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BGE-143-IV-441


Urteilskopf

143 IV 441

54. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau und A. (Beschwerde in Strafsachen) 6B_257/2017 vom 9. November 2017

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Regesto (it):


Sachverhalt ab Seite 441

BGE 143 IV 441 S. 441

A. Das Bezirksgericht Zofingen erklärte X. am 16. Juli 2015 des Angriffs, der falschen Anschuldigung, der missbräuchlichen Verwendung von Ausweisen, des mehrfachen Fahrens in fahrunfähigem Zustand, des mehrfachen Führens eines Motorfahrzeugs ohne Führerausweis, der mehrfachen groben Verletzung der Verkehrsregeln
BGE 143 IV 441 S. 442

und der einfachen Verletzung der Verkehrsregeln schuldig. Es verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten und einer Busse von Fr. 300.-. Zudem widerrief es den mit Urteil des Kreisgerichts VIII Bern-Laupen vom 1. April 2009 für 17 Monate gewährten bedingten Vollzug einer Freiheitsstrafe von 26 Monaten. Auf Berufung von X. hin bestätigte das Obergericht des Kantons Aargau am 14. November 2016 das bezirksgerichtliche Urteil. Das Obergericht hält u.a. folgenden Sachverhalt für erwiesen: X. und ca. drei unbekannte Täter schlugen am 9. Mai 2013 nach einer verbalen Auseinandersetzung mehrfach mit Fäusten auf A. ein. Dieser wehrte sich dabei nicht und verhielt sich passiv. Einer der unbekannten Täter stiess sodann gegen dessen Oberkörper, so dass er zu Boden fiel. Anschliessend traten zumindest die unbekannten Täter mehrfach gegen seinen Körper. A. erlitt dadurch eine Nasenbeinfraktur, drei Rissquetschwunden im Gesicht und Schürfwunden sowohl an der rechten Schulter als auch an beiden Ellbogen.
B. X. führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 14. November 2016 sei aufzuheben. Er sei vom Vorwurf des Angriffs freizusprechen und mit einer Geldstrafe von 240 Tagessätzen zu Fr. 20.- zu bestrafen. Auf den Widerruf des bedingten Teils der Freiheitsstrafe des Urteils des Kreisgerichts VIII Bern-Laupen vom 1. April 2009 sei zu verzichten. Eventualiter sei das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an das Obergericht zurückzuweisen. X. ersucht um unentgeltliche Rechtspflege.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Der Beschwerdeführer rügt sodann eine Verletzung von Art. 46 Abs. 5
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 46 - 1 Begeht der Verurteilte während der Probezeit ein Verbrechen oder Vergehen und ist deshalb zu erwarten, dass er weitere Straftaten verüben wird, so widerruft das Gericht die bedingte Strafe oder den bedingten Teil der Strafe. Sind die widerrufene und die neue Strafe gleicher Art, so bildet es in sinngemässer Anwendung von Artikel 49 eine Gesamtstrafe.40
StGB. Der bedingte Vollzug für die 17 Monate Freiheitsstrafe, welcher ihm mit Urteil des Kreisgerichts VIII Bern-Laupen vom 1. April 2009 gewährt worden sei, habe nur bis am 1. Oktober 2016 widerrufen werden können. Der von der Vorinstanz am 14. November 2016 angeordnete Widerruf sei nicht zulässig.
2.2 Nach Art. 46 Abs. 5
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 46 - 1 Begeht der Verurteilte während der Probezeit ein Verbrechen oder Vergehen und ist deshalb zu erwarten, dass er weitere Straftaten verüben wird, so widerruft das Gericht die bedingte Strafe oder den bedingten Teil der Strafe. Sind die widerrufene und die neue Strafe gleicher Art, so bildet es in sinngemässer Anwendung von Artikel 49 eine Gesamtstrafe.40
StGB darf der Widerruf einer bedingten Strafe nicht mehr angeordnet werden, wenn seit dem Ablauf der Probezeit drei Jahre vergangen sind. Die mit Urteil des Kreisgerichts
BGE 143 IV 441 S. 443

