147 II 35
4. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Staatssekretariat für Migration gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) 2C_108/2020 vom 10. Juli 2020
Regeste (de):
- Art. 4
IR 0.142.112.681 Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (mit Anhängen, Prot. und Schlussakte)
FZA Art. 4 Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit - Das Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit wird vorbehaltlich des Artikels 10 nach Massgabe des Anhangs I eingeräumt.
- Der Begriff der "dauernden Arbeitsunfähigkeit" ist nicht arbeitsplatzbezogen auszulegen; sie liegt nicht vor, wenn dem Arbeitnehmer durch einen Arbeitsunfall zwar die bisherige Tätigkeit verunmöglicht wird, ihm die Aufnahme einer alternativen Berufstätigkeit jedoch zugemutet werden kann. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn der Arbeitnehmer nur teilweise arbeiten kann. "Dauernde Arbeitsunfähigkeit" ist in solchen Fällen nur dann gegeben, wenn die verbleibende Restarbeitsfähigkeit keine beruflichen Aktivitäten mehr ermöglicht, die einer qualitativ und quantitativ echten und tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit gleichkommen oder dem Arbeitnehmer die Aufnahme einer solchen Tätigkeit nicht zugemutet werden kann (E. 4).
Regeste (fr):
- Art. 4 annexe I ALCP; art. 2 par. 1 let. b du Règlement (CEE) n° 1251/70; droit de séjour du travailleur migrant (définition de la notion "d'incapacité de travail durable").
- La notion "d'incapacité de travail durable" ne doit pas être interprétée comme étant liée à un emploi; il n'est pas question d'une telle incapacité lorsque le travailleur salarié, ensuite d'un accident du travail, ne peut certes plus exercer son ancienne activité, mais que l'on peut attendre de lui qu'il exerce une activité professionnelle alternative. Cela est fondamentalement également le cas lorsque le travailleur salarié ne peut travailler qu'à un taux réduit. Une "incapacité de travail durable" n'existe dans de tels cas de figure que lorsque la capacité de travail résiduelle ne permet plus d'exercer une activité lucrative équivalente qualitativement et quantitativement à une activité économique réelle et effective ou qu'il ne peut pas être attendu du travailleur qu'il débute une telle activité (consid. 4).
Regesto (it):
- Art. 4 Allegato I ALC; art. 2 n. 1 lett. b del Regolamento (CEE) n° 1251/70; diritto di rimanere del lavoratore migrante (definizione della nozione di "inabilità permanente al lavoro").
- La nozione di "inabilità permanente al lavoro" non va interpretata in relazione a un determinato posto di lavoro; una tale inabilità non è data quando, a seguito di un incidente sul lavoro, il lavoratore salariato non può più esercitare l'attività sin lì svolta, ma ci si può attendere da lui che intraprenda un'attività professionale alternativa. Di principio, ciò vale anche se il lavoratore salariato può lavorare solo in parte. In simili casi, "l'inabilità permanente al lavoro" è data unicamente se la capacità di lavoro residua non permette di esercitare più nessuna attività professionale che possa essere paragonabile sia quantitativamente che qualitativamente a un'attività economica reale ed effettiva, o non ci si può aspettare dal lavoratore che egli intraprenda una simile attività (consid. 4).
Sachverhalt ab Seite 36
BGE 147 II 35 S. 36
A. A. (geb. 1962) ist deutscher Staatsangehöriger. Er reiste am 7. Juni 2010 in die Schweiz ein. Hier wurde ihm eine bis zum 6. Juni 2015 gültige Aufenthaltsbewilligung erteilt. Seit einem Arbeitsunfall im Juli 2011 geht A. keiner Erwerbstätigkeit mehr nach. Weil die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt eine Leistungsverpflichtung zunächst verneinte, musste er von August 2012 bis Ende Januar 2015 (mit Unterbrüchen) von der Sozialhilfe unterstützt werden. Im Frühjahr bzw. Sommer 2015 sprach die IV-Stelle der Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich A. Taggelder für eine berufliche Wiedereingliederungsmassnahme zu und erteilte ihm Kostengutsprache für die unter diesem Titel begonnene einjährige Handelsausbildung zum Bürofachdiplom VSH. Das Migrationsamt des Kantons Zürich (nachfolgend: Migrationsamt) verlängerte die Aufenthaltsbewilligung von A. im August 2015 deshalb nochmals um vier Monate. Mitte Januar 2016 brach A. die Umschulung aus gesundheitlichen Gründen ab. Ab Februar 2016 beanspruchte er wieder Unterstützungsleistungen der öffentlichen Hand.
