178 A. Staatsrechtîiche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

31. Urteil vom 15. Juni 1899 in Sachen Hediger & Söhne gegen
Schläpfer-Neff-

Ari. 4 u. 64 IP.-V., Art. 2 der Uebergangsbestimmungen einst- Verhältnis
des (eldgensissisch geregeften) Betrefbungsverfahrens wm ssiyilprozess
im engen; Sims. Die Bestimmung eines kantonalen Gesetzes, dass nach
erfolgfem Rechtsvorschlage binnen Frist Klage zu erheben sei bei Verlust
des Klagerechts, verstösst' gegen eidgenössisches Recht.

A. Die Civilprozessordnung für den Kanton Appenzell-Jnner-: rhoden, vom
10. März 1892, bestimmt im zweiten Hauptstück Prozessversahren, I. Titel
Wake-Hung, unter Art. 26 Wonicht das beschleunigte oder summarische
Pest-fahren eintrittf gelten über Prozesseinleitung im Wettern folgende
Porschriftem a) Rechtsvorschläge gegen Zahlungsbesehle sind tnnert zehn-
"Tagen nach der Zustellung des Zahlungsbesehles mundlich oderschriftlich
bei Verlust des Einspruchsrechtes es sei denn, dass; nach Art. 77 des
Schuldbetreibungs und Konkursgesetzes Zu-: lassung des verspäteten
Rechtsvorschlages erkannt wird dem-

Schuldentriebamt zu erklären. Das Schuldentriebamt sorgt als-:-

dann dafür, dass der Rechtsvorschlag innert drei Tagen nachVerfluss obiger
Frist dem resp. Vermittleramt zugehalten und innert gleicher Frist der
Gegenpartei hievon portosrei Anzeige gernacht wird. Jnnert drei Tagen nach
erhaltener Anzeige hat der Betreibende portofreie Kenntnis vom allsalligen
Zurucktreten vom Prozesse an das Vermittleramt gelangen zu lassen;
andernsalls ist unter der Rechtssolge des nKlageverlustes dreübliche
Gebühr von 3 Fr. beim Vermittleramte 'zu erlegem b) Der Rechtsvorschlag
gegen Amtsbote und die Anhebung von Jnjurienklagen hat beim Vermittleramte
zu erfolgen und ist gleichzeitig mit demselben eine Taxe von 3 Fr. zu
bezahlen. Ge gen Amtsbote hat der Rechtsvorschlag Enna:} zehn Tagen zu
geschehen, ansonsten das Klagerecht dahinfallt. über. diese Rechts fo1ge
steht die Berufung an das Bezirksgertcht offen. c) Gegen Amtsbote, welche
sich aus ein gerichtliches Urteil oder gesetzlichI. Rechtsverweigex'ung'
N° 31. 179

zulässige Polizeibuszen stützen, ist kein Rechtsvorschlag zulässig-

B. Für eine Forderung von 295 Fr. 20 Cis. nebst Zinsen erliessen
Hediger & Söhne in Reinach am 9. Mai 1898 an Mina Schläpser-Neff
in Appenzell einen Zahlungsbesehl, gegen den jedoch Rechtsvorschlag
erhoben wurde. Unterm 9. September 1898 setzten Hediger & Söhne die
gleiche Forderung neuerdings in Beireibung; auch dieses Mal wurde
von der Betriebenen Recht vorgeschlagen. Dasselbe geschah gegenüber
einem dritten am 26. September 1898 für die Forderung erlassenen
Zahlungsbesehl. Die Gläubiger wurden jeweilen gemäss Art. 26 litt. a der
Civil: prozessordnung bei der Rückstellung des mit dem Rechtsvorschlag
versehenen Zahlungsbesehls daran aufmerksam gemacht, dass sie unter der
Rechtsfolge des Klageverlustes innert zehn Tagen beim Vermittleramt die
Klage einzuleiten und gleichzeitig die übliche Gebühr von 3 Fr. zu erlegen
haben. Die beiden ersten Male kamen Hediger & Söhne dieser Aufforderung
nicht nach; erst aus den dritten Rechtsvorschlag erfolgte die Deposition
der genannten Gebühr beim Vermittler von Appenzell, der dann aus den 25.
Oktober 1898 einen Vermittlungsvorstand anordnete. Da dieser erfolglos
blieb, wurde die Weisung an das Gericht ausgestellt. Vor erster und
zweiter Instanz erhob die Beklagte unter Berufung aus Art. 26 der
Civilprozessordnung die Einrede, dass die maga ihr Klagerecht verwirkt
haben. Die Eint-me wurde von beiden kantonalen Jnstanzen geschützt Und
die Forderung der Kläger aus dem Rechte gewiesen.

