Urteilskopf

147 IV 193

20. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen (Beschwerde in Strafsachen) 6B_1073/2020 vom 13. April 2021

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Regesto (it):


Sachverhalt ab Seite 194

BGE 147 IV 193 S. 194

A. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen wirft A. zusammengefasst den folgenden Sachverhalt vor: Nachdem er im Jahr 2008 nach einem Verkehrsunfall vergeblich versucht hatte, Versicherungsgelder von der B. Versicherung und der C. zu erhalten, wandte sich A. ca. Anfang Juli 2017 erneut an die B. Versicherung und machte Ansprüche aus einer Ferien- und Reisegepäckversicherung geltend. Zu diesem Zweck besuchte er zweimal die Filiale der B. Versicherung an der U. in Schaffhausen. Dabei eröffneten ihm die Mitarbeitenden der Versicherung, dass er wegen nicht bezahlter Versicherungsprämien keinen Anspruch auf Versicherungsleistungen habe. A. beschlich derweil das Gefühl, die Mitarbeitenden der B. Versicherung hätten bei bzw. nach diesen Besuchen angefangen, mit "Geistkräften" auf ihn einzuwirken bzw. ihn damit anzugreifen. Diese Einwirkung von "Geistkräften" erlangte für ihn am Sonntagabend, 23. Juli 2017, den Höhepunkt, als er glaubte, beinahe sterben zu müssen. Am Tag darauf, um ca. 9.00 Uhr, hielt A. sich am Bahnhof in Schaffhausen auf. Er hatte einen Rucksack, eine weisse Umhängetasche und einen schwarzen Sack dabei, in dem er eine Motorsäge mit sich führte. Damit begab er sich zur Filiale der B. Versicherung an der U., wo er um ca. 10.30 Uhr eintraf. Dort nahm er die Motorsäge aus dem Sack, liess sie laufen und betrat die Büroräumlichkeiten im 2. Obergeschoss, wo sich D., Mitarbeiter der B. Versicherung, an seinem Schreibtisch im Hauptbüro sitzend auf ein Kundengespräch vorbereitete. In einem der beiden an das Hauptbüro angrenzenden Besprechungsräume führte E., ebenfalls ein Mitarbeiter der B. Versicherung, mit geschlossener Türe ein Beratungsgespräch mit zwei Kunden durch. A. ging mit der laufenden, auf Höhe Oberkörper gehaltenen Motorsäge bestimmt, zügig und mit starrem, "gläsernem'' Blick auf D. zu, worauf dieser vom Stuhl aufsprang, zu schreien begann, mit den Händen herumfuchtelte und zum Schutz seines Kopfes den rechten Arm hob. Daraufhin verletzte ihn A. mit der Motorsäge am Handrücken. Weiter verletzte er D. am Hinterkopf und an der Schläfe. Da D. während des Angriffs permanent laut "nei, nei, nei" schrie, öffnete E. die Bürotüre. Er sah den blutenden D., halb kniend hinter dessen Bürostuhl, einen Arm zum Schutz hochhaltend und A., die laufende Kettensäge nach unten auf Kopfhöhe von D. haltend. E. rief dem ihm den Rücken zudrehenden A. - um ihn von D.
BGE 147 IV 193 S. 195

