Urteilskopf

131 I 476

48. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Staatsrechtliche Beschwerde) 6P.22/2005 vom 12. Oktober 2005

Regeste (de):

Regeste (fr):

Regesto (it):


Sachverhalt ab Seite 476

BGE 131 I 476 S. 476

X. arbeitete im Behindertenheim Y. in Hausen bei Brugg als Pfleger in einer der Abteilungen und auf einer anderen Abteilung zusätzlich als Nachtwache. Es wird ihm vorgeworfen, während seines Dienstes als Nachtwache am 10. September 2000 den Heimbewohner A., geboren am 13. Oktober 1982 und auf der geistigen Entwicklungsstufe eines Primarschülers in der fünften Klasse, zwischen 23.00 und 23.30 Uhr in dessen Einzelzimmer aufgesucht, ihm zwischen
BGE 131 I 476 S. 477

die Beine gegriffen, seinen nackten Penis geküsst und in den Mund genommen zu haben. Mit Urteil vom 16. März 2004 sprach das Bezirksgericht Brugg X. der sexuellen Handlungen mit Abhängigen gemäss Art. 188 Ziff. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 188 - Wer mit einer minderjährigen Person von mindestens 16 Jahren, die von ihm durch ein Erziehungs-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis oder auf andere Weise abhängig ist, eine sexuelle Handlung vornimmt, indem er diese Abhängigkeit ausnützt,
StGB schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingten Gefängnisstrafe von acht Monaten. Eine von X. dagegen erhobene Berufung wies das Obergericht des Kantons Aargau am 9. Dezember 2004 ab. X. führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, es sei das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 9. Dezember 2004 wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte und von Verfahrensgarantien aufzuheben. Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde gut.
Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Der Beschwerdeführer rügt zunächst, das Obergericht des Kantons Aargau habe Art. 6 Ziff. 1
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 6 Recht auf ein faires Verfahren - (1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder - soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält - wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.
a  innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;
b  ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
c  sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;
d  Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;
e  unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.
und Ziff. 3 lit. d EMRK sowie Art. 32 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 32 Strafverfahren - 1 Jede Person gilt bis zur rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig.
1    Jede Person gilt bis zur rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig.
2    Jede angeklagte Person hat Anspruch darauf, möglichst rasch und umfassend über die gegen sie erhobenen Beschuldigungen unterrichtet zu werden. Sie muss die Möglichkeit haben, die ihr zustehenden Verteidigungsrechte geltend zu machen.
3    Jede verurteilte Person hat das Recht, das Urteil von einem höheren Gericht überprüfen zu lassen. Ausgenommen sind die Fälle, in denen das Bundesgericht als einzige Instanz urteilt.
BV verletzt, indem es die erste Einvernahme des angeblichen Opfers zum Beweis zugelassen habe. Die Begründung im angefochtenen Urteil, weshalb die erste Aussage verwertbar sein solle, sei willkürlich und verletze den Grundsatz der Unschuldsvermutung (Art. 9
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 9 Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben - Jede Person hat Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür und nach Treu und Glauben behandelt zu werden.
und Art. 32 Abs. 1
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 32 Strafverfahren - 1 Jede Person gilt bis zur rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig.
1    Jede Person gilt bis zur rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig.
2    Jede angeklagte Person hat Anspruch darauf, möglichst rasch und umfassend über die gegen sie erhobenen Beschuldigungen unterrichtet zu werden. Sie muss die Möglichkeit haben, die ihr zustehenden Verteidigungsrechte geltend zu machen.
3    Jede verurteilte Person hat das Recht, das Urteil von einem höheren Gericht überprüfen zu lassen. Ausgenommen sind die Fälle, in denen das Bundesgericht als einzige Instanz urteilt.
BV).
2.1 Das Recht, Belastungszeugen zu befragen, untersteht dem kan tonalen Verfahrensrecht und muss nach dessen Bestimmungen formgerecht und rechtzeitig geltend gemacht werden.
2.1.1 Im vorliegenden Fall reichte die Trägerin des Behindertenwohnheims Y. am 15. September 2000 Strafanzeige gegen den Beschwerdeführer ein. Am gleichen Tag ordnete das Bezirksamt Brugg eine Hausdurchsuchung am Wohnort des Beschwerdeführers an, welche am selben Nachmittag durchgeführt wurde. Direkt im Anschluss an die Hausdurchsuchung befragte die Kantonspolizei Aargau den Beschwerdeführer erstmals zu den in der Strafanzeige erhobenen Vorwürfen. Am 19. September 2000 erteilte das Bezirksamt Brugg dem leitenden Arzt Pädiatrie am Kantonsspital Baden, Dr. med. B., den Auftrag, A. als Opfer zu befragen und dessen Glaubwürdigkeit zu beurteilen. Die Befragung erfolgte am 2. Oktober 2000 im Kantonsspital Baden in Begleitung der Mutter von A. und des Gruppenleiters des Wohnheims Y.
BGE 131 I 476 S. 478

