Urteilskopf

143 V 431

45. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen IV-Stelle Basel-Stadt (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) 9C_535/2017 vom 14. Dezember 2017

Regeste (de):

Regeste (fr):

Regesto (it):


Sachverhalt ab Seite 432

BGE 143 V 431 S. 432

A. Die IV-Stelle Basel-Stadt sprach dem 1950 geborenen A. mit Verfügung vom 31. Juli 2007 eine ganze Invalidenrente ab 1. März 2005 zu (Invaliditätsgrad 81 %). Mit Mitteilungen vom 22. August 2008 und 7. Mai 2012 bestätigte sie einen unveränderten Anspruch. Aufgrund eines Hinweises des Amtes für Wirtschaft und Arbeit auf eine Erwerbstätigkeit des Versicherten sistierte die IV-Stelle die Rente am 28. Oktober 2013. Nach Abklärungen - insbesondere Observation des Versicherten und Einholung des Gutachtens der Academy of Swiss Insurance Medicine (asim) vom 19. März 2015 - und Durchführung des Vorbescheidverfahrens ermittelte die IV-Stelle einen seit Herbst 2008 verbesserten Gesundheitszustand und einen Invaliditätsgrad von nunmehr 39 %. Mit Verfügung vom 3. Oktober 2016 hob sie die Rente rückwirkend auf den 29. Oktober 2010 auf. Mit Verfügung vom 5. Oktober 2016 verpflichtete sie A., unrechtmässig bezogene Renten im Betrag von Fr. 45'632.- zurückzuerstatten.
B. Die gegen die Verfügungen vom 3. und 5. Oktober 2016 erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt mit Entscheid vom 16. Mai 2017 insofern ab, als es A. zur Rückerstattung von Fr. 43'144.- (Rentenbetreffnisse vom 1. Januar 2011 bis zum 31. Oktober 2013) verpflichtete.
C. A. lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, der Entscheid vom 16. Mai 2017 sowie die Verfügungen vom 3. und 5. Oktober 2016 seien aufzuheben; eventuell sei die Sache an die IV-Stelle oder das kantonale Gericht
BGE 143 V 431 S. 433

zurückzuweisen, damit die Invalidenrente neu festgelegt werde. Ferner ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege. Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung des Rechtsmittels. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

4.5

4.5.1 In BGE 138 V 457 E. 3.3 und 3.4 S. 461 f. entschied das Bundesgericht, dass sich der Zeitpunkt, in welchem die Frage nach der Verwertbarkeit der (Rest-)Arbeitsfähigkeit bei vorgerücktem Alter beantwortet wird, nach dem Feststehen der medizinischen Zumutbarkeit einer (Teil-)Erwerbstätigkeit richtet. Als ausgewiesen gilt die medizinische Zumutbarkeit einer (Teil-)Erwerbstätigkeit, sobald die medizinischen Unterlagen diesbezüglich eine zuverlässige Sachverhaltsfeststellung erlauben. Würde diese Rechtsprechung in concreto angewandt, müsste die Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit verneint werden, weil das asim-Gutachten nur rund fünf Monate vor Vollendung des 65. Altersjahres des Versicherten erstattet wurde. Damit kämen aber die Gesetzes- und Verordnungsvorschriften betreffend die Meldepflicht (nicht publ. E. 2.2) gar nicht zum Tragen resp. bliebe die Meldepflichtverletzung (nicht publ. E. 4.4) ohne Konsequenzen. Die erwähnte Rechtsprechung von BGE 138 V 457 - bei der es nicht um eine rückwirkende Rentenaufhebung ging - ist daher zu präzisieren. Mit Blick auf das Legalitätsprinzip (Art. 5 Abs. 1
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 5 Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns - 1 Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.
1    Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.
2    Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein.
3    Staatliche Organe und Private handeln nach Treu und Glauben.
4    Bund und Kantone beachten das Völkerrecht.
BV; vgl. auch Art. 190
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 190 Massgebendes Recht - Bundesgesetze und Völkerrecht sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend.
BV) und den Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 5 Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns - 1 Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.
1    Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.
2    Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein.
3    Staatliche Organe und Private handeln nach Treu und Glauben.
4    Bund und Kantone beachten das Völkerrecht.
BV) kann es nicht als bundesrechtswidrig erachtet werden, wenn bei einer Meldepflichtverletzung die Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit zu jenem Zeitpunkt beurteilt wird, in dem nach Art. 88bis Abs. 2 lit. b
SR 831.201 Verordnung vom 17. Januar 1961 über die Invalidenversicherung (IVV)
IVV Art. 88bis Wirkung - 1 Die Erhöhung der Renten, der Hilflosenentschädigungen und der Assistenzbeiträge erfolgt frühestens:392
1    Die Erhöhung der Renten, der Hilflosenentschädigungen und der Assistenzbeiträge erfolgt frühestens:392
a  sofern der Versicherte die Revision verlangt, von dem Monat an, in dem das Revisionsbegehren gestellt wurde;
b  bei einer Revision von Amtes wegen von dem für diese vorgesehenen Monat an;
c  falls festgestellt wird, dass der Beschluss der IV-Stelle zum Nachteil des Versicherten zweifellos unrichtig war, von dem Monat an, in dem der Mangel entdeckt wurde.393
2    Die Herabsetzung oder Aufhebung der Renten, der Hilflosenentschädigungen und der Assistenzbeiträge erfolgt:394
a  frühestens vom ersten Tag des zweiten der Zustellung der Verfügung folgenden Monats an;
b  rückwirkend ab Eintritt der für den Anspruch erheblichen Änderung, wenn der Bezüger die Leistung zu Unrecht erwirkt hat oder der ihm nach Artikel 77 zumutbaren Meldepflicht nicht nachgekommen ist, unabhängig davon, ob die Verletzung der Meldepflicht oder die unrechtmässige Erwirkung ein Grund für die Weiterausrichtung der Leistung war.
IVV (SR 831.201) die Herabsetzung resp. Aufhebung der Rente in Betracht fällt. In concreto trifft dies (spätestens) Ende Oktober 2010 (nicht publ. E. 4.3.2) zu.
4.5.2 Zu diesem Zeitpunkt war der Beschwerdeführer etwas über 60 Jahre alt; bis zum Erreichen des AHV-Pensionsalters verblieb ihm somit eine Aktivitätsdauer von noch fast fünf Jahren. Dies schliesst die Verwertbarkeit der verbleibenden Restarbeitsfähigkeit für sich alleine nicht aus (Urteil 9C_505/2016 vom 6. Juli 2017 E. 4.1 mit Hinweis). Die gesundheitlichen Einschränkungen (vgl. nicht publ.
BGE 143 V 431 S. 434

