137 V 162
22. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. SVA Aargau, Ausgleichskasse gegen H. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) 9C_150/2011 vom 3. Mai 2011
Regeste (de):
- Art. 43bis Abs. 4
AHVG; kein Wiederaufleben der Hilflosenentschädigung bei erneuter Erfüllung der entsprechenden Voraussetzungen.
- Besitzstandsgarantien im Sozialversicherungsrecht setzen eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage voraus. Art. 43bis Abs. 4
AHVG betrifft nicht Sachverhaltsänderungen. Ein Wiederaufleben zufolge Sachverhaltsänderung untergegangener Ansprüche ist gesetzlich nicht vorgesehen, weshalb der vormalige Anspruch auf Hilflosenentschädigung der AHV nicht wieder auflebt, selbst wenn die entsprechenden Voraussetzungen zu einem späteren Zeitpunkt erneut erfüllt werden (E. 2 und 3).
Regeste (fr):
- Art. 43bis al. 4 LAVS; pas de reprise du droit à l'allocation pour impotent lorsque les conditions du droit sont à nouveau remplies.
- En droit des assurances sociales, le principe de la garantie de la situation acquise nécessite une base légale expresse. L'art. 43bis al. 4 LAVS ne concerne pas les modifications de l'état de fait. La loi ne prévoit pas la reprise à la suite de la modification de l'état de fait du versement de prestations éteintes, si bien que le droit à l'allocation pour impotent de l'AVS ne renaît pas lorsque les conditions qui avaient originellement donné lieu à l'octroi de la prestation sont à nouveau remplies (consid. 2 et 3).
Regesto (it):
- Art. 43bis cpv. 4 LAVS; nessun risorgere del diritto all'assegno per grandi invalidi in caso di nuovo adempimento delle relative condizioni.
- Le garanzie dei diritti acquisiti nell'ambito del diritto delle assicurazioni sociali presuppongono una base legale esplicita. L'art. 43bis cpv. 4 LAVS non concerne modificazioni delle circostanze di fatto. Il risorgere di diritti decaduti in seguito a una modifica nello stato di fatto non è previsto dalla legge, ragione per cui il precedente diritto a un assegno per grandi invalidi dell'AVS non risorge, anche se in un momento successivo le relative condizioni fossero di nuovo adempiute (consid. 2 e 3).
Sachverhalt ab Seite 163
BGE 137 V 162 S. 163
A. H., geboren 1941, bezog bis zum Erreichen des AHV-Rentenalters am 1. April 2006 eine Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung für eine Hilflosigkeit schweren Grades, anschliessend richtete die AHV eine Leistung in gleicher Höhe aus. Am 1. November 2008 zog H. von der eigenen Wohnung in die Stiftung X. Die Sozialversicherungsanstalt Aargau, Ausgleichskasse (nachfolgend: SVA), verfügte bei weiterhin unbestrittenem Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung schweren Grades zufolge Änderung des Aufenthaltsortes am 26. März 2009 die Anpassung der Hilflosenentschädigung auf den halben Ansatz und forderte zu viel bezogene Leistungen zurück. Ab 1. Oktober 2009 wohnte H. wieder ausserhalb eines Heimes. Die SVA verfügte am 3. Februar 2010, es bestehe weiterhin Anspruch auf den halben Ansatz der Hilflosenentschädigung schweren Grades, weil sich H. im AHV-Alter befinde und der Besitzstand nach Verlassen des Heims nicht wieder aufleben könne. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 11. Mai 2010 fest.
B. In Gutheissung der hiegegen erhobene Beschwerde des H. hob das Versicherungsgericht des Kantons Aargau den Einspracheentscheid vom 11. Mai 2010 mit Entscheid vom 21. Dezember 2010 auf und sprach H. ab 1. Oktober 2009 den ganzen Ansatz der Hilflosenentschädigung zu.
C. Die SVA führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit folgenden Rechtsbegehren: "Es sei die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gutzuheissen und das Urteil des Versicherungsgerichtes des Kantons Aargau vom 21. Dezember 2010 aufzuheben. Es sei festzustellen, dass der Beschwerdegegner gemäss Verfügung vom 3. Februar 2010 ab 1. Oktober 2009 Anspruch auf den halben Ansatz der Hilflosenentschädigung hat.
BGE 137 V 162 S. 164
Es sei der vorliegenden Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu erteilen. Es seien die Kosten dem Beschwerdegegner aufzuerlegen."
H., vertreten durch den Rechtsdienst Integration Handicap, schliesst auf Abweisung der Beschwerde; dem Antrag um aufschiebende Wirkung widersetzt er sich nicht. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Vernehmlassung. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1 Die Vorinstanz erwog, der Wortlaut des Art. 43bis Abs. 4




2.2 Die Beschwerde führende Sozialversicherungsanstalt rügt, der angefochtene Entscheid verletze Bundesrecht. Die
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Besitzstandsgarantie wirke sich zeitlich auf den Ablösefall (von der IV zur AHV) aus und halte nur so lange an, wie die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt seien. Eine zufolge Sachverhaltsänderung erlassene neue Leistungsverfügung beruhe inhaltlich allein auf einer materiell-rechtlichen Anspruchsprüfung, aber nicht mehr auf besitzstandsrechtlichen Überlegungen. Ein Wiederaufleben widerspreche somit dem entscheidenden Gedanken, welcher dem Besitzstand nach Art. 43bis Abs. 4

3.
3.1 Nach Art. 43bis Abs. 4



3.2 Der Bundesrat führte nach den zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Entscheid in seiner Botschaft unter dem Titel "Verhältnis zur AHV" (BBl 2001 3249 Ziff. 2.3.1.5.4.1) aus, dass Personen, die bereits vor Eintritt ins AHV-Alter eine Assistenzentschädigung bezogen, denselben Betrag im AHV-Alter weiter erhalten sollten, "solange die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind (Besitzstand)". Daraus lässt sich indes nicht ableiten, nach Wegfall einer Voraussetzung - z.B. für den höheren Ansatz der Hilflosenentschädigung der ausserhalb eines Heimes wohnenden Versicherten - lebe der vormalige Anspruch bei deren erneuter Erfüllung zu einem späteren Zeitpunkt wieder auf. Sinn und Zweck der Besitzstandsgarantie gemäss Art. 43bis Abs. 4

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generellen Wesen von Besitzstandsgarantien, wonach eine (blosse) Rechtsänderung die unter bisherigem Recht erworbenen Rechtspositionen unberührt lassen soll, auch wenn sie dem neuen Recht nicht mehr entsprechen (vgl. z.B. Urteil I 714/06 vom 20. April 2007 E. 3.2; UELI KIESER, Besitzstand, Anwartschaften und wohlerworbene Rechte in der beruflichen Vorsorge, SZS 1999 S. 294 und 299). Im Sozialversicherungsrecht darf ein Besitzstand nur dann und soweit angenommen werden, als er im Gesetz ausdrücklich garantiert ist (BGE 118 V 1 E. 4a S. 4). Unter Berücksichtigung dieses Grundsatzes und weil eine anspruchserhebliche Sachverhaltsänderung (unabhängig davon, ob sie freiwillig erfolgte) nicht mit einer die Besitzstandswahrung auslösenden Rechtsänderung gleichgesetzt werden kann, ist eine einschränkende Auslegung des Art. 43bis Abs. 4


BGE 137 V 162 S. 167
Altersgrenze anspruchsrelevante Änderungen eintreten; vielmehr liegt diesfalls gar kein Anwendungsfall von Art. 43bis Abs. 4