abzulenken - "he, he, he" zu und begab sich in die Mitte des Hauptbüros. A. wandte sich sogleich von D. ab, ging mit erhobener, laufender Motorsäge in den Händen auf E. zu und versuchte zweimal, ihn zu treffen. E. gelang es beide Male, der von A. in einer Bogenbewegung von links über dem Kopf nach rechts unten geführten Motorsäge auszuweichen. Daraufhin begab er sich in den hinteren Teil des Hauptbüros. A. folgte ihm, so dass sich E. in einer "Sackgasse" befand. Um sich in Sicherheit zu bringen, hechtete er mit einem Sprung über einen Korpus Richtung Eingangstüre. Dabei verletzte ihn A. mit der laufenden Motorsäge im Bereich der rechten Brustkorbrückseite und am rechten Oberschenkel. E. prallte mit der linken Gesichtshälfte und dem linken Arm auf dem Boden auf, stand auf und rannte unmittelbar hinter D., der sich in der Zwischenzeit ebenfalls zur Eingangstüre begeben hatte, die Treppe hinunter. Anschliessend konnten sich die beiden im gleichen Gebäude im F.-Laden in Sicherheit bringen. A. verliess mit der Motorsäge und seinen anderen Sachen die Liegenschaft, begab sich zum Bahnhof und fuhr mit dem Zug nach V., wo er am folgenden Tag festgenommen wurde. Bei der Festnahme führte er in einer Coop-Tasche zwei mit je 16 cm langen Pfeilen geladene Armbrüste und diverses Zubehör mit sich, da er Angst vor Menschenhändlern hatte, die ihn angeblich verschleppen wollten. A. wurde mit forensisch-psychiatrischem Gutachten vom 15. Februar 2018 eine schwere chronifizierte paranoid-halluzinatorische Schizophrenie diagnostiziert.
B. Mit Urteil vom 11. September 2019 hielt das Kantonsgericht Schaffhausen den Anklagesachverhalt für erstellt und fest, dass A. den Tatbestand der mehrfachen versuchten vorsätzlichen Tötung im Sinne von Art. 111
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 111 - Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, ohne dass eine der besondern Voraussetzungen der nachfolgenden Artikel zutrifft, wird mit Freiheitsstrafe152 nicht unter fünf Jahren bestraft.
i.V.m. Art. 22 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 22 - 1 Führt der Täter, nachdem er mit der Ausführung eines Verbrechens oder Vergehens begonnen hat, die strafbare Tätigkeit nicht zu Ende oder tritt der zur Vollendung der Tat gehörende Erfolg nicht ein oder kann dieser nicht eintreten, so kann das Gericht die Strafe mildern.
1    Führt der Täter, nachdem er mit der Ausführung eines Verbrechens oder Vergehens begonnen hat, die strafbare Tätigkeit nicht zu Ende oder tritt der zur Vollendung der Tat gehörende Erfolg nicht ein oder kann dieser nicht eintreten, so kann das Gericht die Strafe mildern.
2    Verkennt der Täter aus grobem Unverstand, dass die Tat nach der Art des Gegenstandes oder des Mittels, an oder mit dem er sie ausführen will, überhaupt nicht zur Vollendung gelangen kann, so bleibt er straflos.
StGB im Zustand der nicht selbst verschuldeten Schuldunfähigkeit erfüllt habe. Hierfür ordnete es eine stationäre therapeutische Massnahme im Sinne von Art. 59
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 59 - 1 Ist der Täter psychisch schwer gestört, so kann das Gericht eine stationäre Behandlung anordnen, wenn:
1    Ist der Täter psychisch schwer gestört, so kann das Gericht eine stationäre Behandlung anordnen, wenn:
a  der Täter ein Verbrechen oder Vergehen begangen hat, das mit seiner psychischen Störung in Zusammenhang steht; und
b  zu erwarten ist, dadurch lasse sich der Gefahr weiterer mit seiner psychischen Störung in Zusammenhang stehender Taten begegnen.
2    Die stationäre Behandlung erfolgt in einer geeigneten psychiatrischen Einrichtung oder einer Massnahmevollzugseinrichtung.
3    Solange die Gefahr besteht, dass der Täter flieht oder weitere Straftaten begeht, wird er in einer geschlossenen Einrichtung behandelt. Er kann auch in einer Strafanstalt nach Artikel 76 Absatz 2 behandelt werden, sofern die nötige therapeutische Behandlung durch Fachpersonal gewährleistet ist.57
4    Der mit der stationären Behandlung verbundene Freiheitsentzug beträgt in der Regel höchstens fünf Jahre. Sind die Voraussetzungen für die bedingte Entlassung nach fünf Jahren noch nicht gegeben und ist zu erwarten, durch die Fortführung der Massnahme lasse sich der Gefahr weiterer mit der psychischen Störung des Täters in Zusammenhang stehender Verbrechen und Vergehen begegnen, so kann das Gericht auf Antrag der Vollzugsbehörde die Verlängerung der Massnahme um jeweils höchstens fünf Jahre anordnen.
StGB an.
C. Mit Urteil vom 26. Mai 2020 wies das Obergericht des Kantons Schaffhausen die von A. gegen das erstinstanzliche Urteil erhobene Berufung ab.
D. Dagegen führt A. Beschwerde in Strafsachen vor Bundesgericht. Er beantragt, es sei der angefochtene Berufungsentscheid aufzuheben und festzustellen, dass er keine mehrfache versuchte Tötung im Sinne von Art. 111
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 111 - Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, ohne dass eine der besondern Voraussetzungen der nachfolgenden Artikel zutrifft, wird mit Freiheitsstrafe152 nicht unter fünf Jahren bestraft.
i.V.m. Art. 22 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 22 - 1 Führt der Täter, nachdem er mit der Ausführung eines Verbrechens oder Vergehens begonnen hat, die strafbare Tätigkeit nicht zu Ende oder tritt der zur Vollendung der Tat gehörende Erfolg nicht ein oder kann dieser nicht eintreten, so kann das Gericht die Strafe mildern.
1    Führt der Täter, nachdem er mit der Ausführung eines Verbrechens oder Vergehens begonnen hat, die strafbare Tätigkeit nicht zu Ende oder tritt der zur Vollendung der Tat gehörende Erfolg nicht ein oder kann dieser nicht eintreten, so kann das Gericht die Strafe mildern.
2    Verkennt der Täter aus grobem Unverstand, dass die Tat nach der Art des Gegenstandes oder des Mittels, an oder mit dem er sie ausführen will, überhaupt nicht zur Vollendung gelangen kann, so bleibt er straflos.
StGB im Zustand der nicht
BGE 147 IV 193 S. 196

