82. Urteil vom 7. November 1900 in Sachen Bohensky & Cie. gegen Lennig
& Jakfn.

Art. 59 B.-V. kann auch gegenüber ausländischen (speziell deutschen)
Urteilen, deren Vollstreckung gefordert wird, angerufen werden. - In der
Vereinbarung eines Erfüllungsortes im Auslande liegt noch nicht ein
Verzicht auf den verfassungsmässigen Gerichtsstand.

A. Durch Versäumnisurteil der 6. Kammer für Handelssachen des
kgl. Landgerichtes I in Berlin vom 8. April 1900 wurde die in Zürich
wohnhafte Rekurrentin M. Bohensky & (Sie. verurteilt, an die Klägerin
1018 M. nebst 40J0 Zinsen seit 1. Januar 1900 zu zahlen und die Kosten des
Rechtssireites zu tra: gen; letztere wurden am 4. Mai gleichen Jahres auf
82 M. 79 Ps. festgesetzt. Gestützt auf dieses rechtskräftig gewordene,
mit Vollsireckungsvermerk versehene Urteil hat der Audienzrichter
des Bezirksgerichts Zier-ich mit Verfügung vom 9. August 1900 der
Rekursbeklagten definitive Rechtsöffnung für den Betrag von 1376
Fr. 85 Cis.(oder 1101 M. 49 Pf.) nebst Zins zu 50/0 seit 3. April
1900 und Accessorien erteilt. In dieser Verfügung wird ausgeführt, die
Zuständigkeit des Berliner Richter-s ergehe sich aus dem Vermerke auf der
Faktur: ;Zahlungsund Erfüllungsort Berlin; Berlin sei somit vereinbarter
Gerichtsstand, so dass Art. 59 B.-V. von der Reknrrentin nicht angerufen
werden könne. Die Rekurskammer des Obergerichts des Kantons Zürich
hat zwar die von der Reknrrentin gegen diese Verfügung ergriffene
Nichtigkeitsbeschwerde abgewiesen, da keiner der. im Gesetze gegenüber
Den Rechtsöffnungsentscheiden vorgesehenen Nichtigkeiisgrunde vorliege;
sie führt aber zugleich aus, dass bei Anwendbarkeit der Biff. 7 und 9 Von
§ 704 zürch. Rechtspflegegesetz (offenbar often: widrige thatsächliche
Annahme-n und offenbar-er Widerspruch vmit einer klaren gesetzlichen
Bestimmung) der Entscheid anders hatte ausfallen müssen: Die Annahme des
Audienzrichters, die Reimrentin habe sich mit dem Gerichtsstande Berlin
einverstanden erklärt, sei rein willkiirlich; und der Gerichts-stand des
vertraglichen Erfüllungsortes sei ausgeschlossen durch Art. 59 B.-V. Die
Rekurskammer verweist daher die Rem-tremiti auf den Weg des

442 À. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfaksung.

staatsrechtlichen Rekurses an das Bundesgericht wegen Verletzung dieser
letztern Verfassungsbestimmung

B. Nunmehr hat die Rekurrentin mit Eingabe vom 22. September 1900 diesen
Weg des staatsrechtlichen Rekurses· an das Bundesgericht wegen Verletzung
des Art. 59 B.-V. ergriffen, mit dem Antrage: Die vom Audienzrichter
des Bezirksgerichtes Zürich verfùgte Rechtsöffnung sei aufzuheben und
die pendente Betreibung zu fisiieren. Sie bemerkt dabei speziell, der
einseitige Vermerk auf der Faktur, dass der Gerichtsitand in Berlin sei,
vermöge diesen Gerichts-stand nicht zu begründen.

C .....

