132 I 1
1. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. A. gegen B. sowie Kassationsgericht des Kantons Zürich (Staatsrechtliche Beschwerde) 4P.130/2005 vom 30. August 2005
Regeste (de):
- Art. 9
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 9 Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben - Jede Person hat Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür und nach Treu und Glauben behandelt zu werden.
- Die Postulationsfähigkeit ist Teil der Prozessfähigkeit. Die Postulationsfähigkeit fehlt, wenn eine Partei offensichtlich unfähig ist, ihre Sache selbst gehörig zu führen. Wenn eine Partei im Anschluss an die Klagebegründung und Klageantwort ausser Stande ist, vor Gericht die Replik bzw. Duplik zu erstatten, ist die betreffende Partei auch unfähig, gerichtliche Vergleichsverhandlungen sinnvoll zu führen (E. 3).
Regeste (fr):
- Art. 9 Cst., § 29 al. 2 CPC/ZH; capacité d'ester en justice et capacité d'accomplir les actes du procès.
- La capacité d'accomplir les actes du procès est un élément de la capacité d'ester en justice. Elle fait défaut lorsqu'une partie est manifestement incapable de procéder convenablement dans sa propre cause. Dans le cas où, aux débats, une partie se révèle hors d'état de développer sa réplique à la suite de la demande puis de la réponse, elle est aussi incapable de participer avec discernement à des pourparlers aboutissant à une transaction judiciaire (consid. 3).
Regesto (it):
- Art. 9 Cost., § 29 cpv. 2 CPC/ZH; capacità processuale e capacità di procedere con atti propri.
- La capacità di procedere con atti propri è parte della capacità processuale. La capacità di procedere con atti propri manca quando una parte non è manifestamente capace di condurre da sola in modo conveniente la causa. La parte, che dopo la petizione e la risposta non è in grado di formulare innanzi al tribunale una replica risp. una duplica, è pure incapace di condurre in modo sensato trattative per una transazione giudiziaria (consid. 3).
Sachverhalt ab Seite 2
BGE 132 I 1 S. 2
A. A. (Beschwerdeführer) war für B. (Beschwerdegegner) als Kellner im Restaurant X. in Uster tätig. Am 27. April 2004 erhob der Beschwerdeführer Klage beim Bezirksgericht Uster mit dem Antrag, der Beschwerdegegner sei zu verpflichten, ihm insgesamt Fr. 18'091.85 nebst 5 % Zins seit 1. Oktober 2003 zu bezahlen. Am 15. Juni 2004 wurde vor Bezirksgericht Uster die Hauptverhandlung durchgeführt. Nach der Klagebegründung und der Klageantwort wurde der anwaltlich nicht vertretene Beschwerdeführer aufgefordert, die Replik vorzutragen. Dazu war er offensichtlich unfähig, weshalb ihn der erstinstanzliche Richter gemäss § 29 Abs. 2 ZPO/ ZH aufforderte, sich um einen Anwalt zu bemühen. Trotz der vom Einzelrichter festgestellten Unfähigkeit des Beschwerdeführers, die Sache selbst gehörig zu führen, wurde die Hauptverhandlung nicht ausgesetzt, sondern eine Vergleichsverhandlung durchgeführt. Im Verlauf der Vergleichsgespräche schlossen die Parteien folgenden Vergleich: "1. Der Kläger zieht seine Klage zurück.
2. Die Parteien verzichten gegenseitig auf eine Prozessentschädigung. 3. Mit Vollzug dieser Vereinbarung erklären sich die Parteien als hinsichtlich sämtlicher gegenseitiger Ansprüche auseinandergesetzt." Mit Verfügung vom 15. Juni 2004 wurde dieser Vergleich vorgemerkt und das Verfahren als dadurch erledigt abgeschrieben.
B. Am Tag nach der Hauptverhandlung suchte der Beschwerdeführer einen Anwalt auf, der im Anschluss an die Besprechung mit
BGE 132 I 1 S. 3
dem Beschwerdeführer den Vergleich mit Schreiben vom 16. Juni 2004 an den Präsidenten des Bezirksgerichts Uster wegen Willensmängeln widerrief. Diese Eingabe wurde vom Bezirksgericht als Rekurs entgegengenommen und zusammen mit einer umfangreichen Vernehmlassung des zuständigen Richters ans Obergericht des Kantons Zürich übermittelt. Mit Beschluss vom 8. September 2004 wies das Obergericht den Rekurs ab.
C. Gegen diesen Beschluss erhob der Beschwerdeführer kantonale Nichtigkeitsbeschwerde ans Kassationsgericht des Kantons Zürich. Mit Sitzungsbeschluss vom 11. April 2005 wurde die Beschwerde abgewiesen, soweit darauf einzutreten war.
D. Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 17. Mai 2005 beantragt der Beschwerdeführer dem Bundesgericht, der Sitzungsbeschluss des Kassationsgerichts des Kantons Zürich vom 11. April 2005 sei aufzuheben. Weiter ersucht er für das Verfahren vor Bundesgericht um unentgeltliche Rechtspflege. Der Beschwerdegegner beantragt die Abweisung der staatsrechtlichen Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Das Kassationsgericht des Kantons Zürich hat auf eine Stellungnahme verzichtet.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1. Der erstinstanzliche Richter war nach der Klagebegründung und Klageantwort davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer nicht in der Lage sei, die Replik zu erstatten, weil ihm die Postulationsfähigkeit fehle. Dennoch führte der Richter sogleich im Anschluss an die Klagebegründung und Klageantwort mit dem nicht anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer eine Vergleichsverhandlung durch, die im Ergebnis mit einem Rückzug der Klage endete. Nach Auffassung des erstinstanzlichen Richters und des mit Rekurs angerufenen Obergerichts kann eine Partei, deren Prozessfähigkeit (§ 27 ZPO/ZH) zu bejahen ist, an Vergleichsgesprächen teilnehmen und einen Vergleich abschliessen, auch wenn es ihr an der Postulationsfähigkeit fehlt (§ 29 Abs. 2 ZPO/ZH). Auch das Kassationsgericht geht im angefochtenen Urteil von dieser Meinung aus. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass die Rechtswirksamkeit eines Vergleichs, die auch vom Beschwerdeführer nicht in Frage gestellte Prozessfähigkeit beschlage und nicht die vom erstinstanzlichen Richter verneinte
BGE 132 I 1 S. 4
Postulationsfähigkeit. Wer wie der Beschwerdeführer prozessfähig sei, könne frei und selbständig entscheiden, ob er einem konkreten Vergleich zustimmen wolle. Auch sei es ihm unbenommen, sich auf Vergleichsgespräche ganz allgemein nicht einzulassen oder zu erklären, dass er erst zu Gesprächen bereit sei, wenn er einen Anwalt konsultiert habe. Weiter führte das Kassationsgericht aus, entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers habe das Obergericht seine Begründungspflicht im Zusammenhang mit der Rüge, er sei gar nicht in der Lage gewesen, den langen Vergleichsgesprächen und den dabei gemachten Ausführungen zu folgen, nicht verletzt. Vielmehr habe es unter Hinweis auf die Eingabe des Vertreters des Beschwerdeführers vom 16. Juni 2004 festgehalten, dass der Beschwerdeführer offensichtlich in der Lage gewesen sei, seinen Anwalt detailliert zu instruieren.
2. Der Beschwerdeführer wirft dem Kassationsgericht eine falsche Anwendung von § 29 Abs. 2 ZPO/ZH vor. Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, die gehörige Führung von Vergleichsgesprächen setze die Fähigkeit voraus, den eigenen und den gegnerischen Standpunkt in materiell- und prozessrechtlicher Hinsicht umfassend beurteilen zu können. Da der erstinstanzliche Einzelrichter den Beschwerdeführer nicht dazu gebracht habe, eine verständliche mündliche Replik zu erstatten, obwohl er seine richterliche Fragepflicht wahrgenommen habe, sei nicht vorstellbar, wie der Beschwerdeführer seinen Standpunkt anlässlich der Vergleichsverhandlung gehörig habe vertreten können. Nachdem der erstinstanzliche Einzelrichter bereits die Replik des Beschwerdeführers nicht verstanden habe, sei auch nicht zu sehen, wie er dessen Standpunkt im Rahmen der Vergleichsverhandlung habe würdigen können. Indem das Verfahren aufgrund einer Vergleichsverhandlung, an welcher der Beschwerdeführer ohne den erforderlichen Rechtsbeistand teilgenommen habe, ohne materielle Anspruchsprüfung durch Vergleich erledigt worden sei, sei der Gehörsanspruch des Beschwerdeführers verletzt worden (Art. 29 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 29 Allgemeine Verfahrensgarantien - 1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist. |
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1 | Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist. |
2 | Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör. |
3 | Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand. |
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 29 Allgemeine Verfahrensgarantien - 1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist. |
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1 | Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist. |
2 | Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör. |
3 | Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand. |
BGE 132 I 1 S. 5
stellende Vergleichsgespräch zu führen, sei auch das Willkürverbot verletzt worden (Art. 9
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 9 Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben - Jede Person hat Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür und nach Treu und Glauben behandelt zu werden. |
3.
