129 I 68
7. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Römisch-katholische Kirchgemeinde B. sowie Römisch-katholische Landeskirche des Kantons Luzern (staatsrechtliche Beschwerde) 2P.16/2002 vom 18. Dezember 2002
Regeste (de):
- Art. 15
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 15 Glaubens- und Gewissensfreiheit - 1 Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist gewährleistet.
1 Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist gewährleistet. 2 Jede Person hat das Recht, ihre Religion und ihre weltanschauliche Überzeugung frei zu wählen und allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu bekennen. 3 Jede Person hat das Recht, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören und religiösem Unterricht zu folgen. 4 Niemand darf gezwungen werden, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören, eine religiöse Handlung vorzunehmen oder religiösem Unterricht zu folgen. SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 72 Kirche und Staat - 1 Für die Regelung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat sind die Kantone zuständig.
1 Für die Regelung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat sind die Kantone zuständig. 2 Bund und Kantone können im Rahmen ihrer Zuständigkeit Massnahmen treffen zur Wahrung des öffentlichen Friedens zwischen den Angehörigen der verschiedenen Religionsgemeinschaften. 3 Der Bau von Minaretten ist verboten.39 IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 9 Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit - (1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.
- Rechtswirkungen einer Erklärung, lediglich aus der Kirchgemeinde bzw. Landeskirche austreten, sich aber weiterhin zur römisch-katholischen Kirche bekennen zu wollen (sog. partieller Kirchenaustritt), im Lichte der Glaubens- und Gewissensfreiheit und der rechtlichen Regelung im Kanton Luzern (E. 3.1-3.4).
Regeste (fr):
- Art. 15 Cst., art. 72 Cst.; art. 9 CEDH; liberté de conscience et de croyance; sortie de la paroisse respectivement de l'Eglise officielle.
- Effets juridiques d'une déclaration exprimant la volonté de sortir uniquement de la paroisse respectivement de l'Eglise officielle, mais de continuer à faire partie de l'Eglise catholique romaine (sortie dite partielle de l'Eglise), à la lumière de la liberté de conscience et de croyance ainsi que de la réglementation juridique dans le canton de Lucerne (consid. 3.1-3.4).
Regesto (it):
- Art. 15 Cost., art. 72 Cost.; art. 9 CEDU; libertà di credo e di coscienza; uscita dalla comunità ecclesiastica, rispettivamente dalla Chiesa nazionale.
- Effetti giuridici di una dichiarazione con cui viene espressa la volontà di uscire unicamente dalla comunità ecclesiastica, rispettivamente dalla Chiesa nazionale, ma di continuare a far parte della Chiesa cattolica-romana (cosiddetta uscita parziale dalla Chiesa), alla luce della libertà di credo e di coscienza così come della regolamentazione giuridica nel Cantone di Lucerna (consid. 3.1-3.4).
Sachverhalt ab Seite 68
BGE 129 I 68 S. 68
A.- A. ist in der luzernischen Gemeinde B. wohnhaft. Mit schriftlicher Eingabe vom 9. Dezember 2000 an den Kirchenrat der katholischen Kirchgemeinde B. mit dem Betreff "Partieller Kirchenaustritt" erklärte sie, aus der erwähnten Kirchgemeinde auszutreten.
BGE 129 I 68 S. 69
Gleichzeitig hielt sie aber fest, "dass dieser Austritt nur die Staatskirche des Kantons Luzern betrifft und nicht etwa die Röm.-Kath. Kirche, zu der ich mich als Katholikin nach wie vor zugehörig fühle". Der Präsident des Kirchenrates antwortete am 21. Dezember 2000, ihre Mitgliedschaft in der Kirchgemeinde B. bestehe fort, nachdem sie sich nach wie vor zur römisch-katholischen Kirche bekenne; ein "partieller Kirchenaustritt" sei aus rechtlichen Gründen nicht möglich. Er verwies hiezu auf folgende Bestimmungen der Verfassung der römisch-katholischen Landeskirche des Kantons Luzern vom 25. März 1969 (im Folgenden: Kirchenverfassung/LU): § 12 Katholikinnen und Katholiken
Wer nach kirchlicher Ordnung der römisch-katholischen Kirche angehört, gilt für Landeskirche und Kirchgemeinden als Katholikin oder Katholik, solange sie oder er dem zuständigen Kirchenrat am gesetzlich geregelten Wohnsitz nicht schriftlich erklärt hat, der römisch-katholischen Konfession nicht mehr anzugehören. § 13 Mitgliedschaft
(1) Mitglied der Kirchgemeinde ist jede Katholikin und jeder Katholik, die oder der in ihrem Gemeindegebiet den gesetzlich geregelten Wohnsitz hat. (2) Wer einer Kirchgemeinde angehört, ist zugleich Mitglied der Landeskirche. Im Anschluss daran wechselten A. und der Kirchenrat mehrfach Korrespondenz. Mit als "Gemeindebeschwerde" bezeichneter Rechtsschrift vom 31. Juli 2001 (Postaufgabe 2. August 2001) gelangte A. schliesslich erfolglos an den Synodalrat der römisch-katholischen Landeskirche des Kantons Luzern mit dem Antrag festzustellen, "dass die Beschwerdeführerin mit Wirkung ab 10. Dezember 2000 nicht mehr Mitglied der Römisch-katholischen Kirchgemeinde B. ist".