D. Die Rekursbeklagte trägt auf Abweisung des Rekurses an. Sie macht unter
Berufung auf das bundesgerichtliche Urteil vom 3. Juni 1878 in Sachen
Kobelt geltend, Art. 59 B.-V. könne gegenüber den Urteilen ausländischer
Gerichte nicht zur Anwendung gebracht werden, und führt im fernern aus,
eine Anerkennung des Gerichtsstandes Berlin liege in der Annahme der
Bestellscheine, die den Vermerk tragen: Zahlungsund Erfüllungsort Berlin,
eventuell in der Unterlassung eines Protestes gegen den Ver-merk auf
der Faktur, dass in Berlin der Gerichtsstand sei.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1, Mit Unrecht beruft sich die Rekursbeklagte zur Begründung ihres
Antrages auf Abweisung des Rekurses auf das bundesgerichtliche Urteil
in Sachen Kobelt (A. S., IV, S. 227), wo ausgesprochen war, dass Art.59
B.-V. nur eine Schranke für die Gesetzgebung der Kantone bilde und nur
interkantonale Bedeutung habe, in internationalen Beziehungen dagegen
keine Anwendung finde. Diese frühere Praxis des Bundesgerichts ist
mit Urteil vom 9. Februar 1899 in Sachen Espanet c. Sève (A. S., XXV,
1. TL, S. 93, Erw. 2) verlassen worden, unter eingehender Begründung,
und es genügt hier, zur Widerlegung der Rekursbeklagten, aus jenes Urteil
zu verweisen.

2. Im weitern isi allerdings richtig, dass Berlin von den
Parteien als Erfüllungsort vereinbart wurde (ng. den Vermerk auf den
Bestellscheinen). Allein aus der Vereinbarung eines Erfüllungsortes folgt
keineswegs auch ohne weiteres die Vereinbarung eines Gerichtsstandes an
diesem Ort, wie das Bundesgericht ebenfalls schon mehrfach auszusprechen
Gelegenheit hatte (vgl.A. S.,IV. Gerichtsstand des Wohnortes. N° 82. 443

XXVI, 1. TL, S. 185). Art. 59 B.-V., der, wie in Erw. i bemerkt,
auch gegenüber ausländischen Urteilen dann, wenn es sich um deren
Vollstreckung in der Schweiz handelt, angerufen werden kann, steht dem
allgemeinen Gerichtsstande des ErsüllungsWes, wie er allerdings der
deutschen C.-P.-O. für Klagen aus vertraglichen Ansprüchen bekannt ist
(è 29 eod.) entgegen, und gerade aus diesem Grunde ist nicht zu dermuten,
dass die Vereinbarung eines Ersüllungsortes auch den Verzicht auf den
verfassungsmässigen Gerichtsstand des Wohnsitzes bedeute; dieser Verzicht
müsste vielmehr ausdrücklich ausgesprochen sein oder ans den begleitenden
Unständen mit Notwendigkeit erhellen. In concreto kann umsoweniger
auf Vereinbarung des Gerichtsstandes Berlin geschlossen werden, als
nach § 39 der deutschen C.-P.-O. stillschweigende Vereinbarung dann
anzunehmen ist, wenn der Beklagte, ohne die Unznständigkeit geltend zu
machen, zur Hauptsache mündlich verhandelt hat, und nun die Rekurrentin
festgestelltermassen gegen die Verhandlung der Sache in Berlin protestiert
und in schriftlicher Eingabe (die allerdings nach deutschem Civilprozess
nicht zu berücksichtigen war) die Unzuständigkeit der Berliner Gerichte
behauptet hat.

3. Wieso aus dem Vermerk auf der Faktur, wo allerdings Berlin als
Gerichtsstand bezeichnet ist, etwas gegen die Rekrurentin hergeleitet
werden könnte, ist unerfindlich Die Faktur bildet nicht einen Bestandteil
des Vertrages, sie ist der Rekurrentin erst nach Abschluss desselben
zugesandt worden. Die durchaus einseitige Vermerkung Gerichtsstand Berlin-
konnte die Rekurrentin in keiner Weise verpflichten, nicht einmal zu einem
Protest, so dass aus einer Unterlassung des letztern keineswegs auf eine
nachträgliche Anerkennung bezw. Vereinbarung des Gerichtsftandes Berlin
und damit auf einen Verzicht auf den natürlichen Richter geschlossen
werden dars.

Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Der Rekurs wird gutgeheissen und demgemäss der Rechtsöffnungsentscheid des
Audienzrichters des Bezirksgerichts Zürich Vom 9. August 1900 aufgehoben-

XXV], i. 51900 30
Information de décision   •   DEFRITEN
Document : 26 I 441
Date : 07 novembre 1900
Publié : 31 décembre 1901
Source : Tribunal fédéral
Statut : 26 I 441
Domaine : ATF- Droit constitutionnel
Objet : 82. Urteil vom 7. November 1900 in Sachen Bohensky & Cie. gegen Lennig & Jakfn. Art. 59 B.-V. kann...


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