C. Gegen das am 20. April 1899 erlassene Urteil des Kantonsgerichts erhob
die Firma Hediger & Söhne rechtzeitig Rekurs beim Bundesgericht, mit dem
Antrag: Es sei die Vorschrift des Art. 26 litt-. a der Prozessordnung
des Kantons Appenzell J.-Rh. von 1892, welche an die Nichtdeponierung
der Vermittlungsgebühr innert 10 Tagen nach Erhalt des Rechtsvorschlages
auf den Zahlungsbefehl die Rechtswirkung des Klageverlustes knüpft,
als unverbindlich zu erklären, demnach das erwähnte Urteil des
Kantonsgerichtes vom 20. April 1899 aufzuheben und es seien die Gerichte
von Appenzell J.-Rh. gehalten, aus die materielle Beurteilung der ins
Recht gesetzten Forderung der Firma Hediger & Söhne einzutreten- Zur
Begründung wird im wesent-

180 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

lichen ausgeführt: Der Schlusssatz der Bestimmung in Art. 26
litt. a verletze den Grundsatz des Art. 4 B.-V., und es habe das
Kantonsgericht dadurch, dass es sein Urteil auf jene Norm stützte,
eine Rechtsverweigerung begangen. Aus Art. 79 des Bundesgesetzes
über Schuldbetreibung und Konkurs ergebe sich, dass das
Zwangsvollstreckungsverfahren und das ordentliche Prozessverfahren
zwei nebeneinandergehende Prozesse seien, die nicht verkuppelt
werden dürfen. Das ordentliche Prozessverfahren beginne nicht mit dem
Zahlungsbesehl oder mit dem Rechtsvorschlag; letzterer stelle einfach
das Betreibungsverfahren ein, habe aber noch keineswegs die Bedeutung
eines ersten Schrittes zur Anrufung des Gerichts im ordentlichen
Prozessverfahren und noch viel weniger könne dem Zahlungsbesehl diese
Bedeutung beigemessen werden. Auch sei es zulässig, dass eine Betreibung
fallen gelassen und dass eine neue für die gleiche Forderung wieder gültig
angehoben werden könne, ohne Rechtsfolgen für die zu Grunde liegende
Forderung Es dürfe also bundesrechtiich als feststehend angenommen werden,
dass der Gläubiger, der eine Betreibung anhebe, dadurch nicht gezwungen
werden wolle, auch wenn er Rechtsvorschlag erhalte, sofort gegen seinen
Schuldner auf dem ordentlichen Prozessweg vorzugehen. Gegenteils könne
nach dem Willen des Bundesgesetzgebers die Entschliessung des Gläubigers,
ob erKlage erheben molle, durch den Erlass des Zahlungsbefehls bezw. die
Erhebung des Rechtsvorschlages nicht beeinflusst werden. Das ganze
Betreibungsgesetz beruhe auf dem Grundsatze, dass die Anhebung der
Betreibung für den Bestand oder Nichtbestand der Forderung von keinem
Einfluss sein könne. Und der gleiche Gedanke liege anch dem Art. 154
des Obligationenrechts zu Grande, indem hier Klagsanhebung und Anhebung
der Betreibung auseinandergehalten seien. Wenn nun der Gesetzgeber des
Kantons Appenzell J.-R. die Anhebung der Betreibung als Klageanhebung
betrachte, so verletze er dadurch die Gleichheit vor dem Gesetze, da
im übrigen Geltungsgebiete des eidgenössischen Betreibungsgesetzes der
gegenteilige Grundsatz gelte. Der angefochtene Artikel verstosse zudem,
wenn er in dem gedachten Sinne aufgefasst werde, auch gegen die Art. 58
und 59 der B.-V., da er unterschiedle für alle Fälle, ausser für die im
summarischen und beschleunigtenI. Rechtsverweigemng. N° 31. 181