B. Mit Verfügung vom 22. Juli 2016 verweigerte das Migrationsamt die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung von A. und forderte ihn auf, die Schweiz bis zum 5. September 2016 zu verlassen. Während des daraufhin angehobenen Rechtsmittelverfahrens teilte die Schweizerische Ausgleichskasse mit, A. habe - ausgehend von einem Invaliditätsgrad von 54 % - mit Wirkung ab dem 1. November 2018 Anspruch auf Ausrichtung einer halben Invalidenrente (Mitteilung vom 17. Oktober 2018). Die Sicherheitsdirektion des Kantons Zürich wies das Rechtsmittel von A. in der Folge ab (Entscheid vom 29. März 2019), während das Verwaltungsgericht des Kantons Zürichs
BGE 147 II 35 S. 37
dem Antrag von A. folgte und das Migrationsamt einlud, seine Aufenthaltsbewilligung zu verlängern (Urteil vom 11. Dezember 2019).
C. Mit Eingabe vom 30. Januar 2020 gelangt das Staatssekretariat für Migration (SEM) ans Bundesgericht und erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Es ersucht um Aufhebung des Urteils vom 11. Dezember 2019.
D. A. beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Migrationsamt, die Sicherheitsdirektion und das Verwaltungsgericht verzichten auf inhaltliche Stellungnahme. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
3.1 Gemäss Art. 6 Abs. 1
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IR 0.142.112.681 Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (mit Anhängen, Prot. und Schlussakte) FZA Art. 6 Aufenthaltsrecht für Personen, die keine Erwerbstätigkeit ausüben - Das Aufenthaltsrecht im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei wird den Personen, die keine Erwerbstätigkeit ausüben, gemäss den Bestimmungen des Anhangs I über Nichterwerbstätige eingeräumt. |
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IR 0.142.112.681 Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (mit Anhängen, Prot. und Schlussakte) FZA Art. 6 Aufenthaltsrecht für Personen, die keine Erwerbstätigkeit ausüben - Das Aufenthaltsrecht im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei wird den Personen, die keine Erwerbstätigkeit ausüben, gemäss den Bestimmungen des Anhangs I über Nichterwerbstätige eingeräumt. |
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IR 0.142.112.681 Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (mit Anhängen, Prot. und Schlussakte) FZA Art. 4 Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit - Das Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit wird vorbehaltlich des Artikels 10 nach Massgabe des Anhangs I eingeräumt. |
BGE 147 II 35 S. 38
3.2 Darüber hinaus sieht Art. 4
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IR 0.142.112.681 Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (mit Anhängen, Prot. und Schlussakte) FZA Art. 4 Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit - Das Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit wird vorbehaltlich des Artikels 10 nach Massgabe des Anhangs I eingeräumt. |
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IR 0.142.112.681 Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (mit Anhängen, Prot. und Schlussakte) FZA Art. 4 Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit - Das Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit wird vorbehaltlich des Artikels 10 nach Massgabe des Anhangs I eingeräumt. |
3.3 Ein Verbleiberecht infolge Arbeitsunfähigkeit setzt eine vorgängige Arbeitnehmereigenschaft voraus (vgl. Urteil 2C_1034/2016 vom 13. November 2017 E. 2.2 mit Hinweisen; Urteil des EuGH vom 26. Mai 1993 C-171/91 Tsiotras, Slg. 1993 I-2925 Randnr. 18). Zudem ist erforderlich, dass der Arbeitnehmer die Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis aufgrund der Arbeitsunfähigkeit aufgegeben hat; nur dann rechtfertigt es sich, seine Rechte als Wanderarbeitnehmer über das Dahinfallen des Arbeitnehmerstatus hinaus fortbestehen zu lassen (BGE 141 II 1 E. 4.3.2 S. 13).