Mit Schreiben vom 30. September 2002 an die zuständige Untersuchungsrichterin beantragte der Verteidiger des Beschwerdeführers unter anderem, Dr. med. B. mit der Sachdarstellung des Beschuldigten zu konfrontieren und ihm die sich daraus ergebende Erklärung für die Aussagen des A. vorzuhalten. In der Begründung der Anträge führte der Verteidiger aus, Dr. med. B. könnte A. damit konfrontieren. In der Folge konnte der Verteidiger des Beschwerdeführers Dr. med. B. einen Fragenkatalog unterbreiten lassen, den dieser am 21. Februar 2003 beantwortete. Im Anschluss daran stellte der Verteidiger des Beschwerdeführers am 11. März 2003 den Antrag auf eine zweite Einvernahme des Belastungszeugen mit der Möglichkeit, Ergänzungsfragen an ihn zu stellen. Mit Antwortschreiben vom 13. März 2003 teilte die zuständige Untersuchungsrichterin dem Verteidiger des Beschwerdeführers mit, eine Ausdehnung des Beweisverfahrens dränge sich in diesem Verfahrensstadium nicht auf. Es werde dem Gericht überlassen, die Aussagen zu gewichten und über ein Glaubwürdigkeitsgutachten zu befinden. Am 14. August 2003 stellte der Verteidiger des Beschwerdeführers den Antrag, "es sei zu prüfen, ob die bisherige(n) Aussage(n) von Herrn A. bei Herrn Dr. B. und die Berichte von Herrn Dr. B. in einer rechtsstaatlich korrekten Form geführt wurden oder ob diese unter Wahrung der Verteidigungsrechte des Angeklagten zu wiederholen bzw. mit einem Beweisverwertungsverbot zu belegen" seien. Anlässlich der ersten Verhandlung vor dem Bezirksgericht Brugg am 16. Dezember 2003 erneuerte der Verteidiger des Beschwerdeführers diesen Antrag und führte aus, die Aussage des Belastungszeugen sei wegen Verletzung der Verteidigungsrechte - keine Möglichkeit, Ergänzungsfragen zu stellen - nicht verwertbar. Auf diesen Antrag ging das Bezirksgericht Brugg im Urteil vom 16. März 2004 mit keinem Wort ein. In seiner Berufung an das Obergericht des Kantons Aargau beantragte der Verteidiger des Beschwerdeführers, es sei A. allenfalls erneut einzuvernehmen, unter Wahrung der Verteidigungsrechte. In der Folge ordnete das Obergericht eine videodokumentierte zweite Befragung des Belastungszeugen durch Dr. med. B. an. Die Einvernahme erfolgte am 4. November 2004 im Beisein des Verteidigers des Beschwerdeführers auf der Grundlage eines Fragenkatalogs des Verteidigers. In seinem Befragungsbericht schildert Dr. med. B., dass A. nach Angaben des Heimleiters über die neue Einvernahme äusserst
BGE 131 I 476 S. 479

unwillig und verärgert reagiert habe. Anfänglich habe er jegliche Kooperation verweigert und angegeben, "die Sache sei für ihn abgeschlossen". Schliesslich habe er aber doch in die Befragung eingewilligt. Bei der Einvernahme habe er im Rahmen seiner geistigen Möglichkeiten orientiert gewirkt. Er sei in der Lage gewesen, auf einfache Fragen nach längerer Überlegung klar aber mit wenigen Worten Auskunft zu geben. Als das Thema auf Sexualität und dann insbesondere auf den Angeklagten und Sexualität im Zusammenhang mit diesem gekommen sei, habe der Zeuge stereotyp geantwortet, er wisse nicht mehr oder könne sich nicht mehr erinnern. Trotz verschiedener Versuche habe der Zeuge keinerlei Angaben inhaltlicher Art zu irgendwelchen Erlebnissen im Zusammenhang mit dem Angeklagten gemacht. Anfänglich habe der Zeuge sogar verneint, den Angeklagten zu kennen, dann auf eine spätere Frage hin jedoch angegeben, dieser sei nett gewesen. Es sei auffallend gewesen, dass der Zeuge bei "unverfänglichen" Fragen vor einer Antwort immer lange überlegt habe, bei sämtlichen Fragen zu Sexualität oder unerwünschten Berührungen jedoch keinen Augenblick überlegt, sondern formelhaft mit dem Satz geantwortet habe, er wisse es nicht mehr. Diese Abwehrhaltung habe während der ganzen Befragung bestanden. Gegen Ende sei der Zeuge zunehmend unwillig geworden und habe etwas verärgert gewirkt. Insgesamt habe er den Eindruck vermittelt, als ob das Thema für ihn abgeschlossen sei und er darüber nicht mehr reden wolle.
2.1.2 Das Obergericht des Kantons Aargau nimmt an, mit der zweiten Befragung des Belastungszeugen am 4. November 2004 sei das Konfrontationsrecht des Beschwerdeführers gewahrt worden. Die erste Aussage sei verwertbar, selbst wenn man annehmen wollte, das Aussageverhalten des Zeugen anlässlich der zweiten Befragung habe dem Angeklagten verunmöglicht, die Glaubwürdigkeit der (ersten) Aussagen zu prüfen und deren Beweiswert auf die Probe bzw. in Frage zu stellen. Dem Aussageverhalten des Zeugen, dem Bericht von Dr. med. B. und den Beobachtungen seiner Betreuungsperson im Behindertenwohnheim könne eindeutig entnommen werden, dass der Zeuge sich an den Vorfall und die erste Befragung erinnern könne, sich daran aber nicht mehr erinnern wolle. Seine formelhaften und für seine Verhältnisse auffallend raschen Antworten zeigten auf, dass er sich auf diese Weise der ihm unangenehmen zweiten Befragung habe entziehen wollen. Sein Aussageverhalten sei entweder als Aussageverweigerung oder als
BGE 131 I 476 S. 480

