BGE-142-III-612
Urteilskopf
142 III 612
76. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen B. (Beschwerde in Zivilsachen) 5A_991/2015 vom 29. September 2016
Regeste (de):
- Art. 176 Abs. 3
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 176 - 1 Ist die Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes begründet, so muss das Gericht auf Begehren eines Ehegatten:
- Zum Obhutsbegriff im revidierten Sorgerecht (E. 4.1). Ob die alternierende Obhut voraussichtlich dem Wohl des Kindes entspricht, hat der Richter im konkreten Einzelfall gestützt auf eine sachverhaltsbasierte Prognose zu prüfen (E. 4.2). Zu den verschiedenen Kriterien, auf die es bei dieser Beurteilung ankommt (E. 4.3). Fällt eine alternierende Obhut ausser Betracht, ist zusätzlich die Fähigkeit eines jeden Elternteils zu würdigen, den Kontakt zwischen dem Kind und dem andern Elternteil zu fördern (E. 4.4). Zur Prüfungsbefugnis des Bundesgerichts (E. 4.5).
Regeste (fr):
- Art. 176 al. 3 CC; litige portant sur l'instauration de la garde exclusive ou alternée dans le cadre d'une procédure de mesures protectrices de l'union conjugale.
- Notion de garde dans le droit révisé de l'autorité parentale (consid. 4.1). Le point de savoir si l'instauration de la garde alternée est prévisiblement conforme au bien de l'enfant doit être examiné sur la base des circonstances du cas d'espèce (consid. 4.2). Critères déterminants pour procéder à cet examen (consid. 4.3). Lorsque l'instauration d'une garde alternée n'entre pas en considération, le juge doit examiner, en sus, la capacité de chaque parent à favoriser les contacts entre l'enfant et l'autre parent (consid. 4.4). Pouvoir d'examen du Tribunal fédéral (consid. 4.5).
Regesto (it):
- Art. 176 cpv. 3 CC; controversia vertente sull'istituzione della custodia esclusiva o alternata nel quadro di una procedura di protezione dell'unione coniugale.
- Nozione di custodia nel riveduto diritto sull'autorità parentale (consid. 4.1). La questione a sapere se la custodia alternata sia presumibilmente conforme al bene del figlio deve essere valutata sulla base di una previsione fondata sulla fattispecie concreta (consid. 4.2). Criteri determinanti per procedere a tale esame (consid. 4.3). Quando l'istituzione di una custodia alternata non entra in considerazione, il giudice deve esaminare, in più, la capacità di ciascun genitore di favorire i contatti tra il figlio e l'altro genitore (consid. 4.4). Potere d'esame del Tribunale federale (consid. 4.5).
Sachverhalt ab Seite 613
BGE 142 III 612 S. 613
A. A. (geb. 1975) und B. (geb. 1982) sind die verheirateten Eltern von C. (geb. 2007). Mit Eingabe vom 17. Oktober 2014 ersuchte die Mutter das Bezirksgericht Kreuzlingen um Erlass von Eheschutzmassnahmen. Soweit vor Bundesgericht noch relevant, verlangten beide Eltern je die alleinige elterliche Obhut über ihren Sohn. Der Vater stellte ausserdem den Eventualantrag, die wechselseitige Obhut über C. beiden Parteien in dem Sinne zuzusprechen, dass sich das Kind jede alternierende Woche bei einem der beiden Elternteile aufhalten soll.
B. Mit Blick auf weitere Abklärungen vertraute das Bezirksgericht C. am 13. Januar 2016 "superprovisorisch" der Obhut der Mutter an, verbunden mit einem Besuchsrecht für den Vater. Sowohl den Antrag des Vaters, die wechselseitige Obhut anzuordnen, als auch denjenigen der Mutter, das Besuchsrecht vorläufig auszusetzen, wies das Bezirksgericht ab. Im Eheschutzverfahren regelte es mit Entscheid vom 15. Juni 2015 das Getrenntleben und übertrug die Obhut über C. der Mutter. Das Besuchs- und Ferienrecht des Vaters bestand darin, dass der Sohn zwei von drei Wochenenden sowie die Zeit von Mittwochabend bis Donnerstagvormittag (Schulbeginn) beim Vater verbringen sollte. Auf Berufung des Vaters hin bestätigte das Obergericht des Kantons Thurgau am 21. Oktober 2015 den bezirksgerichtlichen Entscheid.
C. Vor Bundesgericht hält A. (Beschwerdeführer) an der alternierenden Obhut fest. Er stellt ein ausführliches Begehren zur Art und Weise, wie die wöchentlichen Betreuungszeiten, die Ferien und die Feiertage zu regeln seien. Ferner stellt er Anträge betreffend seine Unterhaltspflicht. Eventualiter verlangt er, das vorinstanzliche Urteil aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. B. (Beschwerdegegnerin) und die Vorinstanz schliessen auf Abweisung der Beschwerde. (Zusammenfassung)
BGE 142 III 612 S. 614
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
4. Der Streit dreht sich zunächst um die Frage, ob den Parteien die Obhut über C. alternierend zu überlassen ist. Zur alternierenden Obhut ist grundlegend festzuhalten, was folgt:
4.1 Haben die Eltern, die zur Regelung des Getrenntlebens das Gericht anrufen, minderjährige Kinder, so trifft das Gericht gemäss Art. 176 Abs. 3

SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 176 - 1 Ist die Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes begründet, so muss das Gericht auf Begehren eines Ehegatten: |

SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 296 - 1 Die elterliche Sorge dient dem Wohl des Kindes. |

SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 301a - 1 Die elterliche Sorge schliesst das Recht ein, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen. |

SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 298 - 1 In einem Scheidungs- oder Eheschutzverfahren überträgt das Gericht einem Elternteil die alleinige elterliche Sorge, wenn dies zur Wahrung des Kindeswohls nötig ist. |

SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 176 - 1 Ist die Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes begründet, so muss das Gericht auf Begehren eines Ehegatten: |
4.2 Auch wenn die gemeinsame elterliche Sorge nunmehr die Regel ist (Art. 296 Abs. 2

SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 296 - 1 Die elterliche Sorge dient dem Wohl des Kindes. |

SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 301a - 1 Die elterliche Sorge schliesst das Recht ein, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen. |
BGE 142 III 612 S. 615
vom 26. Mai 2015 E. 4.4.3). Unabhängig davon, ob sich die Eltern auf eine alternierende Obhut geeinigt haben, muss der mit dieser Frage befasste Richter prüfen, ob dieses Betreuungsmodell möglich und mit dem Wohl des Kindes vereinbar ist (vgl. Urteil 5A_527/2015 vom 6. Oktober 2015 E. 4). Denn nach der Rechtsprechung gilt das Kindeswohl als oberste Maxime des Kindesrechts (BGE 141 III 328 E. 5.4 S. 340); es ist für die Regelung des Eltern-Kind-Verhältnisses demnach immer der entscheidende Faktor, während die Interessen und Wünsche der Eltern in den Hintergrund zu treten haben (BGE 131 III 209 E. 5 S. 212). Wohl finden sich in der Kinderpsychologie verschiedene Meinungen zum Thema, die sich mehr oder weniger absolut für oder gegen dieses Betreuungsmodell aussprechen. Allein aus kinderpsychologischen Studien lassen sich für die Beurteilung im konkreten Fall indessen kaum zuverlässige Schlüsse ziehen. Denn naturgemäss integrieren die verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen nicht alle Parameter, die im Einzelfall eine Rolle spielen (s. dazu JOSEPH SALZGEBER, Die Diskussion um die Einführung des Wechselmodells als Regelfall der Kindesbetreuung getrennt lebender Eltern aus Sicht der Psychologie, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht [FamRZ] 2015 S. 2018 ff.). Ob die alternierende Obhut überhaupt in Frage kommt und ob sie sich mit dem Kindeswohl verträgt, hängt demnach von den konkreten Umständen ab. Das bedeutet, dass der Richter gestützt auf festgestellte Tatsachen der Gegenwart und der Vergangenheit eine sachverhaltsbasierte Prognose darüber zu stellen hat, ob die alternierende Obhut als Betreuungslösung aller Voraussicht nach dem Wohl des Kindes entspricht.
4.3 Unter den Kriterien, auf die es bei dieser Beurteilung ankommt, ist zunächst die Erziehungsfähigkeit der Eltern hervorzuheben, und zwar in dem Sinne, dass die alternierende Obhut grundsätzlich nur dann in Frage kommt, wenn beide Eltern erziehungsfähig sind. Weiter erfordert die alternierende Obhut organisatorische Massnahmen und gegenseitige Informationen. Insofern setzt die praktische Umsetzung einer alternierenden Betreuung voraus, dass die Eltern fähig und bereit sind, in den Kinderbelangen miteinander zu kommunizieren und zu kooperieren. Allein aus dem Umstand, dass ein Elternteil sich einer alternierenden Betreuungsregelung widersetzt, kann indessen nicht ohne Weiteres auf eine fehlende Kooperationsfähigkeit der Eltern geschlossen werden, die einer alternierenden Obhut im Wege steht. Ein derartiger Schluss könnte nur dort in Betracht fallen,
BGE 142 III 612 S. 616
wo die Eltern aufgrund der zwischen ihnen bestehenden Feindseligkeiten auch hinsichtlich anderer Kinderbelange nicht zusammenarbeiten können, mit der Folge, dass sie ihr Kind im Szenario einer alternierenden Obhut dem gravierenden Elternkonflikt in einer Weise aussetzen würden, die seinen Interessen offensichtlich zuwiderläuft. Zu berücksichtigen ist ferner die geographische Situation, namentlich die Distanz zwischen den Wohnungen der beiden Eltern, und die Stabilität, welche die Weiterführung der bisherigen Regelung für das Kind gegebenenfalls mit sich bringt. In diesem Sinne fällt die alternierende Obhut eher in Betracht, wenn die Eltern das Kind schon vor ihrer Trennung abwechselnd betreuten. Weitere Gesichtspunkte sind die Möglichkeit der Eltern, das Kind persönlich zu betreuen, das Alter des Kindes, seine Beziehungen zu (Halb- oder Stief-)Geschwistern und seine Einbettung in ein weiteres soziales Umfeld (vgl. Urteile 5A_46/2015 vom 26. Mai 2015 E. 4.4.2 und 4.4.5; 5A_345/2014 vom 4. August 2014 E. 4.2). Auch dem Wunsch des Kindes ist Beachtung zu schenken, selbst wenn es bezüglich der Frage der Betreuungsregelung (noch) nicht urteilsfähig ist. Der Richter, der den Sachverhalt von Amtes wegen erforscht (Art. 296 Abs. 1

SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz ZPO Art. 296 Untersuchungs- und Offizialgrundsatz - 1 Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amtes wegen. |
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1 | Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amtes wegen. |
2 | Zur Aufklärung der Abstammung haben Parteien und Dritte an Untersuchungen mitzuwirken, die nötig und ohne Gefahr für die Gesundheit sind. Die Bestimmungen über die Verweigerungsrechte der Parteien und von Dritten sind nicht anwendbar. |
3 | Das Gericht entscheidet ohne Bindung an die Parteianträge. |

SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 314 - 1 Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar. |

SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 446 - 1 Die Erwachsenenschutzbehörde erforscht den Sachverhalt von Amtes wegen. |
4.4 Kommt der Richter zum Schluss, dass eine alternierende Obhut nicht im Kindeswohl ist, muss er entscheiden, welchem Elternteil er die Obhut über das Kind zuteilt. Dabei hat er im Wesentlichen die bereits erörterten Beurteilungskriterien zu berücksichtigen (s. E. 4.3). Zusätzlich hat er die Fähigkeit eines jeden Elternteils zu würdigen,
BGE 142 III 612 S. 617
den Kontakt zwischen dem Kind und dem andern Elternteil zu fördern.
4.5 Wie die vorigen Erwägungen zeigen, ist der Sachrichter, der die Parteien und die weitere Umgebung des Kindes am besten kennt, beim Entscheid über die Anordnung einer alternierenden Obhut in vielfacher Hinsicht auf sein Ermessen verwiesen (BGE 115 II 317 E. 2 und 3 S. 319; Urteile 5A_848/2014 vom 4. Mai 2015 E. 2.1.2; 5A_976/2014 vom 30. Juli 2015 E. 2.4; 5A_266/2015 vom 24. Juni 2015 E. 4.2.2.2). Bei der Überprüfung dieses Ermessensentscheids auferlegt sich das Bundesgericht Zurückhaltung. Es schreitet nur ein, wenn die kantonale Instanz von ihrem Ermessen offensichtlich falschen Gebrauch gemacht hat. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn sie Gesichtspunkte berücksichtigt hat, die keine Rolle hätten spielen dürfen, wenn sie umgekehrt rechtserhebliche Umstände ausser Acht gelassen hat oder wenn sich der Ermessensentscheid im Ergebnis als offensichtlich unbillig oder ungerecht erweist (BGE 136 III 278 E. 2.2.1 S. 279; BGE 135 III 121 E. 2; BGE 133 III 201 E. 5.4 S. 211). Was das vorliegende Verfahren angeht, ist überdies zu beachten, dass der Beschwerdeführer nur die Verletzung verfassungsmässiger Rechte rügen kann (nicht publ. E. 2). (...)