138 III 261
40. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. E. gegen F. (Beschwerde in Zivilsachen) 4A_720/2011 vom 15. März 2012
Regeste (de):
- Verweigerung der Anerkennung einer ausländischen Entscheidung wegen Unvereinbarkeit mit Urteilen, die in der Schweiz ergangen sind (Art. 27 Ziff. 3 aLugÜ; Art. 34
Nr. 3 LugÜ).
- Die Unvereinbarkeit muss sich bei den Wirkungen der Entscheidungen zeigen. Dass die in der Schweiz erfolgte, nicht an der Rechtskraft teilnehmende Beurteilung einer Vorfrage von einer Vorfragebeurteilung der ausländischen Entscheidung abweicht, genügt nicht, um Unvereinbarkeit im Sinne von Art. 27 Ziff. 3
aLugÜ bzw. Art. 34
Nr. 3 LugÜ anzunehmen (E. 1).
Regeste (fr):
- Refus de reconnaître une décision étrangère inconciliable avec des jugements rendus en Suisse (art. 27 ch. 3 aCL; art. 34 par. 3 CL).
- L'incompatibilité doit apparaître dans les effets des décisions. Pour admettre le caractère inconciliable de deux décisions au sens de l'art. 27 ch. 3 aCL ou de l'art. 34 par. 3 CL, il ne suffit pas qu'une question soit tranchée à titre préjudiciel, sans autorité de la chose jugée, d'une manière différente dans la décision rendue en Suisse et dans la décision étrangère (consid. 1).
Regesto (it):
- Rifiuto di riconoscere una decisione estera perché in contrasto con decisioni emanate in Svizzera (art. 27 n. 3 CL; art. 34 par. 3 CLug).
- Il contrasto deve apparire negli effetti delle decisioni. Per riconoscere un contrasto nel senso dell'art. 27 n. 3 CL risp. 34 par. 3 CLug non è sufficiente che la decisione svizzera e quella estera valutino in modo diverso una questione pregiudiziale che non acquista forza di cosa giudicata (consid. 1).
Sachverhalt ab Seite 262
BGE 138 III 261 S. 262
Mit Strafurteil vom 3. Oktober 2008 verurteilte das Landgericht Paola (Italien) F. (Beschwerdegegner) wegen sexueller Übergriffe auf seinen Sohn zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren, sprach seiner Exfrau E. (Beschwerdeführerin), die als Privatklägerin aufgetreten war, Schadenersatz in der Höhe von 50'000 Euro zu und erklärte diese Summe für sofort vollstreckbar. Der Beschwerdegegner hat gegen dieses Urteil appelliert. Während der Einzelrichter des Kantonsgerichts Zug auf Antrag der Beschwerdeführerin das Urteil des Landgerichts Paola gemäss Art. 26 ff. und 31 ff. des Übereinkommens vom 16. September 1988 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (aLugÜ; AS 1991 2436) hinsichtlich des zugesprochenen Schadenersatzes von 50'000 Euro und der Parteientschädigung von 1'500 Euro anerkannte und für vollstreckbar erklärte, verweigerte das Obergericht des Kantons Zug die Anerkennung gestützt auf Art. 27 Ziff. 3 aLugÜ. Das Bundesgericht heisst die dagegen erhobene Beschwerde in Zivilsachen teilweise gut und weist die Sache an das Obergericht zurück, damit dieses die weiteren vom Beschwerdegegner gegen die Anerkennung erhobenen Einwände prüft. (Zusammenfassung)
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1. Die Vorinstanz erkannte unter Hinweis auf die Literatur, Art. 27 Ziff. 3 aLugÜ setze nicht voraus, dass die inländische Entscheidung in den Anwendungsbereich des Übereinkommens falle. Er setze weder eine Identität des Streitgegenstandes noch einen Rechtskraftkonflikt voraus; auch Widersprüche in der an der Rechtskraft nicht teilnehmenden Begründung könnten ausreichen. Es genüge, wenn die Entscheidungen Rechtsfolgen hätten, die sich gegenseitig ausschlössen. Auch auf die zeitliche Reihenfolge komme es nicht an (FRIDOLIN WALTHER, in: Kommentar zum Lugano-Übereinkommen [LugÜ], Dasser/Oberhammer [Hrsg.], 2. Aufl. 2011, N. 80 ff. zu Art. 34

BGE 138 III 261 S. 263
vom 2. Juni 1999 im Verfahren zwischen den Parteien betreffend vorsorgliche Massnahmen im Scheidungsverfahren gemäss aArt. 145


1.1 Gemäss Art. 27 Ziff. 3




1.2 Die in einem Vertragsstaat ergangene gerichtliche Entscheidung, durch die die Verurteilung zur Erfüllung eines Vertrags ausgesprochen wird, kann im ersuchten Staat abgelehnt werden, wenn eine Entscheidung eines Gerichts dieses Staates vorliegt, die die Unwirksamkeit oder die Auflösung desselben Vertrags ausspricht (Urteil des EuGH vom 8. Dezember 1987 144/86 Gubisch Maschinenfabrik gegen Palumbo, Slg. 1987 S. 4861 Randnr. 18). Der Bestand des Vertrages ist mit Bezug auf die Leistungsklage eine an der Rechtskraft
BGE 138 III 261 S. 264
des Leistungsurteils nicht teilnehmende Vorfrage. Entsprechend wird in der Lehre festgehalten, auch Widersprüche in den an der Rechtskraft nicht teilnehmenden Entscheidgründen könnten für eine Anwendung von Art. 27 Ziff. 3 aLugÜ genügen (WALTHER, a.a.O., N. 81 zu Art. 34



1.3 Die in der Schweiz ergangenen Urteile, zu denen die Vorinstanz einen Widerspruch erblickt, regeln die Ausgestaltung des Besuchs- und Ferienrechts, während das zu anerkennende der Beschwerdeführerin Schadenersatz zuspricht. Dass prozessrelevante Vorfragen wie der Vorwurf sexueller Übergriffe Einfluss auf das Ergebnis des Verfahrens haben, liegt in ihrer Natur. Die Regelung des Besuchsrechts gemäss schweizerischem Urteil schliesst aber die Zusprechung von Schadenersatz gemäss italienischem Urteil nicht aus. Es war nicht das Ziel der in der Schweiz ergangenen Entscheide, zwischen den Parteien die Frage, ob es zu sexuellen Übergriffen des Beschwerdegegners auf seinen Sohn gekommen ist, abschliessend zu klären. Die
BGE 138 III 261 S. 265
Entscheide im Scheidungsverfahren stünden auch in der Schweiz einer Strafverfolgung oder der Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen nicht entgegen. Dass solche je Gegenstand der in der Schweiz ergangenen Urteile waren, ist dem angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen. Die Differenzen zu dem zu anerkennenden Urteil betreffen somit ausschliesslich eine Vorfrage, über die in keinem der Urteile rechtskräftig entschieden worden ist, und damit nicht die Rechtsfolgen. Sie führen nicht zu unvereinbaren Wirkungen (DOMEJ/OBERHAMMER, a.a.O., N. 60 zu Art. 34
