Urteilskopf

130 I 360

31. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. X. und Z. GmbH gegen Untersuchungsrichter 3 des Unter- suchungsrichteramtes IV Berner Oberland sowie Ober- gericht des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde) 1P.439/2004 vom 9. Dezember 2004

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Sachverhalt ab Seite 361

BGE 130 I 360 S. 361

Am 4. Mai 2004 eröffnete der Untersuchungsrichter 3 des Untersuchungsrichteramtes IV Berner Oberland die Strafverfolgung durch Einleitung einer Voruntersuchung gegen X. und Y. wegen gewerbsmässiger Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz. Beide sind Gesellschafter und Geschäftsführer der Z. GmbH. Am gleichen Tag stellte die Polizei anlässlich einer Hausdurchsuchung bei der Z. GmbH in mehreren Treibhäusern ca. 62'000 Hanfstecklinge und 804 Hanf-Mutterpflanzen fest. Mit Verfügung ebenfalls noch vom selben Tag beschlagnahmte der Untersuchungsrichter sämtliche festgestellten Hanfpflanzen sowie technische Gerätschaften zu deren Aufzucht und Unterhalt. Er ordnete die Belassung der Pflanzen und Gerätschaften an ihrem Standort an und untersagte der Z. GmbH, sie zu entfernen oder darüber zu verfügen; dies unter Androhung der Straffolgen gemäss Art. 292
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 292 - Wer der von einer zuständigen Behörde oder einem zuständigen Beamten unter Hinweis auf die Strafdrohung dieses Artikels an ihn erlassenen Verfügung nicht Folge leistet, wird mit Busse bestraft.
StGB. Er gab der Z. GmbH Gelegenheit, innert 14 Tagen den Nachweis für eine rechtmässige Verwendung bzw. einen rechtmässigen Absatz der Pflanzen zu erbringen.
Am 18. Mai 2004 wies der Untersuchungsrichter das Gesuch der Z. GmbH um Freigabe von "Schnittgrün" für eine Lieferung an die Blumenbörse ab. Am 21. Mai 2004 wies er das Gesuch der Z. GmbH um Freigabe der beschlagnahmten Hanfpflanzen ab. Er ordnete deren vorzeitige Vernichtung durch die Kantonspolizei an. Am 27. Mai 2004 wies er ein weiteres Gesuch der Z. GmbH um Freigabe von "Schnittgrün" ab. Mit Beschluss vom 22. Juni 2004 wies die Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern die von X. und der Z. GmbH gegen die Verfügungen des Untersuchungsrichters vom 18., 21. und 27. Mai 2004 erhobenen Beschwerden ab. X. und die Z. GmbH führen staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, den Beschluss der Anklagekammer aufzuheben. Mit Verfügung vom 16. September 2004 ist der Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung des Bundesgerichtes auf das Gesuch um aufschiebende Wirkung nicht eingetreten, da die beschlagnahmten Pflanzen zwei Tage nach dem angefochtenen Beschluss bereits vernichtet worden waren. Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde teilweise gut.
BGE 130 I 360 S. 362

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

14.

