682 Staatsrechtliche Entscheidungen. Ill. Abschnitt. Kantonsverfassungen.

II. Anderweitige Eingrîffe in garantierte Rechte.

Atteintes portées à. d'autres droits gamut-is.

131. Urteil vom 16. November 1898 in Sachen Müller und Konsorten gegen
Amrisweil.

Voraussetzungen der Erteilemg des Expmpriaäionsrechtes an
Primä-zmtereesflzmce-ngen Hack tieurgauischem Recht; ä/fenätwiee
Woklfalzrt Bewältigung des Grossen Rates.

A. § 11 Abs. 1 der thurgauischen Kantonsversassnng vom 28. Februar 1869
setzt fest: Das Eigentum ist unverletzlich Ausnahmsweise ist Jeder nach
den Vorschriften des Gesetzes der-pflichten insofern die öffentliche
Wohlfahrt es erfordert, Grundetgentum oder andere Privatrechte
an den Staat oder an eineGemeinde oder an Privatunternehmungen,
an letztere jedoch nur zusolge Beschlusses des Grossen Rates, gegen
volle Entschädigung abzntreten. Die Bestimmungen des thurgauischen
Gesetzes überdie Verbindlichkeit zur Abtretung von Privatrechten
vom 6. Juni 1860, betreffend die Voraussetzungen zur Erteilung des
Ermopriationsrechtes und die Behörden, die darüber zu entscheiden haben,
lauten: @ 2 Abs. 1: Die Frage über die Pflicht der Abtretung wird als
Adminisirativsache behandelt. Werden die Abtretungen für die Zwecke
des Erziehungs-, des Kirchen-, oder für diejenigen des Gemeindewesens
verlangt, so sind Einsprachen dagegen jederzeit bei der zunächst
vorgesetzten Verwaltungsbehörde (dem Erziehungsrate, den Kirchenräten,
den Bezirksräten) anzubringen, immerhin unter dem Vorbehalte des Rekurses
an den Regierungsrat für beide Teile. Dagegen entscheidet die letztere
Behörde ausschliesslich bei besirittenen Erwopriationen für Staats-zwecke
§ 13: Abtretungen zu Gunsten von Privatunternehmungen können nur dann,
wenn sie im offentlichen Interesse geschehen, und nur infolge eines
Beschlusses des Grossen Rates gefordert werden.

13. Am 17. Dezember 1897 schloss die Ortsgemeinde Arn-cisweil mit dem
Wasserund Elektrizitätswerk Romanshorn einen

II. Anderweiiige Eingriffe in garantierte Rechte. N° 131. 683

Vertrag ab, wonach die Gemeinde dem genannten Werke für 25 Jahre die
ausschliessliche Konzession zum Bau und Betrieb einer Beleuchtungsund
Kraftanlage für öffentliche und private Zwecke aus ihrem Gemeindegebiete
erteilte, wogegen sie dem Werke die Aufstellung von Stangen und
das Ziehen von Leitungsdrähten auf dem Gemeindeeigentum, sowie das
Anbringen von Jsolatorenträgern und Konsolen auf öffentlichen Gebäuden
bewilligte und sich verpflichtete, die kantonale Bewilligung für
Benutzung der Landstrasse und das Recht der Erpropriation für die ganze
Leitungslinie vom Regierungs-rate einzuholen Das Werk wurde verpflichtet,
derOrtsgemeinde Amrisweil die zur öffentlichen Beleuchtung not- wendige
Energie zum Preise von 1 Fr. 40 Cis. per Normalkerze und per 1000
Brennstunden, abzüglich eines Rabattes von 40 0Xz auf dem Gesamtbetrage,
zu liefern, wobei fürs erste 40 Lampen zu 32 Kerzen in Aussicht genommen
wurden. In dem Vertrage wurde Bezug genommen auf eine vom Wasserund
Elektrizitätswerk Romaushorn mit einem Juitiativkomiie in Amrisweil am
3. November 1897 abgeschlossene Übereinkunft, wonach das Werk es übernahm,
auf eigene Rechnung eine Anlage für Abgabe von elektrischem Licht und
Kraft für Kleinmotoren in der Ortsgemeinde Amrisweil zu erbauen und zu
betreiben. Gegen die Erteilung des in der Ortsgemeinde Amrisweil gemäss
Vertrag vom 17. Dezember 1897 nachgesuchten Expropriationsrechtes erhoben
mit Eingabe vom 1. April 1898 48 beteiligte Grundeigentümer Einsvrache
beim Bezirksrate Arbon, weil die verfassungsmässigen Voraussetzungen
dafür nicht vorhanden seien. Der Bezirksrat schätzte diese Einsprache
und wies das Gesuch der Gemeinde Amrisweil ab. Er stellte fest, dass,
während die Gemeinde dem Wasserund Elektrizitätswerk nur eine Lichtmenge
von 1280 Kerzen abnehme, von Privaten in Amrisweil 12,600 Kerzen
gezeichnet worden seien. Aus diesem Verhältnis, bei dem die Abgabe von
Kraft für Kleinmotoren noch nicht berücksichtigt sei, gehe hervor, dass
man es nicht mit einem ausschliesslich der Gemeinde Amrisweil dienenden
Unternehmen, sondern mit einem im Interesse der dortigen Privaten und
der Unternehmung gelegenen Spekulationsgeschäft zu thun habe. Wollte man
aber auch annehmen, dass die Anlage im öffentlichen Wohle liege, so sei
zu berücksichtigen, dass sich die Gemeinde Amrisweil dieselbe in eigenem