Verfahren zu erledigenden Prozesse, den Klageverlust androhe,
wenn nicht innert der angesetzten Frist die Vermittlung verlangt
werde. Schon an und für sich schaffe die Bestimmung eine Ungleichheit,
da sie für eine Kategorie von Prozessen und zwar für die, in denen die
Ansetzung einer Klagefrist sich noch am ehesten begreifen liesse, nicht
gelte. Abgesehen hievon führe die Bestimmung zu einer Reihe fataler
Konsequenzen So sei für das Begehren um Erteilung der Rechtsöffnung
im appenzellischen Recht eine Frist nicht gesetzt. Es könne sich
nun fragen, ob einem Rechtsöffnungsbegehren ebenfalls die Einrede aus
Art. 26 litt. a. entgegengehalten werden könne. Werde die Frage bejaht,
so gelange man zu einem Ergebnis-, das jedem Rechtsgefühl Hohn spreche.
Werde sie verneint, so entstehe eine Rechtsungleichheit insofern als
der Gläubiger, der die Rechtsössnung verlange, besser gestellt sei als
derjenige, der dies unterlasse Weitere Schwierigkeiten ergäben sich
daraus, dass die Betreibung auch auf Sicherheitsleisiung gerichtet
werden könne und dass Betreibungsort und Gerichtsstand nicht immer
sich decken. Auch wenn der Gesetzgeber von Appenzell J.-Rh. die
Meinung gehabt haben sollte, dass der Civilprozess durch den gegen den
Zahlungsbefehl erhobenen Rechtsvorschlag eingeleitet werde, so wäre
die angefochtene Bestimmung der Civil: prozessordnung unhaltbar, weil
über die Rechtswirkungen des Rechtsvorschlages nur das eidg Recht zu
bestimmen habe und ihm von diesem die fragliche Wirkung nicht beigelegt
sei. Sollte aber weder dem Zahlungsbefehl, noch dem Rechtsvorschlag
die Bedeutung der Prozesseinleitung beizumessen sein, so würde sich
die betreffende Bestimmung des Art. 26 als eine Vorschrift über das
Erlöschen eines Anspruches wegen zu später Geltendmachung desselben
qualifizieren. Soweit es sich um obligatorische Ansprüche handle, könne
aber den im Obligationenrecht aufgesührten Erlöschungsgründen durch
das kantonale Recht kein neuer hinzugefügt werden; es würde dies gegen
Art. 64 B.-V. verstossen. Von allen Gesichtspunkten aus also ergebe sich,
dass die fragliche Bestimmung vor dem eidg. Recht nicht standhalte und
mit Fuudamentalsätzen der Bundesversassnng im Widerspruch stehe.

D. Die Rekursgegnerin schliesst dahin: 1. Das Bundesgericht sei nicht
zuständig, auf den Rekurs einzutreten. 2. Eventuell sei