selbst verschuldeten Schuldunfähigkeit begangen habe. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung und allenfalls zur Einholung eines Ergänzungsgutachtens zu seinem psychiatrischen Zustand zum Tatzeitpunkt an die Vorinstanz zurückzuweisen. Weiter ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren. Die kantonalen Akten wurden eingeholt. Auf die Einholung von Vernehmlassungen wurde verzichtet. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. (...)

1.4

1.4.1 Das Gesetz umschreibt den Begriff der "irrigen Vorstellung" in Art. 13 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 13 - 1 Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zu Gunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat.
1    Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zu Gunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat.
2    Hätte der Täter den Irrtum bei pflichtgemässer Vorsicht vermeiden können, so ist er wegen Fahrlässigkeit strafbar, wenn die fahrlässige Begehung der Tat mit Strafe bedroht ist.
StGB nicht weiter. Der französische Gesetzestext spricht von einer "appréciation erronée", das heisst von einer falschen, irrigen Einschätzung oder Beurteilung. Im italienischen Gesetzestext ist die Rede von einer "supposizione erronea", also einer falschen, irrigen Vorstellung resp. Annahme. Auch die bundesrätliche Botschaft definiert den Sachverhaltsirrtum als "fehlerhafte Vorstellung über die tatsächlichen Gegebenheiten" (Botschaft vom 21. September 1998 zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes sowie zu einem Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht, BBl 1999 2003 Ziff. 212.22). Mit anderen Worten geht der Irrende von einer Sachlage aus, die in der Realität so nicht existiert. Über die Gestalt oder den Ursprung dieser Fehlvorstellung schweigen sich sowohl das Gesetz wie auch die Materialien aus.
1.4.2 Dem Beschwerdeführer ist insoweit zuzustimmen, als auch in der Lehre mitunter ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass der Gesetzestext von Art. 13 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 13 - 1 Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zu Gunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat.
1    Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zu Gunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat.
2    Hätte der Täter den Irrtum bei pflichtgemässer Vorsicht vermeiden können, so ist er wegen Fahrlässigkeit strafbar, wenn die fahrlässige Begehung der Tat mit Strafe bedroht ist.
StGB zu den Ursachen des Irrtums keine Aussagen treffe. Das bedeute, dass ein rechtlich relevanter Irrtum jedenfalls nicht a priori deshalb ausscheide, nur weil er seine Grundlage in einer wahnhaften Vorstellung des Täters finde (so THOMMEN/HABERMEYER/GRAF, Tatenlose Massnahmen?, sui generis 2020 S. 334 Rz. 26). Wenn die Ursachen des Irrtums aber unerheblich wären, bedeutete dies nach dieser Lehrmeinung, dass ein schizophrener Täter nach Art. 13 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 13 - 1 Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zu Gunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat.
1    Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zu Gunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat.
2    Hätte der Täter den Irrtum bei pflichtgemässer Vorsicht vermeiden können, so ist er wegen Fahrlässigkeit strafbar, wenn die fahrlässige Begehung der Tat mit Strafe bedroht ist.
StGB zu seinen Gunsten so gestellt werden müsste, wie wenn eine Angriffssituation vorgelegen
BGE 147 IV 193 S. 197