4. Strittig ist vorliegend, ob A. gestützt auf Art. 4
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IR 0.142.112.681 Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (mit Anhängen, Prot. und Schlussakte) FZA Art. 4 Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit - Das Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit wird vorbehaltlich des Artikels 10 nach Massgabe des Anhangs I eingeräumt. |
4.1 Die Vorinstanz bejahte diese Frage. Sie erwog, gemäss dem klaren Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 Bst. b der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 knüpfe der Verbleibeanspruch nach Art. 4
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IR 0.142.112.681 Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (mit Anhängen, Prot. und Schlussakte) FZA Art. 4 Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit - Das Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit wird vorbehaltlich des Artikels 10 nach Massgabe des Anhangs I eingeräumt. |
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Bundesgericht in E. 4.4 dazu lediglich vage festgehalten, dass die im Rahmen des Rentenbescheids der Invalidenversicherung vorgenommene Qualifikation der versicherten Person als "erwerbstätig", "teilerwerbstätig" oder "nicht erwerbstätig" wertvolle Hinweise zur Frage der Arbeitnehmereigenschaft und der Arbeitsunfähigkeit liefern könne. Ein Teil der Lehre (vgl. namentlich MARC SPESCHA, in: Migrationsrecht, Kommentar, Spescha/Zünd/Bolzli/Hruschka/de Weck [Hrsg.], 5. Aufl. 2019, N. 5 zu Art. 4
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IR 0.142.112.681 Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (mit Anhängen, Prot. und Schlussakte) FZA Art. 4 Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit - Das Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit wird vorbehaltlich des Artikels 10 nach Massgabe des Anhangs I eingeräumt. |
BGE 147 II 35 S. 40
komme ihm in der Schweiz ein Verbleiberecht nach Art. 4
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IR 0.142.112.681 Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (mit Anhängen, Prot. und Schlussakte) FZA Art. 4 Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit - Das Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit wird vorbehaltlich des Artikels 10 nach Massgabe des Anhangs I eingeräumt. |
4.2 Das SEM widerspricht dieser Auslegung. Das Staatssekretariat vertritt - im Wesentlichen gestützt auf eine systematische und teleologische Einordnung von Art. 2 Abs. 1 Bst. b Satz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 - die Auffassung, dass nicht von "dauernder Arbeitsunfähigkeit" auszugehen sei, wenn der betreffende EU-Staatsangehörige lediglich teilerwerbsunfähig sei.
4.3 Dem SEM ist zumindest teilweise beizupflichten:
4.3.1 Im Ausgangspunkt ist darauf hinzuweisen, dass das Bundesgericht in einem kürzlich ergangenen Urteil entschieden hat, der Begriff der "dauernden Arbeitsunfähigkeit" sei nicht arbeitsplatzbezogen auszulegen; demnach kann - entgegen den von der Vorinstanz zitierten Lehrmeinungen (vgl. E. 4.1 hiervor) - nicht von dauernder Arbeitsunfähigkeit ausgegangen werden, wenn dem Arbeitnehmer durch einen Arbeitsunfall zwar die bisherige Tätigkeit verunmöglicht wird, die Aufnahme einer anderen Berufstätigkeit jedoch zumutbar ist (vgl. BGE 146 II 89 E. 4.4-4.8 S. 92 ff.).