684 Staatsrechtliche Entscheidungen. IlL Abschnitt. Kantonsverfassungen.

Rahon, und zwar eher zu günstigem Bedingungen verschaffen könnte, ohne
dass das Mittel der Expropriation angewendet werden milizie, und bag}
auch die mit der Anlage von elektrischen Starkstromleitungen verbundenen
Gefahren gegen die Erteilung des Rechts der Zwangsenteignung sprechen. Auf
Beschwerde der Ortsgemeinde Antrisweil änderte der Regierungsrat
des Kantons Thurgau unterm 5. August 1898 den bezirksrätlichen
Entscheid ab und erteilte der Beschwerdeführerin das nachgesuchte
Expa): priationsrecht, indem er ausführte1 Unbestritten sei, dass
das Unternehmen, soweit dasselbe die Kraft für eine elektrische
Strassenbeleuchtung liefern solle, einem Zwecke des Gemeindewesens
diene. Aber auch die Einführung der elektrischen Beleuchtung für
Privatgebände müsse vom sanitarischen und feuerpolizeilichen Standpunkt
aus als im öffentlichen Interesse liegend erklärt werden Unerheblich
sei der Umstand, dass die Anlage daneben (durch Abgabe von eiektrischer
Kraft zu gewerblichen Zwecken) Privatinteressen diene, da das Unternehmen
als Ganzes zu betrachten sei, und eine genaue Ausscheidung, inwieweit in
beiden Fällen die Expropriationsbefugnis lediglich für öffentliche, oder
auch für private Interessen erwirkt werde, auf praktische Schwierigkeiten
stiesse. Auch in dieser Richtung kämen übrigens öffentliche Interessen,
Hebung der Industrie und des Kleingewerbes-, in Frage.

C. Gegen den regierungsrätlichen Entscheid haben Josef Müller,
Gemeinderat in Holzenstein, und Mitbeteiligte den staatsrechtlichen
Rekurs an das Bundesgericht ergriffen, um zu Beantragen, es sei derselbe
als verfassungswidrig aufzuheben und die Ortsgemeinde Amrisweil mit
ihrem Anspruch auf Einräumung des Erpropriationsrechtes gegenüber
den Rekurrenten abzuweisen. Die wesentlichen Beschwerdegründe sind
nach der Rekursschrift und den Eingaben an die kantonalen Behörden,
auf die die Rekurrenten verweiserh folgende: Es handle sich ins der
Hauptsache nicht um die Erfüllung einer der nach Gesetz oder Übung den
Gemeinden zugewiesenen Aufgaben, sondern, wie das Verhältnis zwischen
der Beteiligung der Gemeinde und den Privaten zeige, um ein wesentlich
privaten Interessen einzelner Bürger und des Werkes selbst dienendes
Unternehmen Es dürfe auch nicht die Gemeinde an Stelle des eigentlichen
Expropriationssubjektes, des Wasserund Elektrizitätswerkes Romanshorn,
vorgeschoben werden. Somit

lI. Anderweitige Eingriffe in garantierte Rechte. N° 131. 685

fehlten die Voraussetzungen, die nach § 11 der thurgauischen Verfassung
zur Erteilung des Expropriationsrechtes vorhanden sein miifzten. '