hätte. Unter der Voraussetzung, dass die Abwehrhandlung des vermeintlich Bedrohten die Grenzen der Notwehr wahrt (Art.?15 StGB), hätte die Anwendung von Art.?13 Abs.?1 StGB schliesslich zur Folge, dass der Wahntäter gerechtfertigt und freizusprechen wäre (THOMMEN/HABERMEYER/GRAF, a.a.O., S. 334 Rz. 27).
1.4.3 Die gleichen Autoren weisen aber auch auf die deutsche Rechtsprechung betreffend krankheitsbedingte Irrtümer hin (THOMMEN/HABERMEYER/GRAF, a.a.O., S. 335 Rz. 37). Der dieser Rechtsprechung zugrunde liegende § 63 des deutschen Strafgesetzbuchs ist mit Art. 19 Abs. 3 i.V.m. Art. 59 des schweizerischen Strafgesetzbuchs vergleichbar. Im Urteil 1 StR 510/52 vom 11. November 1952, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1953 S. 111, führte der deutsche Bundesgerichtshof aus, dass Vorstellungsausfälle, die durch die Geisteskrankheit bedingt seien, nur die Verantwortlichkeit des Beschuldigten beeinträchtigten, jedoch nicht dazu führten, dass die sonst vorhandenen inneren Tatbestandsmerkmale verneint werden müssten. An dieser Rechtsprechung hielt der Gerichtshof im Urteil 5?StR 199/ 57 vom 9. Juli 1957, in: NJW 1957 S. 1484, fest, indem er ausführte, ein Irrtum, der durch dieselbe geistige Erkrankung des Beschuldigten bedingt sei, auf der auch seine Zurechnungsunfähigkeit beruhe, schliesse die Annahme einer tatbestandsmässigen Handlung nicht aus. Diese Rechtsprechung wurde in jüngeren Entscheiden bestätigt (Beschlüsse des Bundesgerichtshofs 3 StR 344/11 vom 11. Oktober 2011, in: Online-Zeitschrift für Strafrecht [HRRS] 2011 Nr. 1240; 1 StR 327/03 vom 27. August 2003, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht, Rechtsprechungs-Report Strafrecht [NStZ-RR] 2004 S. 10). Danach ist zwischen allgemeinen und krankheitsbedingten Fehlvorstellungen zu differenzieren. Irrtümer, die ihren Grund in der für die Schuldfähigkeit relevanten Pathologie haben, sind nicht zugunsten des Täters zu berücksichtigen und schliessen die Tatbestandsmässigkeit seines Handelns somit nicht aus. Begründet wird dies namentlich mit dem Schutzgedanken von § 63 des deutschen Strafgesetzbuchs. In der deutschen Lehre wird dazu ausgeführt, wenn krankheitsbedingte Irrtümer zur Verneinung der Anwendbarkeit der Norm führen würden, würde ihr Schutzgedanke versagen und der mit ihr verfolgte Zweck gerade in den Fällen vereitelt, in denen sich der abnorme Zustand des Täters besonders gefährlich erweise, weil er ihm die Erkenntnis der Gemeinschädlichkeit seines Handelns verwehre (HEINZ SCHÖCH, in: Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2008, N. 46 zu § 63 StGB). Der Schutz vor gefährlichen