14.1 Die Beschwerdeführerinnen rügen, die vorzeitige Vernichtung der Hanfpflanzen verletze die Eigentumsgarantie. Es fehle dafür an einer genügenden gesetzlichen Grundlage.
14.2 Gemäss Art. 26 Abs. 1
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 26 Eigentumsgarantie - 1 Das Eigentum ist gewährleistet.
1    Das Eigentum ist gewährleistet.
2    Enteignungen und Eigentumsbeschränkungen, die einer Enteignung gleichkommen, werden voll entschädigt.
BV ist das Eigentum gewährleistet. Ein Eingriff in die Eigentumsgarantie bedarf einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage. Zudem muss er durch ein öffentliches Interesse gerechtfertigt und verhältnismässig sein (Art. 36
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 36 Einschränkungen von Grundrechten - 1 Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein. Ausgenommen sind Fälle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr.
1    Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein. Ausgenommen sind Fälle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr.
2    Einschränkungen von Grundrechten müssen durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein.
3    Einschränkungen von Grundrechten müssen verhältnismässig sein.
4    Der Kerngehalt der Grundrechte ist unantastbar.
BV). Für einen schweren Eingriff in die Eigentumsgarantie ist eine klare und eindeutige Grundlage in einem formellen Gesetz erforderlich (Art. 36 Abs. 1
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 36 Einschränkungen von Grundrechten - 1 Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein. Ausgenommen sind Fälle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr.
1    Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein. Ausgenommen sind Fälle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr.
2    Einschränkungen von Grundrechten müssen durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein.
3    Einschränkungen von Grundrechten müssen verhältnismässig sein.
4    Der Kerngehalt der Grundrechte ist unantastbar.
Satz 2 BV; BGE 126 I 112 E. 3c S. 116; BGE 119 Ia 362 E. 3a S. 366; BGE 118 Ia 384 E. 4a S. 387; Urteil 1P. 23/2001 vom 5. September 2001, publ. in: Pra 91/2002 S. 91 ff., E. 3b). Das Bundesgericht prüft insoweit die Auslegung des kantonalen Rechts frei (BGE 126 I 219 E. 2c S. 221 f.; BGE 121 I 117 E. 3a/bb S. 120 f., mit Hinweisen). Bei einem leichten Eingriff genügt ein Gesetz im materiellen Sinn (vgl. BGE 109 Ia 188 E. 2 S. 190; BGE 108 Ia 33 E. 3a S. 35; RAINER J. SCHWEIZER, St. Galler Kommentar, N. 12 zu Art. 36
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 36 Einschränkungen von Grundrechten - 1 Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein. Ausgenommen sind Fälle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr.
1    Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein. Ausgenommen sind Fälle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr.
2    Einschränkungen von Grundrechten müssen durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein.
3    Einschränkungen von Grundrechten müssen verhältnismässig sein.
4    Der Kerngehalt der Grundrechte ist unantastbar.
BV; KLAUS A. VALLENDER, ebenda, N. 39 zu Art. 26
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 26 Eigentumsgarantie - 1 Das Eigentum ist gewährleistet.
1    Das Eigentum ist gewährleistet.
2    Enteignungen und Eigentumsbeschränkungen, die einer Enteignung gleichkommen, werden voll entschädigt.
BV). Das Bundesgericht prüft insoweit die Auslegung des kantonalen Rechts unter dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür (BGE 119 Ia 88 E. 5c/bb S. 96, BGE 119 Ia 141 E. 3b/dd S. 146 f.). Die Vernichtung beschlagnahmter Hanfpflanzen stellt nach der Rechtsprechung - jedenfalls in einem Ausmass wie hier - einen schweren Eingriff in die Eigentumsgarantie dar (Urteil 1P.775/2000 vom 10. April 2001, publ. in: Pra 90/2001 Nr. 111 S. 645 ff. und ZBl 103/2002 S. 150 ff., E. 3f). Einen schweren Eingriff hat das Bundesgericht auch bei einer blossen Beschlagnahme bejaht, sofern die Gefahr besteht, dass die Hanfpflanzen verderben und damit unwiederbringlich verloren gehen (Urteil 1P.149/2003 vom 16. Mai 2003, E. 3.3). Die vorgenommene Vernichtung bedurfte danach einer klaren und eindeutigen Grundlage in einem formellen Gesetz. Die Anklagekammer stützt die Vernichtung auf Art. 145 StPO/BE. Die Bestimmung trägt den Randtitel "Vorzeitige Verwertung" und lautet:
BGE 130 I 360 S. 363