D. Die Ortsgemeinde Amrisweil erwidert: Der Begriff der öffentlichen
Wohlfahrt erschöpfe sich nicht mit der Erfüllung der engeren, unumgäuglich
nötigen Aufgaben einer Gemeinde; auch sei nicht das unabweisliche
Bedürfnis der Gemeinde die Schranke für die öffentliche Wohlfahrt, sondern
das Interesse der Gemeinde, wie denn auch stets Eisenbahnen, öffentliche
Wasserversorgungeu, ja unter Umständen sogar industrielle Etablissemente
und Sparund Leihkassen als Unternehmungen, die der öffentlichen Wohlfahrt
dienen, angesehen worden seien. lmplicjte werde von den Rekurrenten
selbst zugegeben, dass für die Ersiellung der Strassenbeleuchtung in
Amrisweil das Expropriationsrecht angerufen werden könne. Nun hänge
aber das Recht der Erpropriation nicht von der quantitativen Ausdehnung
des Werkes ab, und es sei das ganze Unternehmen nicht teilbar, wie denn
auch die Rekurrenten kein Interesse daran hätten, ob die zu erstellende
Leitung stärker oder schwächer sei. Die Antwort des Regierungsrates bringt
keine andern, als die im Entscheide selbst und in der Vernehmlafsung
der Gemeinde Amrisweil geltend gemachten Gesichtspunkte.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1 .....

2 .....

3. § 11 der Thurgauer Verfassung stellt als materielle Voraussetzung
für die Pflicht zur zwangsweisen Abtretung von Grundeigentum oder
anderer Privatrechte, die sie als Ausnahme von dem Grundsatz der
Unverletzlichkeit des Eigentums zulässt, auf, dass die öffentliche
Wohlfahrt die Abtretung erfordere. Soweit nun im vorliegenden Falle
geltend gemacht werden will, dass diese Voraussetzung nicht vorhanden
sei, könnte der Rekurs kaum gutgeheissen werden. Zunächst ist offenbar
umsichtig, dass das Erpropriationsrecht nur erteilt werden könne, wenn
es sich um die Erfüllung eines eigentlichen Staatsbezw. Gemeindezweckes,
einer nach Gesetz oder Übung dem Staat oder der Gemeinde zugewiesenen
Aufgabe handelt, sehen doch die Thurgauer

xx1v, 1. 1898 46

686 Staatsrechtliche Entscheidungen. Ill. Abschnitt. Kaumnsverfasmngen.

Verfassung und das thurgauische Erpropriationsgesetz den Fall, dass einer
Privatunternehmung das Erpropriationsrecht erteilt werde, ausdrücklich
vor. Weiter ist es nach dem Wortlaut der Verfassungsbestimmung auch nicht
erforderlich, dass ein zwingendes Bedürfnis die Abtretung erheische
Ebensowenig braucht dieselbe ausschliesslich öffentlichen Zwecken
zu dienen. Es genügt, wenn neben den privaten auch das öffentliche
Interesse der Durchführung einer Unternehmung zur Seite steht, um sie
mit dem Rechte der Zwangsenteignnng auszustatten. Nun erweist sich die
Überführung elektrischer Energie nach Amrisweil jedenfalls insofern
als im öffentlichen Interesse der Gemeinde liegend, als dadurch
die öffentliche Beleuchtung mittelst der Elektrizität ermöglicht
wird. Diese Beziehung des Unternehmens zu einem unbestrittenermassen
öffentlichen Zwecke genügt, um dasselbe als der allgemeinen Wohlfahrt
förderlich erscheinen zu lassen, mögen ander Ausführung immerhin
Private und die Unternehmung selbst ebenfalls und sogar in höherem
Masse interessiert sein. Dazu kommt, dass in einem weitern Sinne die
Zuleitung von Elektrizität auch zu Privatzwecken als im öffentlichen
Interesse liegend angesehen werden kann. Abgesehen davon, dass vom
seuerpolizeilichen und sanitarischen Standpunkt aus die Einführung der
elektrischen Beleuchtung in Privatgebäuden einem öffentlichen Interesse
entgegenkommt, kann auch die Abgabe elektrischer Kraft, sofern dadurch
in allgemeiner Weise die gewerbliche und industrielle Thätigkeit einer
Ortschaft angeregt oder gehoben wird, als eine im allgemeinen Interesse
liegende, der öffentlichen Wohlfahrt dienende Angelegenheit betrachtet
werden, und es könnte das Bundesgericht, wenn die kantonalen Behörden dies
als Voraussetzung zur Erteilung des Expropriationsrechtes genügen lassen
würden, eine solche Ausfassung kaum als mit der Verfassung im Widerspruch
stehenderklären. Unter allen Umständen aber muss mit Rücksicht darauf,
dass mit der Unternehmung eine Verbesserung der öffentlichen Beleuchtung
bezweckt wird, die durch § ii der thnrgauischen Verfassung geforderte
materielle Voraussetzung zur Erteilung des Erpropriationsrechtes als
vorhanden betrachtet werden.