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Tätern bleibt gemäss deutscher Auffassung beispielsweise dann geboten, wenn ein unter krankhaftem Verfolgungswahn Leidender harmlose Personen völlig unbegründet für Angreifer hält und sie in vermeintlicher Notwehr tötet oder verletzt (THOMAS FISCHER, Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, 67. Aufl. 2020, N. 7 zu § 63 StGB; JÖRG KINZIG, in: Strafgesetzbuch, Kommentar, 30. Aufl. 2019, N. 9 zu § 63 StGB). Unerheblich ist, ob es sich um einen Tatbestandsirrtum oder um einen Irrtum über Rechtfertigungsgründe handelt (JÖRG KINZIG, a.a.O., N. 9 zu § 63 StGB).

1.4.4 Auch der eidgenössische Gesetzgeber verfolgte bei der Neuregelung des Massnahmenrechts ausdrücklich das Ziel, die öffentliche Sicherheit und damit den Schutz vor gefährlichen psychisch kranken Straftätern zu verstärken. In Art. 19 Abs. 3
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 19 - 1 War der Täter zur Zeit der Tat nicht fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so ist er nicht strafbar.
1    War der Täter zur Zeit der Tat nicht fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so ist er nicht strafbar.
2    War der Täter zur Zeit der Tat nur teilweise fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so mildert das Gericht die Strafe.
3    Es können indessen Massnahmen nach den Artikeln 59-61, 63, 64, 67, 67b und 67e getroffen werden.15
4    Konnte der Täter die Schuldunfähigkeit oder die Verminderung der Schuldfähigkeit vermeiden und dabei die in diesem Zustand begangene Tat voraussehen, so sind die Absätze 1-3 nicht anwendbar.
StGB sah er deshalb die Möglichkeit vor, auch gegenüber einem schuldunfähigen Täter strafrechtliche Massnahmen anzuordnen, wo dies im Einzelfall sinnvoll erscheint (BBl 1999 2068 f. Ziff. 213.4). Gleichzeitig entspricht es der Konzeption des Gesetzes, pathologische Zustände, die zu einer verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit führen, nur auf der Ebene der Schuld und nicht auf der Ebene der Tatbestandsmässigkeit oder der Rechtfertigung zu berücksichtigen. Eine allfällige Schuldunfähigkeit wirkt sich folglich nicht auf die Tatbestandsmässigkeit, sondern einzig auf die Vorwerfbarkeit des Verhaltens (Verschulden) aus (vgl. Urteile 6B_1363/2019 vom 19. November 2020 E. 1.2.1; 6B_366/2014 vom 23. April 2015 E. 1.3.2). Die gegenteilige Auffassung hätte zur Folge, dass die vom Strafrecht vorgesehenen, therapeutischen Massnahmen gerade dort nicht greifen könnten, wo ein gefährlicher Täter krankheitsbedingt an besonders schweren wahnhaften Vorstellungen resp. Störungen der Realitätskontrolle leidet und ein entsprechend hoher Therapiebedarf besteht. Dies entspricht nicht dem Willen des Gesetzgebers.
1.4.5 Die bundesgerichtliche Rechtsprechung lässt rein subjektive Vorstellungen von Angriffen denn auch nicht ohne weiteres genügen: Der vermeintlich Angegriffene oder Bedrohte muss vielmehr Umstände nachweisen, die bei ihm den Glauben erwecken konnten, er befinde sich in einer tatsächlichen Notwehrlage. Die blosse Vorstellung von der Möglichkeit eines Angriffs oder einer unmittelbaren Bedrohung genügt nach der Rechtsprechung nicht zur Annahme, dass er in Putativnotwehr gehandelt habe ( BGE 93 IV 81 E. b; 44 II 152; Urteile 6B_569/2018 vom 20. März 2019 E. 3.5.4; 6B_789/2018 vom 21. Januar 2019 E. 2.4; 6P.76/2005 vom 15. November 2005 E. 5.3; je mit Hinweisen).
BGE 147 IV 193 S. 199