Aussagewiderruf zu interpretieren. Ein Widerruf sei vom Obergericht frei zu würdigen. Im Falle einer Aussageverweigerung wäre die Verwertbarkeit der ersten Aussage ausnahmsweise zu bejahen, weil sie nicht das einzige Beweismittel sei. Vielmehr liege der Bericht des vom Bezirksgericht als Zeugen einvernommenen Wohngruppenleiters vor, welchem der Belastungszeuge erstmals über den Vorfall erzählt habe. Abgesehen davon sei bedeutsam, dass der Belastungszeuge geistig behindert sei und deshalb von einem medizinischen Sachverständigen habe befragt werden müssen. Schliesslich sei die aktenkundige Reaktion des Beschwerdeführers auf die Konfrontation mit den Vorwürfen ein gewichtiges Indiz dafür, dass sich der Vorfall wie vom Zeugen geschildert abgespielt habe.
2.1.3 Das Obergericht des Kantons Aargau geht implizit davon aus, dass der bereits im Untersuchungsverfahren gestellte Beweisantrag auf eine Konfrontation mit dem Belastungszeugen bzw. auf eine erneute Befragung unter Gewährung des Rechts, Ergänzungsfragen an ihn zu stellen, nach kantonalem Prozessrecht rechtzeitig gestellt wurde und die Ergänzungsfragen erheblich waren. Davon ist nachfolgend auszugehen.
2.2 Der in Art. 6 Ziff. 3 lit. d
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 6 Recht auf ein faires Verfahren - (1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder - soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält - wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.
a  innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;
b  ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
c  sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;
d  Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;
e  unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.
EMRK garantierte Anspruch des Angeschuldigten, den Belastungszeugen Fragen zu stellen, ist ein besonderer Aspekt des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Ziff. 1
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 6 Recht auf ein faires Verfahren - (1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder - soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält - wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.
a  innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;
b  ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
c  sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;
d  Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;
e  unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.
EMRK. Entsprechend sind Beschwerden wie die hier zu beurteilende unter dem Blickwinkel beider Bestimmungen zu prüfen. Mit der Garantie von Art. 6 Ziff. 3 lit. d
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 6 Recht auf ein faires Verfahren - (1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder - soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält - wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.
a  innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;
b  ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
c  sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;
d  Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;
e  unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.
EMRK soll ausgeschlossen werden, dass ein Strafurteil auf Aussagen von Zeugen abgestützt wird, ohne dass dem Beschuldigten wenigstens einmal angemessene und hinreichende Gelegenheit gegeben wurde, das Zeugnis in Zweifel zu ziehen und Fragen an den Zeugen zu stellen. Dieser Anspruch wird als Konkretisierung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 29 Allgemeine Verfahrensgarantien - 1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
1    Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
2    Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör.
3    Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand.
BV) auch durch Art. 32 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 32 Strafverfahren - 1 Jede Person gilt bis zur rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig.
1    Jede Person gilt bis zur rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig.
2    Jede angeklagte Person hat Anspruch darauf, möglichst rasch und umfassend über die gegen sie erhobenen Beschuldigungen unterrichtet zu werden. Sie muss die Möglichkeit haben, die ihr zustehenden Verteidigungsrechte geltend zu machen.
3    Jede verurteilte Person hat das Recht, das Urteil von einem höheren Gericht überprüfen zu lassen. Ausgenommen sind die Fälle, in denen das Bundesgericht als einzige Instanz urteilt.
BV gewährleistet. Ziel der genannten Normen ist die Wahrung der Waffengleichheit und die Gewährung eines fairen Verfahrens (BGE 129 I 151 E. 3.1 mit ausführlichen Hinweisen). Der Begriff des Zeugen ist entsprechend der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte autonom und ohne formelle Bindung an das nationale Recht auszulegen. Als Aussagen von Zeugen gelten all jene, die formell zugelassen sind, dem Gericht zur Kenntnis kommen und von ihm verwendet werden
BGE 131 I 476 S. 481