VIII Bern-Laupen vom 1. April 2009 angesetzte Probezeit von drei Jahren wurde mit Urteil des Gerichtskreises V Burgdorf-Fraubrunnen vom 1. Juni 2010 um ein Jahr und mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland vom 14. November 2012 um weitere sechs Monate verlängert. Der Beschwerdeführer und die Vorinstanz sind sich einig, dass die Probezeit von insgesamt viereinhalb Jahren grundsätzlich bis am 1. Oktober 2013 lief und die dreijährige Widerrufsfrist von Art. 46 Abs. 5
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 46 - 1 Begeht der Verurteilte während der Probezeit ein Verbrechen oder Vergehen und ist deshalb zu erwarten, dass er weitere Straftaten verüben wird, so widerruft das Gericht die bedingte Strafe oder den bedingten Teil der Strafe. Sind die widerrufene und die neue Strafe gleicher Art, so bildet es in sinngemässer Anwendung von Artikel 49 eine Gesamtstrafe.40
StGB demnach am 1. Oktober 2016 verstrich. Massgebend für die Einhaltung dieser Frist ist das Urteil der Berufungsinstanz, welches das erstinstanzliche Urteil vom 16. Juli 2015 auch betreffend den Widerruf ersetzt (vgl. Art. 408
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 408 Neues Urteil - 1 Tritt das Berufungsgericht auf die Berufung ein, so fällt es ein neues Urteil, welches das erstinstanzliche Urteil ersetzt.
StPO; Urteil 6B_114/2013 vom 1. Juli 2013 E. 7). Das Urteil der Berufungsinstanz erging am 14. November 2016 und damit nach dem 1. Oktober 2016. Die mit Urteil des Kreisgerichts VIII Bern-Laupen vom 1. April 2009 angeordnete Freiheitsstrafe von 26 Monaten war allerdings eine teilbedingte. Die Vorinstanz geht davon aus, dass bei teilbedingten Freiheitsstrafen die entsprechende Probezeit zwar mit der Eröffnung des Urteils zu laufen beginnt, jedoch ab Eintritt des Täters in den Strafvollzug bis zu seiner Entlassung aus diesem ruht. Da sich der Beschwerdeführer nach Eröffnung des Urteils des Kreisgerichts VIII Bern-Laupen während 224 Tagen im Strafvollzug befunden habe, habe die Widerrufsfrist in dieser Zeit geruht und sei am 14. November 2016 noch nicht abgelaufen.
2.3 Ob die Probezeit bei teilbedingten Strafen erst mit der Entlassung aus dem Strafvollzug beginnen soll, hat das Bundesgericht zuletzt offengelassen (Urteil 6B_934/2015 vom 5. April 2016 E. 5.4). Die Lehre spricht sich überwiegend für eine "Suspendierung" während des unbedingt zu vollziehenden Teils der teilbedingten Freiheitsstrafe oder für einen Beginn der Probezeit erst ab Entlassung aus (vgl. SCHNEIDER/GARRÉ, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 3. Aufl. 2013, N. 9 zu Art. 44
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 44 - 1 Schiebt das Gericht den Vollzug einer Strafe ganz oder teilweise auf, so bestimmt es dem Verurteilten eine Probezeit von zwei bis fünf Jahren.
StGB; TRECHSEL/PIETH, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, N. 5 zu Art. 44
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 44 - 1 Schiebt das Gericht den Vollzug einer Strafe ganz oder teilweise auf, so bestimmt es dem Verurteilten eine Probezeit von zwei bis fünf Jahren.
StGB; ERWIN LEUENBERGER, Teilbedingte und kombinierte Sanktionen - der Richter als Gesetzgeber?, in: Das revidierte StGB, Allgemeiner Teil, Erste Erfahrungen, Tag/Hauri [Hrsg.], 2008, S. 83 f.; GEORGES GREINER, Bedingte und teilbedingte Strafen, Strafzumessung, in: Zur Revision des Allgemeinen Teils des Schweizerischen Strafrechts und zum neuen materiellen Jugendstrafrecht, Bänziger/Hubschmid/Sollberger [Hrsg.], 2. Aufl. 2006, S. 125; CP, Code pénal, Dupuis und andere [Hrsg.], 2. Aufl. 2017, N. 3 zu Art. 44
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 44 - 1 Schiebt das Gericht den Vollzug einer Strafe ganz oder teilweise auf, so bestimmt es dem Verurteilten eine Probezeit von zwei bis fünf Jahren.
StGB;
BGE 143 IV 441 S. 444