1.4.6 In Weiterentwicklung dieser Rechtsprechung bietet der vorliegende Fall nun auch Anlass, krankheitsbedingte von gewöhnlichen Irrtümern zu unterscheiden: Der (psychisch) gesunde Irrende hat eine Fehlvorstellung über die Wirklichkeit. Gemeint ist damit die insoweit "objektive", da von allen gesunden Personen übereinstimmend wahrnehmbare Wirklichkeit. Für eine - wie hier - an Schizophrenie leidende Person ist bereits diese "objektive" Wirklichkeit so nicht wahrnehmbar. Kranheitsbedingt hat sie eine eigene, subjektive Wirklichkeit (Eigenwirklichkeit), die nicht mehr kritisch hinterfragt werden kann. Aus psychiatrischer Sicht ist die Rede vom Irrtum bei ihr deshalb bereits phänomenologisch verfehlt (THOMMEN/HABERMEYER/GRAF, a.a.O., S. 336 Rz. 40). Das kann nun aber auch strafrechtlich nicht anders sein: Es entspricht dem Konzept der Strafrechtsordnung, als Normalfall von einem Individuum auszugehen, das in der Lage ist, die Gebote und Verbote des Strafrechts zu erkennen und sein Verhalten danach auszurichten (FELIX BOMMER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2019, N. 16 zu Vor Art. 19
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 19 - 1 War der Täter zur Zeit der Tat nicht fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so ist er nicht strafbar.
1    War der Täter zur Zeit der Tat nicht fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so ist er nicht strafbar.
2    War der Täter zur Zeit der Tat nur teilweise fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so mildert das Gericht die Strafe.
3    Es können indessen Massnahmen nach den Artikeln 59-61, 63, 64, 67, 67b und 67e getroffen werden.15
4    Konnte der Täter die Schuldunfähigkeit oder die Verminderung der Schuldfähigkeit vermeiden und dabei die in diesem Zustand begangene Tat voraussehen, so sind die Absätze 1-3 nicht anwendbar.
StGB). Wer folglich aufgrund einer psychischen Krankheit "irrt", irrt - wie bereits die Vorinstanz zutreffend ausführt - nicht im Sinne des Art. 13 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 13 - 1 Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zu Gunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat.
1    Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zu Gunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat.
2    Hätte der Täter den Irrtum bei pflichtgemässer Vorsicht vermeiden können, so ist er wegen Fahrlässigkeit strafbar, wenn die fahrlässige Begehung der Tat mit Strafe bedroht ist.
StGB. Die irrige Annahme eines schuldunfähigen Beschuldigten, die bei einem geistig gesunden Täter einen Sachverhaltsirrtum darstellen würde, ist mithin unbeachtlich, wenn sie auf die zur Schuldunfähigkeit führende Erkrankung des Beschuldigten zurückgeht.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 147 IV 193
Datum : 13. April 2021
Publiziert : 29. September 2021
Quelle : Bundesgericht
Status : 147 IV 193
Sachgebiet : BGE - Strafrecht und Strafvollzug
Gegenstand : Art. 13 StGB; Krankheitsbedingter Irrtum. Ein schuldunfähiger Beschuldigter kann sich nicht auf einen Sachverhaltsirrtum