E. 4.2) stellen keine hohen Anforderungen an einen Arbeitsplatz auf dem (hier massgeblichen) ausgeglichenen Arbeitsmarkt. Der Versicherte war bisher nicht ausschliesslich als Chauffeur tätig: Er war Verwaltungsratspräsident der C. AG (nicht publ. E. 4.1.2) sowie Gesellschafter und Geschäftsführer der 2011 zusammen mit seiner Ehefrau gegründeten E. GmbH mit Sitz in U., welche die Führung eines Lebensmittelgeschäfts sowie den Import von Lebensmitteln insbesondere aus den südlichen Ländern bezweckt. Als solcher organisierte er die Fahrten und Warentransporte nach resp. von Süditalien. Nach eigenen Angaben pflegte er dabei nicht nur zahlreiche Kundenkontakte, sondern oblag ihm auch die Erledigung der jeweiligen Zollformalitäten. Sodann erfordern die zumutbaren einfachen und repetitiven Tätigkeiten weder gute Sprachkenntnisse noch ein besonderes Bildungsniveau (SVR 2016 IV Nr. 21 S. 62, 9C_808/2015 E. 3.4.2). Unter den gegebenen Umständen (vgl. auch Urteil 9C_825/2016 vom 10. Juli 2017 E. 4.5) stellt es keine Rechtsverletzung dar, wenn das kantonale Gericht von der Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit ausgegangen ist.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 143 V 431
Datum : 14. Dezember 2017
Publiziert : 15. März 2018
Quelle : Bundesgericht
Status : 143 V 431
Sachgebiet : BGE - Sozialversicherungsrecht (bis 2006: EVG)
Gegenstand : Art. 16 ATSG; Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV; Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit bei Meldepflichtverletzung. Es ist nicht
Einordnung : Präzisierung der Rechtsprechung


Gesetzesregister
ATSG: 16
SR 830.1 Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)
ATSG Art. 16 Grad der Invalidität - Für die Bestimmung des Invaliditätsgrades wird das Erwerbseinkommen, das die versicherte Person nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung der medizinischen Behandlung und allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihr zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das sie erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre.
BV: 5 
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 5 Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns - 1 Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.
1    Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.
2    Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein.
3    Staatliche Organe und Private handeln nach Treu und Glauben.
4    Bund und Kantone beachten das Völkerrecht.
190
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 190 Massgebendes Recht - Bundesgesetze und Völkerrecht sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend.
IVV: 88bis
SR 831.201 Verordnung vom 17. Januar 1961 über die Invalidenversicherung (IVV)
IVV Art. 88bis Wirkung - 1 Die Erhöhung der Renten, der Hilflosenentschädigungen und der Assistenzbeiträge erfolgt frühestens:392
1    Die Erhöhung der Renten, der Hilflosenentschädigungen und der Assistenzbeiträge erfolgt frühestens:392
a  sofern der Versicherte die Revision verlangt, von dem Monat an, in dem das Revisionsbegehren gestellt wurde;
b  bei einer Revision von Amtes wegen von dem für diese vorgesehenen Monat an;
c  falls festgestellt wird, dass der Beschluss der IV-Stelle zum Nachteil des Versicherten zweifellos unrichtig war, von dem Monat an, in dem der Mangel entdeckt wurde.393
2    Die Herabsetzung oder Aufhebung der Renten, der Hilflosenentschädigungen und der Assistenzbeiträge erfolgt:394
a  frühestens vom ersten Tag des zweiten der Zustellung der Verfügung folgenden Monats an;
b  rückwirkend ab Eintritt der für den Anspruch erheblichen Änderung, wenn der Bezüger die Leistung zu Unrecht erwirkt hat oder der ihm nach Artikel 77 zumutbaren Meldepflicht nicht nachgekommen ist, unabhängig davon, ob die Verletzung der Meldepflicht oder die unrechtmässige Erwirkung ein Grund für die Weiterausrichtung der Leistung war.
BGE Register
138-V-457 • 143-V-431
Weitere Urteile ab 2000
9C_505/2016 • 9C_535/2017 • 9C_808/2015 • 9C_825/2016
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
iv-stelle • meldepflichtverletzung • basel-stadt • beschwerde in öffentlich-rechtlichen angelegenheiten • bundesgericht • entscheid • stelle • beendigung • versicherungsleistungsentzug • weiler • ausgeglichener arbeitsmarkt • frage • meldepflicht • bezogener • unentgeltliche rechtspflege • sprache • treu und glauben • wiese • sachverhalt • sachverhaltsfeststellung
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