182 A, Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

dieser als unbegründet abzuweisen. Die Kompetenzeinrede wird damit
begründet, dass ein staatsrechtlicher Rekurs gegen ein letztinstanzliches
kantonales Urteil unmöglich sei, da gegen ein solches nur die Berufung,
eventuell die Kassationsbeschwerde zulässig ware; dass der Rekurs
gemäss Art. 178 Biff. 3 O.-G. verspätet sei, weil er sich gegen eine
Bestimmung der am klo. März 1892 erlassenen Civilprozessordnung des
Kantons Appenzell J.-Rh. richte, und dass er, wenn er sich gegen das
kantonsgerichtliche Urteil richten sollte, unzulässig ware, da ein
Weiterng des Entscheides über die Vor-frage nicht möglich, wo eine
Weiterziehung der Hauptsache ausgeschlossen sei; jedenfalls könnten nur
die Verfügungen der mit der Durchführung vom Betreibungsund Konkursgesetz
betrauten Personen angefochten werden; dann hätten aber zuerst die
kantonalen Aufsichtsbehörden in Betreibungsund Konkurssachen angegangen
werden müssen. In der Sache wird bestritten, dass eine Rechtsverweigerung
oder eine Verfassungsverletzung vorliege und insbesondere betont: Dem
Art. 79 des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs werde eine
Bedeutung beigelegt, die ihm nach der Ausscheidung der Kompetenzen von
Bund und Kantonen nicht zukommen könne. Der Bundesgesetzgeber habe die
Wirkungen des Rechtsvorschlages nur mit Bezug aus das Betretbungsverfahren
regeln können, dagegen Über die Art und Weise der Einleitung des durch den
Rechtsvorschlag provozierten Rechtsstreites keine Bestimmungen aufstellen
dürfen. Dies sei Sache des kantonalen Prozessrechts, das namentlich
auch die Klagsprovokation ordnen könne, wie es ihm beliebe. Es habe
auch anordnen dürfen, dass der Rechtsvorschlag eine Provokationsklage
ersetze. Die Nichtübereinstimmung der kantonalen Gesetzgebungen aus
diesem Gebiete rechtfertige den Vorwurf der Verletzung der Art. 4, 58
und 59 der B.-V. nicht. Aus dem Rechtsöffnungsversahren könne Art. 26
der appenzellischen Civilprozessordnung nicht angefochten werden, weil
dieser ordentliches kantonales Prozessrecht schaffe. Die Lösung der
in der Rekursschrist hervorgehobenen Schwierigkeiten hange eben von
der Auslegung des Art. 26 ab; diese seien zum Teil nur scheinbar. Es
handle sich im vorliegenden Falle nicht um ein Erlöschen der Forderung
nach Art.146 ff. O.-R., sondern um eine prozessualische Verwirkung. Die
fraglicheI. Rechtsverweigerung. N° 3'1. 183

Bestimmung sei nichts als eine Konsequenz des innerrhodischen
Prozesssystems, wonach auf jeden auf ein Amtsbot hin erfolgten
Rechtsvorschlag innert 10 Tagen Klage einzuleiten sei. Für das summarische
und das beschleunigte Verfahren habe die Bestimmung nicht als anwendbar
erklärt werden können, weil diese beiden Verfahren zum Teil durch
das eidg. Recht geregelt seien. Die Vorschrift habe auch ihre guten
innern Gründe, indem sie den Bevtriebenen den wiederholten Chikanen des
Beireibenden aus eine wirksame Weise zu entziehen suche.

E. Das Kantonsgericht von Appenzell J.-R. schliesst sich dem Antrag auf
Abweisung des Rekurses an. Es stellt sich ebenfalls auf den Standpunkt,
dass die fragliche Bestimmung des kantonalen Prozessrechts in das
Betreibnngsrecht in keiner Weise übergreife, indem es sich um eine
besondere Art der provocatio ad agendum handle, die aufzustellen und zu
regeln ausschliesslich Sache des kantonalen Gesetzgebers sei.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