4.3.2 Ob die vorstehend wiedergegebene Rechtsprechung auch dann zur Anwendung gelangt, wenn die vom Arbeitsunfall betroffene Person nicht nur in ihrem bisherigen Berufsfeld vollständig arbeitsunfähig geworden ist, sondern auch in einer ihr zumutbaren angepassten Tätigkeit nur teilweise arbeiten kann, ergibt sich aus dem vorstehend wiedergegebenen Urteil nicht. Auch der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat sich bis dato nicht dazu geäussert, wie der Begriff der "dauernden Arbeitsunfähigkeit" gemäss Art. 2 Abs. 1 Bst. b Satz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 in dieser Hinsicht zu verstehen ist. Nichts anderes gilt bezüglich der - für die Schweiz nicht verbindlichen, inhaltlich jedoch (weitestgehend) deckungsgleichen (vgl. RUNGGALDIER/REISSNER, Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer im EG-Vertrag, in: Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, Oetker/Preis [Hrsg.], 2019, Rz. 87) - unionsrechtlichen Nachfolgebestimmung in Art. 17 Abs. 1 Bst. b der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (...) (ABl. L 158 vom 30. April 2004; nachfolgend: Freizügigkeitsrichtlinie).
4.3.3 Bezüglich Art. 17 Abs. 1 Bst. a der Freizügigkeitsrichtlinie (Parallelbestimmung zu Art. 2 Abs. 1 Bst. a der Verordnung [EWG]Nr. 1251/70) hat der EuGH in einem kürzlich ergangenen Entscheid
BGE 147 II 35 S. 41
festgehalten, dass die Bestimmung als Ausnahme zur allgemeinen Regelung von Art. 16 der Freizügigkeitsrichtlinie (Daueraufenthaltsrecht nach einem fünfjährigen ununterbrochenen rechtmässigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat) eng auszulegen sei (vgl. Urteil des EuGH vom 22. Januar 2020 C-32/19 AT gegen Pensionsversicherungsanstalt, Randnr. 38), was gleichermassen für Art. 17 Abs. 1 Bst. b
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IR 0.142.112.681 Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (mit Anhängen, Prot. und Schlussakte) FZA Art. 17 Entwicklung des Rechts - (1) Sobald eine Vertragspartei das Verfahren zur Annahme eines Entwurfs zur Änderung ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften einleitet oder eine Änderung in der Rechtsprechung der Instanzen, deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, in einem unter dieses Abkommen fallenden Bereich eintritt, unterrichtet die betroffene Vertragspartei die andere Vertragspartei im Rahmen des Gemischten Ausschusses hiervon. |
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IR 0.142.112.681 Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (mit Anhängen, Prot. und Schlussakte) FZA Art. 4 Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit - Das Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit wird vorbehaltlich des Artikels 10 nach Massgabe des Anhangs I eingeräumt. |
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SR 142.203 Verordnung vom 22. Mai 2002 über den freien Personenverkehr zwischen der Schweiz und der Europäischen Union und deren Mitgliedstaaten, zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich sowie unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandelsassoziation (Verordnung über den freien Personenverkehr, VFP) - Verordnung über den freien Personenverkehr VFP Art. 5 Niederlassungsbewilligung EU/EFTA - EU- und EFTA-Angehörige und ihre Familienangehörigen erhalten eine unbefristete Niederlassungsbewilligung EU/EFTA gestützt auf Artikel 34 AIG31 und die Artikel 60-63 VZAE32 sowie nach Massgabe der von der Schweiz abgeschlossenen Niederlassungsvereinbarungen. |
Wenngleich dieses Begriffsverständnis des deutschen Gesetzgebers das Bundesgericht bei der Auslegung von Art. 2 Abs. 1 Bst. b Satz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 nicht zu binden vermag, so ist es
BGE 147 II 35 S. 42
doch aufschlussreich für den Bedeutungsgehalt, welcher der dort enthaltenen Wendung der "dauernden Arbeitsunfähigkeit" mit Blick auf die hier interessierende Fragestellung gemeinhin zugemessen wird (vgl. zur Massgeblichkeit der "gewöhnlichen, einer Bestimmung in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung" Art. 31 Abs. 1