B.- Mit Postaufgabe vom 19. Januar 2002 hat A. beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde mit folgendem Antrag eingereicht: 1. Es sei der Entscheid der Römisch-katholischen Landeskirche des Kantons Luzern vom 19. Dezember 2001 aufzuheben. 2. Es sei festzustellen, dass die Beschwerdeführerin mit Wirkung ab Empfang der Austrittserklärung, d.h. ab 10. Dezember 2000, eventuell ab 21. Dezember 2000, nicht mehr Mitglied der Römisch-katholischen Kirchgemeinde B. ist. Das Bundesgericht weist die staatsrechtliche Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
BGE 129 I 68 S. 70
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3.
3.1 Die Beschwerdeführerin macht im Wesentlichen geltend, die Kirchenbehörden würden von ihr "eine Erklärung betreffend Austritt aus der Konfession" verlangen, sie solle "ihren Glauben verleugnen". Ein solches Begehren sei ein "Anti-Bekenntnis". Dies dürfe von ihr aber nicht verlangt werden, denn es sei "eine Form des Glaubensabfalls und aus christlicher Sicht verboten". Nach kanonischem Recht sei ein Austritt "aus der Kirche Jesu Christi nicht möglich, nicht einmal mit einer schriftlichen Erklärung". Letztlich würden die Kirchenbehörden von ihr also etwas Unmögliches fordern. Dadurch werde die Glaubens- und Gewissensfreiheit verletzt.
3.2 Das Bundesgericht hat sich bisher nicht ausdrücklich zu der hier interessierenden Frage geäussert. Immerhin hat es bereits in BGE 2 S. 388 festgehalten und darauf auch in einem neueren Urteil vom 19. April 2002 (BGE 128 I 317 E. 2.2.2 S. 322) Bezug genommen, dass Art. 49
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 49 Vorrang und Einhaltung des Bundesrechts - 1 Bundesrecht geht entgegenstehendem kantonalem Recht vor. |
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1 | Bundesrecht geht entgegenstehendem kantonalem Recht vor. |
2 | Der Bund wacht über die Einhaltung des Bundesrechts durch die Kantone. |
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 15 Glaubens- und Gewissensfreiheit - 1 Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist gewährleistet. |
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1 | Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist gewährleistet. |
2 | Jede Person hat das Recht, ihre Religion und ihre weltanschauliche Überzeugung frei zu wählen und allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu bekennen. |
3 | Jede Person hat das Recht, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören und religiösem Unterricht zu folgen. |
4 | Niemand darf gezwungen werden, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören, eine religiöse Handlung vorzunehmen oder religiösem Unterricht zu folgen. |
3.3 Die Doktrin ist gespalten: die Möglichkeit eines sog. partiellen Kirchenaustritts wird teilweise bejaht (vgl. in diesem Sinne MARTIN GRICHTING, Kirche oder Kirchenwesen?, Diss. Freiburg 1997, S. 185 ff.; DIETER KRAUS, Schweizerisches Staatskirchenrecht, Diss. Tübingen 1993, S. 93 f.; FELIX HAFNER, Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte, Habilitationsschrift Basel 1991, S. 339, Fn. 171; PETER KARLEN, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Schweiz, Diss. Zürich 1988, S. 338 f.; JOHANNES GEORG FUCHS, Zugehörigkeit zu den Schweizer evangelisch-reformierten Volkskirchen, in: Louis Carlen [Hrsg.], Austritt aus der Kirche, 1982, S. 183 ff., insbes. S. 187; HANS SCHMID, Die rechtliche Stellung der römisch-katholischen Kirche im Kanton Zürich, Diss. Zürich 1973, S. 235; FRITZ ROHR, Organisation und rechtliche Stellung der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde des Kantons
BGE 129 I 68 S. 71
Aargau, Diss. Zürich 1951, S. 94); zum Teil wird sie abgelehnt (URS JOSEF CAVELTI, Kirchenrecht im demokratischen Umfeld, 1999, S. 188 f.; ders., Der Kirchenaustritt nach staatlichem Recht, in: Louis Carlen [Hrsg.], a.a.O., S. 91; ADRIAN LORETAN, Die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit - oder ist der Kirchenaustritt Privatsache?, in: Pastoralsoziologisches Institut [Hrsg.], Jenseits der Kirchen, 1998, S. 125 ff.; GIUSEP NAY, Leitlinien der neueren Praxis des Bundesgerichts zur Religionsfreiheit, in: René Pahud de Mortanges, Religiöse Minderheiten und Recht, 1998, S. 37 f.; EUGEN ISELE, Die Gliedschaft in der Kirche und die Mitgliedschaft in der Kirchgemeinde, Rechtsgutachten, Freiburg 1971; HEINZ BACHTLER, Rechtsgutachten über die Auslegung von § 4 des Gesetzes über das katholische Kirchenwesen vom 7. Juli 1963, in: Informationsblatt für die katholischen Kirchgemeinden des Kantons Zürich, Heft 3, Zürich 1971, S. 25 ff., insbes. S. 39; HANS BEAT NOSER, Pfarrei und Kirchgemeinde, 1957, S. 131; ALOIS SCHWEGLER, Die Kirchgemeinde im Kanton Luzern, Diss. Freiburg 1935, S. 77 f.; ULRICH LAMPERT, Kirche und Staat in der Schweiz, Bd. I, 1929, S. 331; wohl auch WALTHER BURCKHARDT, Kommentar der schweizerischen Bundesverfassung, 3. Aufl., 1931, S. 454).