können. Auch in der Voruntersuchung gemachte Aussagen vor Polizeiorganen werden als Zeugenaussagen betrachtet (BGE 125 I 129 E. 6a S. 132 mit Hinweisen).
Aussagen von Zeugen und Auskunftspersonen dürfen in der Regel nur nach erfolgter Konfrontation zum Nachteil eines Angeschuldigten verwertet werden. Dem Anspruch, den Belastungszeugen Fragen zu stellen, kommt insofern grundsätzlich ein absoluter Charakter zu. Er erfährt in der Praxis aber eine gewisse Relativierung. Er gilt uneingeschränkt nur, wenn dem streitigen Zeugnis alleinige oder ausschlaggebende Bedeutung zukommt, dieses also den einzigen oder einen wesentlichen Beweis darstellt (BGE 129 I 151 E. 3.1 mit Hinweisen). Damit die Verteidigungsrechte gewahrt sind, ist erforderlich, dass die Gelegenheit der Befragung angemessen und ausreichend ist und die Befragung tatsächlich wirksam ausgeübt werden kann. Der Beschuldigte muss namentlich in der Lage sein, die Glaubhaftigkeit einer Aussage prüfen und den Beweiswert in kontradiktorischer Weise auf die Probe und in Frage stellen zu können (BGE 129 I 151 E. 4.2 mit Hinweisen). Das kann entweder zum Zeitpunkt erfolgen, zu dem der Belastungszeuge seine Aussage macht, oder auch in einem späteren Verfahrensstadium (BGE 125 I 129 E. 6b S. 132 f. mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) kann auf eine Konfrontation des Angeklagten mit dem Belastungszeugen oder auf die Einräumung der Gelegenheit zu ergänzender Befragung des Zeugen unter besonderen Umständen verzichtet werden (ausführlich BGE 124 I 274 E. 5b S. 285 mit Hinweisen). So hat der Gerichtshof die fehlende Befragung unbeanstandet gelassen, wenn der Zeuge berechtigterweise das Zeugnis verweigerte (Urteil des EGMR i.S. Asch gegen Öster reich vom 26. April 1991, Serie A, Bd. 203 = EuGRZ 1992 S. 474; anders aber Urteil des EGMR i.S. Unterpertinger gegen Österreich vom 28. August 1986, Serie A, Bd. 110 = EuGRZ 1987 S. 147), der Zeuge trotz angemessener Nachforschungen unauffindbar blieb (Urteil des EGMR i.S. Artner gegen Österreich vom 28. August 1992, Serie A, Bd. 242 A = EuGRZ 1992 S. 476; Urteil des EGMR i.S. Doorson gegen Niederlande vom 26. März 1996, Recueil CourEDH 1996-II S. 446, Ziff. 79) oder verstorben war (Urteil des EGMR i.S. Ferrantelli gegen Italien vom 7. August 1996, Recueil CourEDH 1996-III S. 937, Ziff. 52 f.). Es ist in solchen Fällen gestützt auf Art. 6 Ziff. 1
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 6 Recht auf ein faires Verfahren - (1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder - soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält - wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.
a  innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;
b  ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
c  sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;
d  Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;
e  unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.
und Ziff. 3 lit. d EMRK erforderlich,
BGE 131 I 476 S. 482

dass der Beschuldigte dazu hinreichend Stellung nehmen kann, die Aussagen sorgfältig geprüft werden und ein Schuldspruch nicht allein darauf abgestützt wird (BGE 124 I 274 E. 5b S. 286). In diesem Sinne hat der Gerichtshof in einem neueren Entscheid eine Konventionsverletzung in folgendem Fall verneint: Der Sachrichter hatte auf eine im Rahmen eines Gerichtsverfahrens im Ausland gemachte Zeugenaussage abgestellt, obschon der Zeuge unauffindbar geworden war. Der Gerichtshof verneinte eine Konventionsverletzung, weil die Aussage durch weitere Beweise gestützt wurde und den Gerichtsbehörden keine mangelnde Sorgfalt vorgeworfen werden konnte (Zulassungsentscheid des EGMR i.S. Calabrò gegen Italien vom 21. März 2002, Recueil CourEDH 2002-V S. 249; vgl. auch in Bezug auf ähnliche Konstellationen Urteile des EGMR i.S. Asch gegen Österreich, a.a.O., Ziff. 25 bis 31, und i.S. Artner gegen Österreich, a.a.O., Ziff. 19 bis 24). Demgegenüber hat der Gerichtshof eine Verletzung der Konvention (Art. 6 Ziff. 1
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 6 Recht auf ein faires Verfahren - (1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder - soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält - wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.
a  innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;
b  ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
c  sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;
d  Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;
e  unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.
und 3
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 6 Recht auf ein faires Verfahren - (1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder - soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält - wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.
a  innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;
b  ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
c  sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;
d  Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;
e  unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.
lit. d EMRK) in einem Fall bejaht, in dem Polizeibeamte den Angeklagten in schriftlich festgehaltenen Aussagen (die zweite auf dem Rechtshilfeweg) belasteten. Für das Gericht war entscheidend, dass der Angeklagte mit den Belastungszeugen nicht konfrontiert worden war, den Zeugen keine Ergänzungsfragen hatte stellen lassen können, und das Gericht sich keinen persönlichen Eindruck von den Zeugen hatte machen können. Es hielt fest, dass der Angeklagte anlässlich der ersten Zeugenaussagen nicht durch einen Anwalt vertreten gewesen war und die Sachrichter nicht alles unternommen hatten, um die vom Angeklagten beantragte Konfrontation mit den Belastungszeugen vor dem urteilenden Gericht zu ermöglichen (Urteil des EGMR i.S. Günes gegen Türkei vom 19. Juni 2003, Ziff. 88 bis 96). In ähnlichen Fällen hat der Gerichtshof ebenfalls eine Konventionsverletzung bejaht, weil die Gerichtsbehörden dem Angeklagten keine Möglichkeit gegeben hatten, den Belastungszeugen Fragen bzw. Ergänzungsfragen im Rahmen von rechtshilfeweise durchgeführten Befragungen zu stellen (Urteil des EGMR i.S. A. gegen Italien vom 14. Dezember 1999, Recueil CourEDH 1999-IX S. 59) oder im Untersuchungsverfahren (Urteile des EGMR i.S. Sadak gegen Türkei vom 17. Juli 2001, Recueil CourEDH 2001-VIII S. 241, Ziff. 66 bis 68, und i.S. Saïdi gegen Frankreich vom 20. September 1993, Serie A, Bd. 261 C, Ziff. 41 bis 44) stellen zu lassen, obschon die Zeugenaussagen für den Schuldspruch ausschlaggebend waren.
BGE 131 I 476 S. 483