i. Der Rekurs stützt sich darauf, dass das Kantonsgericht von Appenzell
J.-Rh. verfassungsmässige Rechte der Rekurrenten verietzt habe. Und
zwar steht nach dem Inhalt der Rekursschrist nicht, oder doch nicht
allein Art. 4 der Bundesverfassung, der die Gleichheit der Bürger
vor dem Gesetze garantiert, sondern vor allem aus der Grundsatz der
derogatorischen Kraft des eidgenösfischen gegenüber dem kantonalen Rechte
Art. 2 der Übergangsbestimmungen der Bundesversassung in Frage. Der
Schutz der verfassungsmässigen Rechte der Bürger aber ist auf dem Wege
des staatsrechtlichen Rekurses zu suchen. Dieser ist im vorliegenden Fall
auch nicht verspätet, mag er sich im Grunde immerhin gegen eine Bestimmung
der bereits im Jahre 1892 erlassenen Civilprozessordnung für den Kanton
Appenzell-Jnnerrhoden richten. Das Bundesgericht hat stets festgehalten,
dass die Versassungswidrigkeit einer Gesetzesvorschrift auch bei ihrer
jeweiligen Anwendung durch die kantonalen Behörden, mit Einschluss der
Gerichte, mittelst staats-rechtlicher Beschwerde gerügt werden kann.

2. Die Gesetzgebungshoheit ist auf dem Gebiete des Civilprozessrechts
im weitern Sinn zwischen dem Bund und den Kantonen

184 A. Staatsrechtliche Entscheitfungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

in der Weise geteilt, dass letzteren die Regelung des
Prozess-Jerfahrens im engem Sinne überlassen ist, während die
Normierung des Betreibungsverfahrens und des Konkursrechts insdie
Hoheitssphäre des Bundes fällt. Letzterer hat von der ihm zustehenden
Kompetenz durch Erlass des Bandes-gesetzes Über Schuldbetreibung
und Konkurs, vom 11. April 1889, Gebrauch gemacht. Danach wird das
Betreibungsverfahren durch den Zahlungsbefehl eingeleitet. Dieser ist
somitein betreibungsrechtlicher Akt, der vom eidg. Recht geschaffen,
seinen rechtlichen Jnhalt ausschliesslich von diesem erhält. Wird hievon
ausgegangen, so kann die Vorschrift im letzten Satze von Art. 26 litt. a
der Prozessordnung des Kantons Appenzell J.-Rh. nicht aufrecht erhalten
werden. Die Bestimmung beruht, wenn man von ihrem Wortlaute ausgeht, auf
dem Gedanken, dass durch den Zahlungsbefehl nicht nur die Beireibung,
sondern auch· der Streit über den Anspruch selbst eingeleitet merde;
sonst könnte nicht schon in diesem Stadium von einem Zuriiscktreten vom
Prozesse- die Rede fein. Eine solche Auffassung stünde aber in offenbarem
Widerspruche zum eidg. Betreibungsgesetze, das zweifellos die Einleitung
des Prozesses über den Bestand der Forderung nicht mit der Anhebung der
Betreibung zusammeniallen lassen und verquickt wissenwill (ng. Art. 79 und
Art. 184 und 186 B.-G.). Aber auchwenn man annimmt, der innerrhodische
Gesetzgeber habe im Grundenicht so weit gehen und nur erklären wollen
es bilde der Erlass des Zahlungsbefehls einen Provokationsgrund,
sos hält die Bestimmung vor dem eidg. Rechte nicht stand. Es müsste
in diesem Falle der Rechtsvsorschlag als die Aufforderung zur Klage,
die Entgegennahme bezw. die Bewilligung des Rechtsvorschlags als der
das Provokationserkenntnis darstellende Rechtsakt betrachtet werden Das
ist aber schlechterdings nicht möglich. Wenn es auch dem kantonalen
Rechte freistehen mag, den Zahlungsbefehl zum Ausgangspunkt für ein
Provokationsverfahren zu machen, so kann dasselbe doch nicht statuieren,
dass das Provokationsverfahren selbstdurch eine an sich in seinemWesen
und Zweck rein betreibungsrechtliche Massnahme des Schuldners ers etzt
werde. Wie der Zahlungsbefehl, ist auch der Rechtsvorschlag ein Institut
des eidgenbssischen Betreibungsrechts,I. Rechtsverweigerung. N. SL. 1853