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IR 0.111 Wiener Übereinkommen vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge (mit Anhang) VRK Art. 31 Allgemeine Auslegungsregel - (1) Ein Vertrag ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen. |
|
a | jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen; |
b | jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht; |
c | jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz. |
4.3.4 Eine teleologische Betrachtungsweise (Art. 31 Abs. 1
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IR 0.111 Wiener Übereinkommen vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge (mit Anhang) VRK Art. 31 Allgemeine Auslegungsregel - (1) Ein Vertrag ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen. |
|
a | jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen; |
b | jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht; |
c | jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz. |
4.3.5 In der Literatur wird zutreffend darauf hingewiesen, dass im Zeitpunkt des Entscheids über die Wahrnehmung des Freizügigkeitsrechts ein "gewisses Vertrauen auf die Möglichkeit des
BGE 147 II 35 S. 43
Verbleibs im Aufenthaltsstaat trotz beeinträchtigter Arbeitsfähigkeit" bestehen muss, damit von einem effektiven Freizügigkeitsrecht ausgegangen werden kann (so ASTRID EPINEY, Verbleiberecht aufgrund des FZA bei dauernder Arbeitsunfähigkeit, Kommentar zum Urteil 2C_134/2019 vom 12. November 2019, Der digitale Rechtsprechungs-Kommentar [dRSK], 22. Januar 2020, Rz. 11). Der Schutz des Vertrauens kann jedoch nicht soweit gehen, einen Arbeitnehmer von der Pflicht zur Suche einer neuen Arbeitsstelle zu befreien, wenn ihm die Aufnahme einer solchen Tätigkeit zugemutet werden kann (vgl. E. 4.3.4 hiervor).
Was das Argument des Beschwerdegegners angeht, der Begriff der "dauernden Arbeitsunfähigkeit" müsse im Kontext des europäischen Sozialmodells interpretiert werden, ist darauf hinzuweisen, dass vorliegend nicht die sozialversicherungsrechtliche Definition des Invaliditätsbegriffs in Frage steht, sondern die Konturierung des freizügigkeitsrechtlichen Daueraufenthaltsrechts. Für die Auslegung von Art. 2 Abs. 1 Bst. b Satz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 nicht von Belang sind insofern die vom Beschwerdegegner angerufenen Begrifflichkeiten des schweizerischen Sozialversicherungsrechts (vgl. in diesem Sinne auch EPINEY, a.a.O., Rz. 9) bzw. des "europäischen Sozialmodells". Soweit der Beschwerdegegner schliesslich das Diskriminierungsverbot (Art. 2
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IR 0.142.112.681 Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (mit Anhängen, Prot. und Schlussakte) FZA Art. 2 Nichtdiskriminierung - Die Staatsangehörigen einer Vertragspartei, die sich rechtmässig im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei aufhalten, werden bei der Anwendung dieses Abkommens gemäss den Anhängen I, II und III nicht auf Grund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert. |
4.4 Damit steht fest, dass die Vorinstanz den Begriff der "dauernden Arbeitsunfähigkeit" gemäss Art. 2 Abs. 1 Bst. b Satz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 unzutreffend ausgelegt hat. Daraus lässt sich jedoch nicht ableiten, dass A. nicht trotzdem gestützt auf diese Bestimmung ein Daueraufenthaltsrecht zukommen könnte. Nicht beantworten lässt sich aufgrund der vorinstanzlichen Feststellungen nämlich, ob ihm die Aufnahme einer neuen Erwerbstätigkeit in einem neuen Betätigungsfeld zugemutet werden kann; in diesem Zusammenhang darf durchaus auch berücksichtigt werden, inwiefern - auch angesichts der eingeschränkten Arbeitsfähigkeit und der baldigen Pensionierung von A. - überhaupt Aussichten darauf bestehen,
BGE 147 II 35 S. 44
dass er auf dem konkreten Arbeitsmarkt eine Stelle findet (vgl. E. 4.3.4 hiervor). Zur Abklärung dieser Tatfragen ist die Angelegenheit an die Vorinstanz zurückzuweisen.