Gesetzesregister
StGB: 13 
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 13 - 1 Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zu Gunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat.
1    Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zu Gunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat.
2    Hätte der Täter den Irrtum bei pflichtgemässer Vorsicht vermeiden können, so ist er wegen Fahrlässigkeit strafbar, wenn die fahrlässige Begehung der Tat mit Strafe bedroht ist.
19 
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 19 - 1 War der Täter zur Zeit der Tat nicht fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so ist er nicht strafbar.
1    War der Täter zur Zeit der Tat nicht fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so ist er nicht strafbar.
2    War der Täter zur Zeit der Tat nur teilweise fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so mildert das Gericht die Strafe.
3    Es können indessen Massnahmen nach den Artikeln 59-61, 63, 64, 67, 67b und 67e getroffen werden.15
4    Konnte der Täter die Schuldunfähigkeit oder die Verminderung der Schuldfähigkeit vermeiden und dabei die in diesem Zustand begangene Tat voraussehen, so sind die Absätze 1-3 nicht anwendbar.
22 
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 22 - 1 Führt der Täter, nachdem er mit der Ausführung eines Verbrechens oder Vergehens begonnen hat, die strafbare Tätigkeit nicht zu Ende oder tritt der zur Vollendung der Tat gehörende Erfolg nicht ein oder kann dieser nicht eintreten, so kann das Gericht die Strafe mildern.
1    Führt der Täter, nachdem er mit der Ausführung eines Verbrechens oder Vergehens begonnen hat, die strafbare Tätigkeit nicht zu Ende oder tritt der zur Vollendung der Tat gehörende Erfolg nicht ein oder kann dieser nicht eintreten, so kann das Gericht die Strafe mildern.
2    Verkennt der Täter aus grobem Unverstand, dass die Tat nach der Art des Gegenstandes oder des Mittels, an oder mit dem er sie ausführen will, überhaupt nicht zur Vollendung gelangen kann, so bleibt er straflos.
59 
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 59 - 1 Ist der Täter psychisch schwer gestört, so kann das Gericht eine stationäre Behandlung anordnen, wenn:
1    Ist der Täter psychisch schwer gestört, so kann das Gericht eine stationäre Behandlung anordnen, wenn:
a  der Täter ein Verbrechen oder Vergehen begangen hat, das mit seiner psychischen Störung in Zusammenhang steht; und
b  zu erwarten ist, dadurch lasse sich der Gefahr weiterer mit seiner psychischen Störung in Zusammenhang stehender Taten begegnen.
2    Die stationäre Behandlung erfolgt in einer geeigneten psychiatrischen Einrichtung oder einer Massnahmevollzugseinrichtung.
3    Solange die Gefahr besteht, dass der Täter flieht oder weitere Straftaten begeht, wird er in einer geschlossenen Einrichtung behandelt. Er kann auch in einer Strafanstalt nach Artikel 76 Absatz 2 behandelt werden, sofern die nötige therapeutische Behandlung durch Fachpersonal gewährleistet ist.57
4    Der mit der stationären Behandlung verbundene Freiheitsentzug beträgt in der Regel höchstens fünf Jahre. Sind die Voraussetzungen für die bedingte Entlassung nach fünf Jahren noch nicht gegeben und ist zu erwarten, durch die Fortführung der Massnahme lasse sich der Gefahr weiterer mit der psychischen Störung des Täters in Zusammenhang stehender Verbrechen und Vergehen begegnen, so kann das Gericht auf Antrag der Vollzugsbehörde die Verlängerung der Massnahme um jeweils höchstens fünf Jahre anordnen.
111
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 111 - Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, ohne dass eine der besondern Voraussetzungen der nachfolgenden Artikel zutrifft, wird mit Freiheitsstrafe152 nicht unter fünf Jahren bestraft.
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1999/2003 • 1999/2068