Beschlagnahmte Gegenstände oder Vermögenswerte, die schneller Wertverminderung ausgesetzt sind oder einen kostspieligen Unterhalt erfordern, können vorzeitig freihändig verwertet werden, sofern eine Rückerstattung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht in Frage kommt. Werden Gegenstände gemäss Art. 145 StPO/BE vorzeitig verwertet, fällt ein Gegenwert an. Darüber ist im Aufhebungsbeschluss oder Endurteil zu befinden (JÜRG AESCHLIMANN, Einführung in das Strafprozessrecht: Die neuen bernischen Gesetze, Bern 1997, S. 260 N. 961). Die vorzeitige Verwertung dient einerseits dem Interesse des Angeschuldigten, der damit keinen Vermögensnachteil erleidet; anderseits dem Interesse des Staates, der sonst gegebenenfalls schadenersatzpflichtig würde (Urteil 1P.479/1998 vom 16. Februar 1999, E. 3; THOMAS MAURER, Das bernische Strafverfahren, 2. Aufl., Bern 2003, S. 248).
Bei der Vernichtung beschlagnahmter Gegenstände verhält es sich grundlegend anders (ebenso Urteil 1P.775/2000 vom 10. April 2001, publ. in: Pra 90/2001 Nr. 111 S. 645 ff. und ZBl 103/2002 S. 150 ff., E. 3e und 4). Es fällt kein Gegenwert an. Die Vernichtung liegt daher nicht im Interesse des Angeschuldigten. Sie nimmt faktisch den Entscheid des Richters vorweg (Urteil 1P.699/2000 vom 5. Februar 2001, E. 4). Dieser ist gemäss Art. 58
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 58 - 1 ...56
1    ...56
2    Die therapeutischen Einrichtungen im Sinne der Artikel 59-61 sind vom Strafvollzug getrennt zu führen.
StGB für die Einziehung zuständig (Abs. 1) und kann anordnen, dass die eingezogenen Gegenstände vernichtet werden (Abs. 2).
Ist die Vernichtung danach etwas wesentlich anderes, stellt Art. 145 StPO/BE dafür keine eindeutige und klare Grundlage dar. Die Anklagekammer räumt das in der Sache selber ein, wenn sie ausführt, die Vernichtung beschlagnahmter Gegenstände im Untersuchungsverfahren könne "nicht ohne weiteres direkt auf Art. 145 StPO/BE gestützt werden". Die Beschwerde ist insoweit begründet. Die vom Untersuchungsrichter angeordnete Vernichtung verletzte mangels hinreichender gesetzlicher Grundlage die Eigentumsgarantie.
14.3 Die Vernichtung beschlagnahmter Gegenstände ist grundsätzlich dem Sachrichter vorbehalten (ebenso MAURER, a.a.O., S. 249; ROBERT HAUSER/ERHARD SCHWERI, Schweizerisches Strafprozessrecht, 5. Aufl., Basel 2002, S. 320 N. 35). Einzuräumen ist, dass in einem Fall wie hier ein Interesse daran bestehen kann, beschlagnahmte Hanfpflanzen möglichst rasch der
BGE 130 I 360 S. 364

Vernichtung zuzuführen. Werden die Pflanzen an ihrem Standort belassen, erfordert das aufwändige Polizeikontrollen; werden sie an einen anderen Ort verbracht, muss für ihren Unterhalt gesorgt werden. Beides verursacht erhebliche Kosten. Um dies zu vermeiden, besteht die Möglichkeit, ein selbständiges Einziehungsverfahren mit allfälliger anschliessender Vernichtung der Pflanzen durchzuführen. Eine Einziehung muss nicht zwingend erst mit dem Sachurteil angeordnet werden. Sie kann zeitlich vorgezogen werden (vgl. NIKLAUS SCHMID, Urteilskommentar, Freiburger Zeitschrift für Rechtsprechung 1998, S. 91/92; derselbe, in: Einziehung/Organisiertes Verbrechen/Geldwäscherei, Kommentar, Bd. I, Zürich 1998, N. 80 am Schluss zu Art. 58
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 58 - 1 ...56
1    ...56
2    Die therapeutischen Einrichtungen im Sinne der Artikel 59-61 sind vom Strafvollzug getrennt zu führen.
StGB). Der Untersuchungsrichter kann noch während der Strafuntersuchung dem gemäss Art. 58 f
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 58 - 1 ...56
1    ...56
2    Die therapeutischen Einrichtungen im Sinne der Artikel 59-61 sind vom Strafvollzug getrennt zu führen.
. StGB für die Einziehung zuständigen Richter beantragen, beschlagnahmte Gegenstände einzuziehen und zu vernichten.
14.4 Da die Vernichtung die Eigentumsgarantie verletzte und der angefochtene Beschluss schon aus diesem Grunde aufzuheben ist, kann offen bleiben, ob die Vernichtung - wie die Beschwerdeführerinnen geltend machen - überdies im Hinblick auf die Wirtschaftsfreiheit und die Unschuldsvermutung verfassungswidrig war.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 130 I 360
Date : 09. Dezember 2004
Published : 31. Dezember 2004
Source : Bundesgericht
Status : 130 I 360
Subject area : BGE - Verfassungsrecht
Subject : Art. 26 Abs. 1 i.V.m. Art. 36 Abs. 1 BV, Art. 145 StPO/BE, Art. 58 StGB; Eigentumsgarantie; Vernichtung beschlagnahmten Hanfs


Legislation register
BV: 26  36
StGB: 58  292
BGE-register
108-IA-33 • 109-IA-188 • 118-IA-384 • 119-IA-141 • 119-IA-362 • 119-IA-88 • 121-I-117 • 126-I-112 • 126-I-219 • 130-I-360
Weitere Urteile ab 2000
1P.149/2003 • 1P.439/2004 • 1P.479/1998 • 1P.699/2000 • 1P.775/2000
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Pra
90 Nr. 111