3.1 Unter dem Randtitel "Prozessfähigkeit" bestimmt § 27 ZPO/ ZH, dass eine Partei selbständig Prozesse führen kann, soweit sie handlungsfähig ist. Die Prozessfähigkeit ist die prozessuale Seite der zivilrechtlichen Handlungsfähigkeit. Demnach ist prozessfähig, wer mündig und urteilsfähig ist (Art. 13
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 13 - Die Handlungsfähigkeit besitzt, wer volljährig und urteilsfähig ist. |
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 12 - Wer handlungsfähig ist, hat die Fähigkeit, durch seine Handlungen Rechte und Pflichten zu begründen. |
3.2 Die Postulationsfähigkeit ist Teil der Prozessfähigkeit. Als Teil der Prozessfähigkeit setzt sie die Fähigkeit voraus, vor Gericht die im Prozessrecht vorgezeichneten Rechte wahrzunehmen, prozessuale Anträge zu stellen, schriftliche oder mündliche Parteivorträge zu halten etc. (EUGEN BUCHER, a.a.O., N. 26 zu Art. 12
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 12 - Wer handlungsfähig ist, hat die Fähigkeit, durch seine Handlungen Rechte und Pflichten zu begründen. |
3.3 Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass die Postulationsfähigkeit des Beschwerdeführers für die mündliche Erstattung der Replik anlässlich der Hauptverhandlung vom 15. Juni 2004 nicht gegeben war. Unstreitig ist auch, dass der Beschwerdeführer vom zuständigen Richter wegen offensichtlicher Unfähigkeit, seine Sache selbst gehörig zu führen, in Anwendung von § 29 Abs. 2 ZPO/ ZH aufgefordert wurde, einen Vertreter zu bestellen. Dieser Aufforderung konnte er allerdings nicht nachkommen, weil gleich anschliessend - das heisst vor der gehörigen Erstattung der Replik - Vergleichsverhandlungen aufgenommen wurden, die schliesslich mit dem Abschluss eines Vergleichs endeten. Das
BGE 132 I 1 S. 6
Kassationsgericht geht im Ergebnis davon aus, dass auch eine nicht postulations fähige Partei an Vergleichsverhandlungen mitwirken und einen Vergleich abschliessen kann, solange ihre Prozessfähigkeit zu bejahen sei. Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass der Beschwerdeführer in Bezug auf die Erstattung der Replik nicht postulationsfähig war. Er war offensichtlich unfähig, seine Sache selbst gehörig zu führen. Dabei ist die Fähigkeit, die eigene Sache gehörig zu führen, nicht nur isoliert bezogen auf die Erstattung der Replik zu beurteilen, sondern danach zu bemessen, ob die betreffende Partei fähig ist, ihre Sache als Ganzes gehörig zu führen (ZR 96/1997 S. 250 ff.). Wenn eine Partei "offensichtlich unfähig" ist, im Rahmen der Hauptverhandlung die Replik gehörig zu erstatten, dann ist anzunehmen, dass die gleiche Partei ebenso unfähig ist, die Vergleichsverhandlungen sinnvoll zu führen. Die Vergleichsgespräche stellen an Richter und Parteien hohe Anforderungen. Die Beteiligten müssen den Prozessstoff überblicken und in voller Kenntnis desselben zu den Streitpunkten Stellung nehmen können. Wenn eine Vergleichsverhandlung wie im vorliegenden Fall vor dem Abschluss des Behauptungsverfahrens durchgeführt wird, werden die Parteien zudem ihre Positionen, die sie in der Replik und Duplik vorgetragen hätten, in der Regel in modifizierter Form in die Vergleichsverhandlung einbringen. Die Mitwirkung der Parteien erschöpft sich somit nicht einzig in der Annahme oder Ablehnung eines Vergleichsvorschlages, für welchen Entscheid das Vorliegen der Prozessfähigkeit genügen könnte. Wenn der Richter den Beschwerdeführer für "offensichtlich unfähig" hält, nicht einmal mit Hilfe der richterlichen Befragung (§ 55 ZPO/ZH) die Replik zu er statten, kann keine Rede davon sein, dass die gleiche Partei ihre Position in den mindestens so anforderungsreichen Vergleichsverhandlungen ohne rechtskundige Vertretung wirksam zu vertreten vermag. Zumindest hätte unter diesen Umständen Anlass bestanden, den Vergleich mit einem Ratifikations- oder Widerrufsvorbehalt abzuschliessen, um der nicht postulationsfähigen Prozesspartei wenigstens die Möglichkeit einer nachträglichen Rechtsberatung einzuräumen. Demgegenüber ist widersprüchlich und damit willkürlich, einerseits die Postulationsfähigkeit für die Erstattung der Replik zu verneinen, für die Mitwirkung an Vergleichsgesprächen aber vorbehaltlos zu bejahen. Aus diesen Gründen ist die staatsrechtliche Beschwerde gutzuheissen. Damit erübrigt es sich, auf die weiteren Rügen des Beschwerdeführers einzugehen.