Ebenso wie der EGMR hat es das Bundesgericht zugelassen, auf eine belastende Aussage eines Zeugen, der in der Zwischenzeit stirbt oder einvernahmeunfähig wird und daher nicht mehr befragt werden kann, abzustellen (BGE 105 Ia 396 S. 397; BGE 124 I 274 E. 5b S. 285 f.). In einem nicht in der Amtlichen Sammlung veröffentlichten Entscheid hat das Bundesgericht aber eine Verletzung der Garantie des fairen Verfahrens in einem Fall bejaht, in welchem der Angeklagte gestützt auf die Aussagen von Belastungszeugen verurteilt worden war, obschon er mit den Zeugen nie konfrontiert worden war, weil diese die Schweiz zwischenzeitlich verlassen hatten und nicht mehr aufgefunden werden konnten. Für das Bundesgericht war entscheidend, dass eine Konfrontation der Belastungszeugen mit dem Angeklagten im Untersuchungsverfahren möglich gewesen wäre, in einem Zeitpunkt, in welchem sich sowohl der Angeklagte als auch die Zeugen in Untersuchungshaft befanden (Urteil 1P.302/1996 vom 24. September 1996). Mit ganz ähnlicher Begründung hat das Bundesgericht eine Verletzung des Anspruchs, den Belastungszeugen Fragen zu stellen, im Entscheid BGE 129 I 151 bejaht. Der wegen sexueller Handlungen mit einem Kind Verurteilte hatte dem Kind keine Ergänzungsfragen stellen können. Für das Bundesgericht war massgebend, dass die Zeugenaussage für die Verurteilung ausschlaggebend war und die kantonalen Behörden den Umstand selbst zu vertreten hatten, dass der Angeklagte seine Rechte nicht (rechtzeitig) hatte wahrnehmen können (BGE 129 I 151 E. 4.3 S. 158).
2.3

2.3.1 Das Obergericht des Kantons Aargau wertet das Aussageverhalten von A. anlässlich seiner zweiten Befragung entweder als Aussageverweigerung oder als Aussagewiderruf, ohne sich festzulegen. Nachfolgend ist das angefochtene Urteil ausschliesslich auf der Grundlage einer Aussageverweigerung des Belastungszeugen zu prüfen, da es insoweit Verfassungs- und Konventionsrecht verletzt.
2.3.2 § 107 Abs. 2 des Gesetzes über die Strafrechtspflege des Kantons Aargau vom 11. November 1958 (StPO; SAR 251.100) schreibt vor, dass Kinder, die an "Unzuchtsdelikten Erwachsener beteiligt" sind, ohne zwingende Gründe nicht mehr als einmal einvernommen werden sollen. Diese Bestimmung trägt der Gefahr Rechnung, dass Kindern durch wiederholte Einvernahmen ein gleich grosser, wenn nicht gar grösserer Schaden zugefügt werden
BGE 131 I 476 S. 484