4. Die Verfassung stellt nun aber zum Schutz des Eigentums für die Fälle-,
in denen es sich Um die Einräumung des Erford-IL Anderweitige Eingriffe
in garantierte Rechte. N° 131. 687

priationsrechtes an eine Privatunternehmung handelt, eine weitere
formelle Garantie aus, indem sie verlangt, dass in diesen Fällen
der Grosse Rat über die Erteilung des Rechts entscheide. Man könnte
versucht sein, aus § 2 des Erpropriationsgesetzes herzuleiten, dass,
sobald die Erfüllung eines Zweckes des Gemeindewesens in Frage steht,
dem Regierungsrate die endliche Kompetenz zum Entscheide über ein
Gesuch betreffend Erteilung des Expropriationsrechtes zustehe. Allein
schon die Vergleichung mit § 13 des Gesetzes zeigt, dass man für die
Frage, wer zur Erteilung des Erpropriationsrechtes kompetent sei,
nicht die Gestaltung des öffentlichen Zwecks ausschlaggebend sein
lassen wollte, sondern die Frage, wem, zu wessen Gunsten das Recht
der Expropriation eingeräumt werde. Und § 11 der Verfassung, die als
späterer Erlass einer entgegenstehenden Verfügung des frühem Gesetzes
derogiert hätte, lässt vollends darüber keinen Zweifel zu, dass, wenn
das Expropriationsrecht einer Privatunternehmung verliehen werden soll,
der Grosse Rat darüber zu entscheiden hat. Nun verlangt im vorliegenden
Falle die Gemeinde Amrisweil das Erpropriationsrecht nicht für sich;
sie führt ja nicht selbst die fragliche Anlage aus. Sondern sie will
das Recht gemäss einer von ihr übernommenen vertraglichen Verpflichtung
einer Privatunternehmung verschaffen, welch' letztere sich als das
Subjekt darstellt, das mit dem Recht der Zwangsenteignung ausgestattet
werden soll und das denn auch die Pflichten des zur Expropriation
berechtigten zu erfüllen hätte. Die Gemeinde Amrisweil ist lediglich die
Vertreterin dieser Privatunternehmung, und sie muss sich, um derselben
das Expropriationsrecht zu verschaffen, nach ausdrücklicher, im Interesse
und zum Schutze des Privateigentnms aufgestellter Versassungsvorschrift,
an den Grossen Rat wenden. Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Der Rekurs wird in dem Sinne für begründet erklärt, dass der angefochtene
Entscheid des thurgauischen Regierungsrates vom 5. August 1898 aufgehoben
wird.
Information de décision   •   DEFRITEN
Document : 24 I 682
Date : 16 novembre 1898
Publié : 31 décembre 1898
Source : Tribunal fédéral
Statut : 24 I 682
Domaine : ATF- Droit constitutionnel
Objet : 682 Staatsrechtliche Entscheidungen. Ill. Abschnitt. Kantonsverfassungen. II. Anderweitige


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