder
das Gesetz als das höhere voraussetzt. Und zwar kann der Rekursbeklagte
nicht etwa an Hand dieser Bestimmungen geltend machen, es sei dadurch
auch gestattet, die Verfassung selber durch Verordnung weiterzubilden und
zu vollziehen; denn die Regelung der Zwangsabtretung hat gemäss Art. 7
der Kantonsverfassnng durch ein Gesetz zu erfolgen, und dieses Gesetz
ist unbestrittenermassen im Jahre 1889 erlassen worden Es kann sich
also nur fragen, ob sich die angefochtenen Bestimmungen als zulässige
Verordnung zum Vollzuge dieses Gesetzes des Liegenschaftengesetzes -
darftellen. Das wäre dann der Fall, wenn die Bestimmungen" die nähere
detaillierte Ausführung der im Liegenschastengesetz niedergelegten
Grundsätze enthalten würden; wenn sie dagegen diese Grundsätze abändern
oder aufheben, oder wenn sie selbständige, den dortigen gleichwertige
Rechtssätze aufstellen, so kann von einer Vollzugsverordnung offenbar
nicht mehr die Rede sein. Nun verweist das Liegenschaftengesetz bezüglich
des Verfahrens bei der Zwangsabtretung aus den Richter, d. h. aus den
ordentlichen Civilprozess In dieser Hinsicht enthält allerdings §
î der Bestim1nungen" wiederum die Vorschrift, über die zu zahlende
Entschädigung und über weitere rechtliche Anstände habe der Richter"
zu entscheiden. Allein in § 3 wird eine ganz neue Behörde eingeführt,
die weder das Liegenschastengesetz noch die Civilprozessordnung kennen,
nämlich eine Schätzungskommission, welche die Aufgabe hat, über die
Forderungen zu entscheiden-C Und in F 5 wird eine Frist von 14 Tagen
von der Mitteilung an gesetzt, binnen welcher gegen den Entscheid der
Schätzungskommission der Richter angerufen werden kann, und binnen
welcher ferner der Expropriant den Rücktritt von der Expropriation
XXVI, !. {900 32
476 A. Staatsrechtliche
Entscheidungen. ILI. Abschnitt. Kantonsverfassungen.
erklären kann; erfolgt keines von beiden, so gilt der Entscheid der
Schätzungskommission als anerkannt-A Mit dieser Bestimmung wird dreierlei
statuiert: erstens wird für die Beschreitung des ordentlichen Rechtsweges
eine peremtorische Frist eingesetzt; zweitens wird dem Erproprianten
das Recht des Rücktrittes binnen dieser Frist eingeräumt, und drittens
wird dem Entscheide der Schätzungskommission die Fähigkeit, einem
richterlichen Urteile gleich rechtskräftig zu werden, beigelegt. Alle
diese Vorschriften enthalten nun gegenüber dem Liegenschaftengesetz
und gegenüber der Civilprozessordnung etwas durchaus neues. Weder
das Liegenschaftengesetz, noch die Civilprozessordnung haben eine
Schätzungs- kouimission gekannt; die Einsetzung einer solchen mit
Entscheidungsbefugnis greift Über in die richterlichen Befugnisse, wie
sie bis dahin durch die Civilprozessordnung geregelt waren. Es kann nicht
etwa mit der Rekursautwort eingewendet werden, es handle sich hier um ein
Vorderfahren, das das gerichtliche Verfahren, wie es bis dahin bestanden,
oöllig intakt lasse; das ist nnrichtig, da die Schätzungskommission gleich
einer ersten Instanz Über die Forderungen zu entscheiden hat und ihre
Entscheide der Rechtskraft gleich einem Richterspruch fähig sind. Enthält
sonach schon diese Bestimmung eine Abänderung der Civilprozessordnung,
so schafft auch die Normierung des Rücktritts-rechts des Exproprianten
(die in § 6 der Bestimmungen noch näher geregelt ist) unzweifelhaft neues
Recht. Dieses Rücktrittsrecht, über welches in der juristischen Litteratur
bekanntlich grosser Streit herrscht, ist überall entweder ausdrücklich
im Gesetz geregelt, oder richterlich durch Jnterpretation des Gesetzes
festgestellt worden; dagegen geht es nicht an, gegenüber den Bestimmungen
des Liegenschaftengesetzes,s dasdavon gar nichts enthält, nun einfach auf
dem Wege der Vollzugsverordnung ein derartiges Recht neu einzuführenit
dies umsoweniger, als der Rücktritt im civilprozessualischen Verfahren
zweifellos unzulässig war. Die angefochtenen Besiimmungen enthalten also
mehr und anderes als blosse Sätze zum Vollng des Liegenschaftengesetzes;
sie schaffen neues Recht, das bisherige Gesetze abändert. Da das aber
nach dem in Erwägung 1 ausgeführten nur aus dem Wege der Gesetzgebung
zulässig war, sindsie als verfassungswidrig aufzuheben, sofern nicht
seine der dort vorgesehenen Ausnahmen zutrifft.Ueber-griff in das Gebiet
der gesetzgebenden Gewalt. N° 87. 477
Z. In dieser Beziehung kann sich der Rekursbeklagte zunächst nicht
aus das Notrecht des Staates und die daraus fliessende Befugnis der
Verwaltungsbehörden, Notverordnungen zu erlassen, berufen. Allerdings ist
ein solches Recht anzuerkennen (vgl. Jellinek, Gesetz und Verordnung,
S. 376 ff.); allein vorliegend lagen die Umstände nicht so, dass von
demselben hätte Gebrauch gemacht werden können. Das Notrecht tritt nur
in die Erscheinung, wenn es sich um die äussere Unabhängigkeit und die
innere Sicherheit des Staates, also um die Existenz des Staates selbst,
handelt, und die auf Grund desselben erlassenen Notverordnungen haben
sich auf das notwendigste zu beschränken und bedürfen überdies der
nachträglichen Genehmigung der gesetzgebenden Faktoren. Von all dem kann
hier offenbar nicht gesprochen werden; mit der Existenz des Staates hat
die Erlassung von Bestimmungen über Zwangsabtretung nichts zu thun.
4, Vergeblich beruft sich die Rekursantwort sodann auch eventuell auf
die dein Kantonsrat von der Landsgemeinde vom 29. April 1877 erteilte
allgemeine Delegation. Diese Delegation ging dahin: den Kantonsrat zu
ermächtigen, auch in Bezug auf diejenigen Fragen, über welche die in der
neuen Verfassung vorgesehenen Gesetzesbestimmungen noch nicht aufgestellt
waren, einstweilen, bis zum Erlasse der bezüglichen Gesetze, von sich
aus auf dem Verordnungswege das nötigste anzuordnen. Die Berufung der
Rekursantwort auf diese Delegation (Kompetenzübertragung) scheitert
schon daran, dass eben das Gesetz bezüglich Zwangsmittretung, das die
Verfassung, Art. 7, vorsieht, erlassen worden ist; nachdem das einmal
geschehen, musste jene Kompetenzübertragung für diese Materie dahinfallen,
und griffen die allgemeinen Grundsätze der Versässung wieder Platz.
Demnach hat das Bundesgericht erkannt:
Der Rekurs wird als begründet erklärt und demgemäss die Verordnung
des Kantonsrats des Kantons Appenzell Aasserrhoden vom 21. Juni 1900,
betreffend das Verfahren bei Zwangsabtretung, aufgehoben.