kann als durch das vermeintliche Delikt selbst. Zwingende Gründe im Sinne dieser Bestimmung können namentlich die Verteidigungsrechte des Angeschuldigten sein. Damit es möglichst bei einer Einvernahme bleibt, müssen die involvierten Behörden schon sehr früh miteinander Kontakt aufnehmen, um das weitere Vorgehen abzustimmen (BGE 129 I 151 E. 3.2 mit Hinweisen). Nach Art. 5 Abs. 4
SR 312.5 Bundesgesetz vom 23. März 2007 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG) - Opferhilfegesetz
OHG Art. 5 Unentgeltliche Leistungen - Die Beratung, die Soforthilfe und die von den Beratungsstellen erbrachte längerfristige Hilfe sind für das Opfer und seine Angehörigen unentgeltlich.
Opferhilfegesetz (OHG; SR 312.5) vermeiden die Behörden eine Begegnung des Opfers mit dem Beschuldigten, wenn das Opfer dies verlangt. Vorbehalten bleibt der Fall, dass der Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör nicht auf andere Weise gewährleistet werden kann (Art. 5 Abs. 5
SR 312.5 Bundesgesetz vom 23. März 2007 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG) - Opferhilfegesetz
OHG Art. 5 Unentgeltliche Leistungen - Die Beratung, die Soforthilfe und die von den Beratungsstellen erbrachte längerfristige Hilfe sind für das Opfer und seine Angehörigen unentgeltlich.
OHG). Nach Art. 7 Abs. 2
SR 312.5 Bundesgesetz vom 23. März 2007 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG) - Opferhilfegesetz
OHG Art. 7 Übergang von Ansprüchen auf den Kanton - 1 Hat ein Kanton gestützt auf dieses Gesetz Opferhilfe geleistet, so gehen die Ansprüche für Leistungen gleicher Art, die dem Opfer oder dessen Angehörigen auf Grund der Straftat zustehen, im Umfang der kantonalen Leistungen von der anspruchsberechtigten Person auf den Kanton über.
1    Hat ein Kanton gestützt auf dieses Gesetz Opferhilfe geleistet, so gehen die Ansprüche für Leistungen gleicher Art, die dem Opfer oder dessen Angehörigen auf Grund der Straftat zustehen, im Umfang der kantonalen Leistungen von der anspruchsberechtigten Person auf den Kanton über.
2    Diese Ansprüche haben Vorrang vor den verbleibenden Ansprüchen der anspruchsberechtigten Person sowie der Rückgriffsansprüche Dritter.
3    Der Kanton verzichtet darauf, seinen Anspruch gegenüber dem Täter oder der Täterin geltend zu machen, wenn dadurch schützenswerte Interessen des Opfers oder seiner Angehörigen oder die Wiedereingliederung des Täters oder der Täterin gefährdet würden.
OHG kann das Opfer die Aussage zu Fragen verweigern, die seine Intimsphäre betreffen. Das Opfer ist insofern nur von der Beantwortung bestimmter Fragen entbunden, im Übrigen aber sowohl erscheinungs- als auch zeugnispflichtig. Beim Aussageverweigerungsrecht, das auf Fragen zur Intimsphäre beschränkt ist, handelt es sich um ein so genanntes relatives bzw. partielles Zeugnisverweigerungsrecht. Dieses wird auch Auskunfts- oder Antwortverweigerungsrecht genannt (vgl. EVA WEISHAUPT, Die verfahrensrechtlichen Bestimmungen des Opferhilfegesetzes, Diss. Zürich 1998, S. 185 ff.). Gemäss Art. 10b Abs. 1
SR 312.5 Bundesgesetz vom 23. März 2007 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG) - Opferhilfegesetz
OHG Art. 7 Übergang von Ansprüchen auf den Kanton - 1 Hat ein Kanton gestützt auf dieses Gesetz Opferhilfe geleistet, so gehen die Ansprüche für Leistungen gleicher Art, die dem Opfer oder dessen Angehörigen auf Grund der Straftat zustehen, im Umfang der kantonalen Leistungen von der anspruchsberechtigten Person auf den Kanton über.
1    Hat ein Kanton gestützt auf dieses Gesetz Opferhilfe geleistet, so gehen die Ansprüche für Leistungen gleicher Art, die dem Opfer oder dessen Angehörigen auf Grund der Straftat zustehen, im Umfang der kantonalen Leistungen von der anspruchsberechtigten Person auf den Kanton über.
2    Diese Ansprüche haben Vorrang vor den verbleibenden Ansprüchen der anspruchsberechtigten Person sowie der Rückgriffsansprüche Dritter.
3    Der Kanton verzichtet darauf, seinen Anspruch gegenüber dem Täter oder der Täterin geltend zu machen, wenn dadurch schützenswerte Interessen des Opfers oder seiner Angehörigen oder die Wiedereingliederung des Täters oder der Täterin gefährdet würden.
OHG (in der Fassung des Bundesgesetzes vom 23. März 2001, in Kraft seit dem 1. Oktober 2002; AS 2002 S. 2998) dürfen die Behörden das minderjährige Opfer bei Straftaten gegen die sexuelle Integrität dem Beschuldigten nicht gegenüberstellen. Damit kommt es nicht darauf an, ob die oder der Minderjährige (im Sinne von Art. 10a
SR 312.5 Bundesgesetz vom 23. März 2007 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG) - Opferhilfegesetz
OHG Art. 7 Übergang von Ansprüchen auf den Kanton - 1 Hat ein Kanton gestützt auf dieses Gesetz Opferhilfe geleistet, so gehen die Ansprüche für Leistungen gleicher Art, die dem Opfer oder dessen Angehörigen auf Grund der Straftat zustehen, im Umfang der kantonalen Leistungen von der anspruchsberechtigten Person auf den Kanton über.
1    Hat ein Kanton gestützt auf dieses Gesetz Opferhilfe geleistet, so gehen die Ansprüche für Leistungen gleicher Art, die dem Opfer oder dessen Angehörigen auf Grund der Straftat zustehen, im Umfang der kantonalen Leistungen von der anspruchsberechtigten Person auf den Kanton über.
2    Diese Ansprüche haben Vorrang vor den verbleibenden Ansprüchen der anspruchsberechtigten Person sowie der Rückgriffsansprüche Dritter.
3    Der Kanton verzichtet darauf, seinen Anspruch gegenüber dem Täter oder der Täterin geltend zu machen, wenn dadurch schützenswerte Interessen des Opfers oder seiner Angehörigen oder die Wiedereingliederung des Täters oder der Täterin gefährdet würden.
OHG, wonach als Kind nach den Art. 10b-10d das Opfer verstanden wird, das im Zeitpunkt der Eröffnung des Strafverfahrens weniger als 18 Jahre alt ist) einen entsprechenden Antrag stellt. Auch hier gilt ein Vorbehalt für den Fall, dass der Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör nicht auf andere Weise gewährleistet werden kann (Art. 10b Abs. 3
SR 312.5 Bundesgesetz vom 23. März 2007 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG) - Opferhilfegesetz
OHG Art. 7 Übergang von Ansprüchen auf den Kanton - 1 Hat ein Kanton gestützt auf dieses Gesetz Opferhilfe geleistet, so gehen die Ansprüche für Leistungen gleicher Art, die dem Opfer oder dessen Angehörigen auf Grund der Straftat zustehen, im Umfang der kantonalen Leistungen von der anspruchsberechtigten Person auf den Kanton über.
1    Hat ein Kanton gestützt auf dieses Gesetz Opferhilfe geleistet, so gehen die Ansprüche für Leistungen gleicher Art, die dem Opfer oder dessen Angehörigen auf Grund der Straftat zustehen, im Umfang der kantonalen Leistungen von der anspruchsberechtigten Person auf den Kanton über.
2    Diese Ansprüche haben Vorrang vor den verbleibenden Ansprüchen der anspruchsberechtigten Person sowie der Rückgriffsansprüche Dritter.
3    Der Kanton verzichtet darauf, seinen Anspruch gegenüber dem Täter oder der Täterin geltend zu machen, wenn dadurch schützenswerte Interessen des Opfers oder seiner Angehörigen oder die Wiedereingliederung des Täters oder der Täterin gefährdet würden.
OHG). Haben Kinder als Opfer über erlebte Straftaten auszusagen und werden sie dadurch erneut mit schmerzhaften Erinnerungen an erlittene Verletzungen und Übergriffe konfrontiert, kann dies sie erneut traumatisieren. Entsprechend hält auch der Gerichtshof für Menschenrechte fest, dass die Interessen der Verteidigung und diejenigen des Opfers im Lichte von Art. 8
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 8 Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens - (1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.
EMRK gegeneinander abgewogen werden müssen. Besonders minderjährige Opfer von Sexualdelikten sind im Strafverfahren zu schützen. Deshalb kann die Garantie von Art. 6 Ziff. 3 lit. d
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 6 Recht auf ein faires Verfahren - (1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder - soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält - wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.
a  innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;
b  ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
c  sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;
d  Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;
e  unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.
EMRK
BGE 131 I 476 S. 485