das seinen rechtlichen Inhalt erschöpfend normiert, und es gehtUicht
an, dass ihm daneben ein Kanton von Gesetzes wegen auchnoch andere,
die betriebene Forderung selbst ergreifende Wirkungenverleihe. Es
würde damit eine betreibungsrechtliche Erklärung des Schuldners mit
Wirkungen ausgestattet, die nur aneigentliche prozesfualische Schritte
desselben geknüpft werden können. Art. 26 der Civilprozessordnung
von Appenzell-Jnnerrhoden nimmt denn auch selbst von der darin
aufgestellten Vorschrift über Prozesseinleitung die Streitigkeiten aus,
die im beschleunigten oder summarischen Verfahren zu führen sind·
Soweites sich hier um Streitigkeiten handelt, die in Beziehung
stehen zum Betreibungsoder Konknrsverfahren, und für welche im
eidg. Betreibungsgesetz die Beobachtung des beschleunigten oder
summarischen Verfahrens vorgeschrieben ist, liegt der Grund für die
Ausnahme offenbar in der Erwägung, dass die Vorschriftenvon Art. 26 mit
den im Betreibungsgesetz aufgestellten Bestimmutigen über die Frist
und Form der Klagsanhebung nicht vereinbar waren. Die Einleitung des
ordentlichen Prozesses nach erfolgtem Rechtsvorschlag ist nun freilich
im Betreibungsgesetz nicht an eine Frist geknüpft; daraus kann jedoch
nicht geschlossen werden, dass eine Lücke vorliege, die die Kantone
ergänzen dürften;. vielmehr ist auch hier die Beziehung zwischen dem
Betreibungsprozess und dem ordentlichen Prozess nach eidg. Recht zu
beurteilen, und wenn letzteres eine solche Beziehung nicht herstellt,
so kann es das kantonale Recht nicht von sich aus thun. Die Anwendung
der angefochtenen Bestimmung des innerrhodischen Civilprozesses würde
ferner Rückwirkungen auf das eidgenössisch geordnete Betreibungsverfahren
ausüben, die nicht hingenomrnen werden können. So würde namentlich das
Rechtsöffnungsverfahrem dass unbestrittenermassen ein blosses Jncident
des Betreibungsverfahrens und an sich an keine Präklusivfrist gebunden
ist, entweder gänzlich zwecklos, oder aber es würde, wie die Rekurrenten
richtig ausführen, die völlig ungerechtfertigte Ungleichheit entstehen,
dass derGläubiger, der Rechtsösfnung verlangt, sich damit den Folgen
dersVersäumnis der Frist zur Einleitung des ordentlichen Prozesses
entziehen könnte. Auch in anderer Richtung führt die fragliches Vorschrift
zu unmöglichen Konsequenzen Man bedenke z. V., dass

186 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

mit dem Rechtsvorschlag vielleicht nur die Fälligkeit oder die
Eintreibbarkeit der Forderung bestritten werden will, so ergiebt sich
klar, dass darin nicht die Aufforderung an den Gläubiger erblickt werden
darf, unter Androhung des Verlustes des Klagerechts feinen Anspruch
innert bestimmter-, übrigens sehr kurz bemessener Frist geltend zu
machen. Die angefochtene Bestimmung in Art. 26 litt. a des innerrhodischen
Civilprozessverfahrens erweist sich danach als mit dem eidg. Rechte
unvereinbar, und es muss deshalb die einzig auf dieselbe sich stützende
Entscheidung des Kantonsgerichts von Lippenzell J.-R. aufgehoben werden.

Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Der Rekurs wird gutgeheissen und demgemäss das angefochtene Urteil
des Kantonsgerichts des Kantons Appenzell-Jnnerrhoden vom 20. April
1899 aufgehoben, und die Sache zu neuer Behandlung an die kantonalen
Gerichte zurückgewiesen.

32. Urteil vom 29. Juni 1899 in Sachen Gisler gegen Zwyssig

Rechtsverweigerèlssng, begangen durch, unvollsäd'ndige Begrüssdung eines
Urteils-, sowie durch Verletzung klaren Rechtes. (Folgen der Unterlassung
des rechtzeitig/en Rechtsvorscklags.)