3.4 Die in Art. 15
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 15 Glaubens- und Gewissensfreiheit - 1 Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist gewährleistet. |
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1 | Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist gewährleistet. |
2 | Jede Person hat das Recht, ihre Religion und ihre weltanschauliche Überzeugung frei zu wählen und allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu bekennen. |
3 | Jede Person hat das Recht, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören und religiösem Unterricht zu folgen. |
4 | Niemand darf gezwungen werden, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören, eine religiöse Handlung vorzunehmen oder religiösem Unterricht zu folgen. |
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) EMRK Art. 9 Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit - (1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen. |
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 15 Glaubens- und Gewissensfreiheit - 1 Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist gewährleistet. |
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1 | Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist gewährleistet. |
2 | Jede Person hat das Recht, ihre Religion und ihre weltanschauliche Überzeugung frei zu wählen und allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu bekennen. |
3 | Jede Person hat das Recht, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören und religiösem Unterricht zu folgen. |
4 | Niemand darf gezwungen werden, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören, eine religiöse Handlung vorzunehmen oder religiösem Unterricht zu folgen. |
BGE 129 I 68 S. 72
nach dem schweizerischen Verfassungsverständnis können die Kantone gestützt auf Art. 72 Abs. 1
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 72 Kirche und Staat - 1 Für die Regelung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat sind die Kantone zuständig. |
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1 | Für die Regelung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat sind die Kantone zuständig. |
2 | Bund und Kantone können im Rahmen ihrer Zuständigkeit Massnahmen treffen zur Wahrung des öffentlichen Friedens zwischen den Angehörigen der verschiedenen Religionsgemeinschaften. |
3 | Der Bau von Minaretten ist verboten.39 |
BGE 129 I 68 S. 73
nicht anders als in anderen Grundrechtsbereichen. Auch unter Gesichtspunkten des Rechtsmissbrauchs wäre nur schwer zu rechtfertigen, weshalb eine aus der Kirchgemeinde und der Landeskirche ausgetretene Person weiterhin die Dienste der Kirchenorgane beanspruchen können sollte, nachdem sie mit ihrem Austritt bewirkt hat, dass sie an diese Leistungen nichts mehr beizusteuern hat (vgl. BGE 10 S. 320 E. 3 S. 324). Ein verfassungsrechtlicher Schutz für solches Verhalten erscheint jedenfalls nicht als geboten. Es ist weder von der Beschwerdeführerin dargelegt worden noch ersichtlich, dass das im Kanton Luzern geregelte Mitgliedschaftsverhältnis die Beschwerdeführerin in ihrem Bekenntnis und ihrer Religionsausübung in unzulässiger Weise beeinträchtigen würde. Wenn die Beschwerdeführerin den in BGE 104 Ia 79 publizierten Entscheid des Bundesgerichts anführt, ist ihr entgegenzuhalten, dass es dort nur um Formalitäten des Kirchenaustritts ging; zum partiellen Kirchenaustritt hatte sich das Bundesgericht nicht geäussert. Soweit es schliesslich um das Recht geht, seine religiöse Überzeugung zu verschweigen, verzichtet eine förmlich den Austritt aus den lokalen kirchlichen Körperschaften erklärende Person von sich aus auf absolute Geheimhaltung; der Austritt ohne derartige Erklärung ist im System der Mitgliedschaftspräsumption, welches das Bundesgericht seit langem anerkannt hat (vgl. BGE 31 I 81 E. 2 S. 88; BGE 55 I 113 E. 2 S. 126; Urteil vom 14. November 1978, ZBl 80/1979 S. 78 ff. E. 2), gar nicht möglich. Gewiss kann die Person von den Behörden nicht verpflichtet werden, auch eine Austrittserklärung bezüglich der Religionsgemeinschaft abzugeben. Es ist jedoch auf dem Boden von rechtlichen Grundlagen wie den im Kanton Luzern geltenden auch nicht verfassungswidrig, wenn die Behörden eine Austrittserklärung wie die vorliegende als unvollständig und damit unbeachtlich betrachten (vgl. BGE 52 I 108 E. 3 S. 118 f.).