allenfalls auch ohne Konfrontation mit dem Angeklagten oder direkte Befragung des Opfers durch den Verteidiger gewährleistet werden, etwa wenn dem streitigen Zeugnis keine ausschlaggebende Bedeutung zukommt (BGE 129 I 151 E. 3.1 mit Hinweisen). Es besteht somit ein gewisser Konflikt zwischen den Rechten des Opfers, eine Konfrontation mit dem Angeschuldigten sowie die Beantwortung aller oder einzelner Fragen zu verweigern, und dem Anspruch des Angeschuldigten, dem ihn belastenden Opfer Fragen zu stellen oder stellen zu lassen. Sowohl die Untersuchungsbehörden als auch der Sachrichter haben alle Massnahmen zu treffen, um die Rechte der Parteien zu gewährleisten und die Interessen der Strafverfolgung zu sichern. Falls die durch das Opferhilfegesetz und die kantonalen Verfahrensbestimmungen geschützten legitimen Interessen des Opfers dem Angeschuldigten verunmöglichen, sein Befragungsrecht wahrzunehmen, kann dies nicht zu Lasten des Anspruchs auf ein faires Verfahren (Art. 6 Ziff. 1
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 6 Recht auf ein faires Verfahren - (1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder - soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält - wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.
a  innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;
b  ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
c  sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;
d  Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;
e  unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.
EMRK) gehen. Vielmehr darf in einer solchen Situation nicht auf die frühere Aussage des Opfers abgestellt werden, wenn sie das einzige oder ausschlaggebende Beweismittel ist. Gegebenenfalls ist der Angeschuldigte nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" freizusprechen (vgl. BGE 125 I 127 E. 10a S. 157; BGE 129 I 151 E. 4.3 S. 158; Urteil 6P.50/ 2001 vom 4. Juli 2001, E. 3e).
2.3.3 Im zu beurteilenden Fall war die erste Aussage des Belastungszeugen ausschlaggebend für die Verurteilung des Beschwerdeführers. Entgegen der Auffassung des Obergerichts kam dem Bericht des Wohngruppenleiters über die ihm von A. anvertraute Schilderung des Vorfalls und über die Reaktion des Beschwerdeführers auf die Aufforderung zu einem klärenden Gespräch (Erschrecken und hochrotes Anlaufen des Gesichts, unbestimmt formulierte Entschuldigung bei A.) gegenüber der Aussage von A. eine deutlich untergeordnete Beweiskraft zu. Abgesehen davon, dass die Aussagen des Wohngruppenleiters nur als Indiz für den Wahrheitsgehalt der Aussage des Belastungszeugen gewertet werden durften, ergibt sich aus dem angefochtenen Urteil, dass das Obergericht schwergewichtig auf die Aussagen des Belastungszeugen abgestellt hat und nur ergänzend darlegte, dass diese Aussage durch jene des Wohngruppenleiters gestützt werde.
2.3.4 Die Literatur und kantonale Rechtsprechung nehmen an, dass belastende Zeugenaussagen unverwertbar sind, wenn sie das
BGE 131 I 476 S. 486