A. Am 6. August 1898 erliess das Betreibungsamt Spiringen aus Begehren
des Andreas Zwyssig auf Seelisberg an Jakob Gisler in Spiringen
einen Zahlungsbefehl für 335 Fr. nebst Zins zu 5 0/0 seit 5. August
1898 wegen Fahrlässigkeit und widerrechtlicher unbesugter Verwendung
eines Meisrind in Radsaîp im Juni 1898 und für gehabte Kosten." Am
17. August stellte das Betreibungsamt dem Gläubiger das für diesen
bestimmte Doppel des Zahlungsbefehls zurück und mit der unter der
Aufschrift Rechtsvorschlag enthaltenen Bemerkung: Die Schuld wird nicht
anerkannt. Auf dein Schuldnerdoppel wurde der Rechtsvorschlag nicht
verurkuntetI. Rechtsvenveigemng. N° 32. 187

B. Zwyssig lud hierauf den Gisler unter Berufung darauf, dass dieser
gegen den Zahlungsbefehl Vom 6. August Recht vorgeschlagen habe, vor das
Vermittleramt Spiringen mit dem Begehren, es sei der Beklagte gerichtlich
zu verhalten, an den Kläger die geforderten 335 Fr. nebst Zins und Kosten
zu bezahlen und der daherige Rechtsvorschlag aufzuheben. Die Vermittlung
blieb erfolglos und die Sache wurde an das Gericht gewiesen. Vor dem
Kreisgericht Uri wiederholte der Vertreter des Zwyssig das vor dem
Vermittleratnt gestellte Begehren, und begründete dasselbe im wesentlichen
folgendermassen: Der Kläger habe am 21. Juni 1898 zwei Rinder in die
Ruosalp gegeben. Der Beklagte sei dort Hirt gewesen. Schon am dritten
Tage sei das schönere der beiden Rinder auf der Alp verunglückt Dies set
auf mangelhafte Aufsicht des Hirten zurückzuführen Auch habe Gisler von
sich aus über das Fleisch verfügt und dabei die Interessen des Klägers
vernachlässigt. Der Beklagte sei somit nach Art. 50 n. 51 Q- . für das
Rind ersatzpflichtig Das Rechtsdegehren sei auch deshalb zu schützen, weil
Gisler zu spät, nämlich erst am 17. August, gegen den an ihn erlassenen
Zahlungsbefehl Rechtsvorschlag erhoben habe. Der Beklagte bestritt seine
Schadenerfatzpflicht und bemerkte bezüglich des Rechtsvorschlages, der
Kläger habe zu beweisen, dass derselbe verspätet angebracht worden sei;
und übrigens sei er gar nicht berechtigt, eine solche Einrede zu erheben.

C. Das Kreisgericht Uri erkannte unterm 22. November 1898: 1. Das
klägerische Rechts-begehren sei zwar als materiell nicht bewiesen, dagegen
als formell begründet erklärt 2. Der Beklagte habe 10 Fr. Gerichts-gelb
und dem Kläger eine Kostenvergütung von 50 Fr. zu bezahlen. Das Gericht
führte aus: Es sei der Beweis, dass der Beklagte durch eine fahrlässige
Handlung den Verlust des Rindes des Klägers verursacht habe, nicht
erbracht; ebenso erweise sich die klägerische Behauptung, dass der
Beklagte eigenmächtig über das Fleisch verfügt habe, als unbegründetzuzm
dem sei durch die Beklagtschaft dargethan, dass sie dem Klager sofort
von dem Verlust des Rindes Kenntnis gegeben haer und dass daraus nicht
mehr habe erlöst werden können als thatsachlich gelöst worden sei. Die
klägerische Forderung stelle sich infolgedessen als materiell unbegründet
dar. Dagegen sei die Behauptung des
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Dokument : 25 I 178
Datum : 15. Juni 1899
Publiziert : 31. Dezember 1899
Quelle : Bundesgericht
Status : 25 I 178
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : 178 A. Staatsrechtîiche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung. 31. Urteil


Stichwortregister
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