MARKUS HUG, in: StGB, Kommentar, 19. Aufl. 2013, N. 1 zu Art. 44
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 44 - 1 Schiebt das Gericht den Vollzug einer Strafe ganz oder teilweise auf, so bestimmt es dem Verurteilten eine Probezeit von zwei bis fünf Jahren.
StGB; SCHWARZENEGGER/HUG/JOSITSCH, Strafen und Massnahmen, 8. Aufl. 2007, S. 142; STRATENWERTH/WOHLERS, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Handkommentar, 3. Aufl. 2013, N. 3 zu Art. 44
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 44 - 1 Schiebt das Gericht den Vollzug einer Strafe ganz oder teilweise auf, so bestimmt es dem Verurteilten eine Probezeit von zwei bis fünf Jahren.
StGB; a.M. ANDRÉ KUHN, in: Commentaire romand, Code pénal, Bd. I, 2009, N. 10 ff. zu Art. 44
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 44 - 1 Schiebt das Gericht den Vollzug einer Strafe ganz oder teilweise auf, so bestimmt es dem Verurteilten eine Probezeit von zwei bis fünf Jahren.
StGB). Begründen lässt sich diese Auffassung vorwiegend damit, dass der Täter nur in Freiheit die Gelegenheit hat, das in ihn gesetzte Vertrauen nicht zu enttäuschen bzw. sich ungehindert zu bewähren. Zwar besteht auch während des Vollzugs einer Freiheitsstrafe die Möglichkeit, straffällig zu werden. Dies ist aber nur eingeschränkt und je nach Art des Vollzugs für gewisse Delikte gar nicht möglich. Das Gericht kann eine Freiheitsstrafe von mindestens einem und höchstens drei Jahren teilweise aufschieben. Der unbedingt zu vollziehende Teil darf die Hälfte der Strafe nicht übersteigen (Art. 43 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 43 - 1 Das Gericht kann den Vollzug einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr und höchstens drei Jahren teilweise aufschieben, wenn dies notwendig ist, um dem Verschulden des Täters genügend Rechnung zu tragen.37
und 2
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 43 - 1 Das Gericht kann den Vollzug einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr und höchstens drei Jahren teilweise aufschieben, wenn dies notwendig ist, um dem Verschulden des Täters genügend Rechnung zu tragen.37
StGB). Daraus resultiert, dass der unbedingt zu vollziehende Teil höchstens eineinhalb Jahre betragen kann. Die Probezeit beträgt zwischen zwei und fünf Jahren (Art. 44 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 44 - 1 Schiebt das Gericht den Vollzug einer Strafe ganz oder teilweise auf, so bestimmt es dem Verurteilten eine Probezeit von zwei bis fünf Jahren.
StGB). Mit einer undifferenzierten Behandlung des Laufes der Probezeit für den bedingten Teil einer Freiheitsstrafe würde es etwa in Fällen, in welchen das Gericht bei zweijähriger Probezeit den unbedingt zu vollziehenden Teil einer Freiheitsstrafe auf eineinhalb Jahre festsetzt und in welchen der Täter zudem erst nach einem halben Jahr nach der Urteilseröffnung seine Freiheitsstrafe antritt, dazu kommen, dass die Probezeit bereits vor dem Zeitpunkt der Entlassung aus dem Vollzug endet. Damit würde den teilbedingten Strafen der Sinn entzogen. Bei teilbedingten Strafen ist daher während des Vollzugs des unbedingt zu vollziehenden Teils der Strafe der Lauf der Probezeit gesondert zu berücksichtigen bzw. es ist davon auszugehen, dass die Probezeit von Gesetzes wegen um die Zeit des Strafvollzugs verlängert wird.
2.4 Damit war die Widerrufsfrist nach Art. 46 Abs. 5
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 46 - 1 Begeht der Verurteilte während der Probezeit ein Verbrechen oder Vergehen und ist deshalb zu erwarten, dass er weitere Straftaten verüben wird, so widerruft das Gericht die bedingte Strafe oder den bedingten Teil der Strafe. Sind die widerrufene und die neue Strafe gleicher Art, so bildet es in sinngemässer Anwendung von Artikel 49 eine Gesamtstrafe.40
StGB im Zeitpunkt des vorinstanzlichen Urteils noch nicht abgelaufen, da die Probezeit um die Dauer des Vollzugs des unbedingt zu vollziehenden Teils der teilbedingten Freiheitsstrafe verlängert wurde.
143 IV 441 09. November 2017 08. März 2018 Bundesgericht 143 IV 441 BGE - Strafrecht und Strafvollzug

Gegenstand Art. 44 Abs. 1 und Art. 46 Abs. 5 StGB; Probezeit bei teilbedingten Freiheitsstrafen. Bei teilbedingten Freiheitsstrafen

Gesetzesregister
StGB 43
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 43 - 1 Das Gericht kann den Vollzug einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr und höchstens drei Jahren teilweise aufschieben, wenn dies notwendig ist, um dem Verschulden des Täters genügend Rechnung zu tragen.37
StGB 44
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 44 - 1 Schiebt das Gericht den Vollzug einer Strafe ganz oder teilweise auf, so bestimmt es dem Verurteilten eine Probezeit von zwei bis fünf Jahren.
StGB 46
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 46 - 1 Begeht der Verurteilte während der Probezeit ein Verbrechen oder Vergehen und ist deshalb zu erwarten, dass er weitere Straftaten verüben wird, so widerruft das Gericht die bedingte Strafe oder den bedingten Teil der Strafe. Sind die widerrufene und die neue Strafe gleicher Art, so bildet es in sinngemässer Anwendung von Artikel 49 eine Gesamtstrafe.40
StPO 408
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 408 Neues Urteil - 1 Tritt das Berufungsgericht auf die Berufung ein, so fällt es ein neues Urteil, welches das erstinstanzliche Urteil ersetzt.
BGE Register
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