einzige oder ausschlaggebende Beweismittel darstellen und der Zeuge sich weigert, wesentliche Ergänzungsfragen des Angeschuldigten zu beantworten (ROBERT HAUSER/ERHARD SCHWERI/KARL HARTMANN, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Aufl., Basel usw. 2005, § 50 N. 6a und § 60 N. 10; Urteil des Kassationsgerichts des Kantons Zürich vom 20. November 2000, ZR 100/2001 Nr. 13 S. 37). Dieser Auffassung ist in Bezug auf den hier zu beurteilenden Fall zuzustimmen. Ob ihr generell gefolgt werden kann, braucht nicht abschliessend beantwortet zu werden. Wie sich aus den oben dargelegten Bestimmungen ergibt (E. 2.3.2), konnte der Belastungszeuge zwar ganz oder jedenfalls in Bezug auf die Kernfragen eine Aussage verweigern, doch durfte sich dies nicht zu Lasten der Verteidigungsrechte des Angeschuldigten auswirken (vgl. BGE 125 I 127 E. 10a S. 157; BGE 129 I 151 E. 4.3 S. 158; Urteil 6P.50/2001 vom 4. Juli 2001, E. 3e). Indem der Belastungszeuge mehr als vier Jahre nach seiner ersten Befragung sich weigerte, auf Ergänzungsfragen des Angeschuldigten zu antworten, konnte dieser seine Verteidigungsrechte nicht wirksam ausüben. Der Angeschuldigte vermochte unter diesen Umständen den Beweiswert der ersten - ohne seine Mitwirkung erfolgten - Aussage weder auf die Probe noch in Frage zu stellen (BGE 129 I 151 E. 4.2 mit Hinweisen). Die kantonalen Behörden haben diesen Umstand selbst zu vertreten, weil sie nicht alles unternommen haben, um eine Konfrontation möglichst frühzeitig durchzuführen. Dem Angeschuldigten hätte nicht zuletzt angesichts des geistigen Entwicklungsstandes des Belastungszeugen auf der Stufe eines Kindes im Grundschulalter (vgl. BGE 129 I 151 E. 4.2 in fine) bereits im Untersuchungsverfahren die Möglichkeit gegeben werden können und sollen, den Opferzeugen entweder im Rahmen der ersten Befragung oder ergänzend zu dieser in geeigneter Weise befragen zu lassen. Das Bundesgericht erkennt durchaus die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten, die weitgehend widerstreitenden Interessen und Rechte der Opfer und Angeschuldigten im Verfahren gleichermassen zu beachten sowie dies mit den Zielen eines jeden Strafverfahrens in Einklang zu bringen. Derartige Probleme können jedoch wie bereits dargelegt nicht dazu führen, dem Angeschuldigten ein faires Verfahren zu versagen.
2.4 Damit ist diese Rüge des Beschwerdeführers begründet. Die weiteren Vorbringen für den Fall, dass die Verwertbarkeit der
BGE 131 I 476 S. 487

Zeugenaussage vom Bundesgericht bejaht würde, sind nicht mehr zu prüfen. Seite 113 Zeile 9 von unten: partial (statt impartial)
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 131 I 476
Date : 12. Oktober 2005
Published : 31. Dezember 2005
Source : Bundesgericht
Status : 131 I 476
Subject area : BGE - Verfassungsrecht
Subject : Art. 6 Ziff. 1 i.V.m. Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK; Art. 32 Abs. 2 BV; Art. 5 Abs. 4 und 5, Art. 7 Abs. 2, Art. 10b Abs. 1


Legislation register
BV: 9  29  32
EMRK: 6  8
OHG: 5  7  10a  10b
StGB: 188
BGE-register
105-IA-396 • 124-I-274 • 125-I-127 • 129-I-151 • 131-I-476
Weitere Urteile ab 2000
1P.302/1996 • 6P.22/2005 • 6P.50/2001
Keyword index
Sorted by frequency or alphabet
[noenglish] • aargau • accused • adult • answer • appeal relating to public law • authenticity • ban of inadmissible evidence • cantonal administration • cantonal legal court • character • collection • complaint • concretion • constitution • convicted person • court and administration exercise • court of cassation • criminal act • criminal offence against sexual integrity • criminal proceedings • criminal prosecution • damage • day • decision • doctor • doubt • duty to give evidence • european court of human rights • evidence • federal court • form and content • france • guarantee of proceedings • hamlet • house search • illicit sexual practices • illicit sexual practices with a child • in dubio pro reo • indication • informant • italian • judge in charge • judicial agency • knowledge • knowledge • language • literature • meadow • meeting • month • mother • negotiation • netherlands • number • parity of weapons • police • position • presumption of innocence • proof demand • question • remand • repetition • right of defense • right to refuse testimony • sentencing • series • standard • statement of affairs • statement of reasons for the adjudication • victim • watch • weight • witness • witness for the prosecution
ZR
2001 100 Nr.13 S.37