127 V 1
1. Urteil vom 8. Februar 2001 i. S. P. gegen Ausgleichskasse des Kantons Zürich und Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
Regeste (de):
- Art. 103 lit. a
in Verbindung mit Art. 132
OG: Anfechtung des Rentenauszahlungstermins. Das schutzwürdige Interesse an der Vorverlegung des Termins für die Auszahlung einer Invalidenrente vom fünften bis siebten auf den ersten Werktag des Monats ist zu bejahen.
- Art. 44 Abs. 1
AHVG und Art. 72
AHVV (im Bereich der Invalidenversicherung sinngemäss anwendbar gemäss Art. 47 Abs. 3
IVG und Art. 82
IVV): Termin für Rentenauszahlung. Gemäss Art. 72
AHVV erteilen die Ausgleichskassen die Zahlungsaufträge der Post oder der Bank rechtzeitig, sodass die Auszahlung bis zum 20. Tag des Monats erfolgen kann. Diese Bestimmung widerspricht Art. 44 Abs. 1
AHVG, wonach die Renten "in der Regel monatlich und zum Voraus" ausbezahlt werden, nicht.
Regeste (fr):
- Art. 103 let. a en liaison avec l'art. 132 OJ: Contestation portant sur le terme du paiement de la rente. Il existe un intérêt digne de protection à ce que le terme du paiement d'une rente d'invalidité soit avancé de la période du cinquième au septième jour ouvrable, au premier jour.
- Art. 44 al. 1 LAVS et art. 72 RAVS (applicables par analogie en matière d'assurance-invalidité en vertu des art. 47 al. 3 LAI et 82 RAI): Terme du paiement de la rente. Selon l'art. 72 RAVS, les caisses de compensation donnent les ordres de paiement à la poste ou à la banque à temps pour que le paiement puisse être effectué jusqu'au vingtième jour du mois. Cette réglementation n'est pas contraire à l'art. 44 al. 1 LAVS, selon lequel les rentes sont payées, "en règle générale, mensuellement et d'avance".
Regesto (it):
- Art. 103 lett. a
in relazione con l'art. 132
OG: Contestazione circa il termine entro il quale deve essere pagata una rendita. Esiste interesse degno di protezione a che il termine entro il quale deve essere pagata una rendita d'invalidità sia fissato al primo giorno lavorativo, anziché nel periodo intercorrente tra il quinto e il settimo giorno.
- Art. 44 cpv. 1 LAVS e art. 72 OAVS (applicabile per analogia in materia di assicurazione per l'invalidità giusta gli art. 47 cpv. 3 LAI e 82 OAI): Termine entro il quale deve essere pagata una rendita. Conformemente all'art. 72 OAVS le casse di compensazione impartiscono per tempo alla posta o alla banca gli ordini di pagamento, in modo che il pagamento possa essere effettuato entro il ventesimo giorno del mese. Questo disciplinamento non è in contrasto con l'art. 44 cpv. 1 LAVS, per il quale le rendite sono pagate "di regola... in anticipo mese per mese".
Sachverhalt ab Seite 2
BGE 127 V 1 S. 2
A.- P., Bezügerin einer Invalidenrente, wandte sich mit Schreiben vom 3. Juli 1998 an die Ausgleichskasse des Kantons Zürich mit dem Rechtsbegehren, es sei die Rente künftig so rechtzeitig auszurichten, dass sie ihr am ersten Werktag des Monats gutgeschrieben werden könne. Zur Begründung führte sie an, dass die Verordnungsbestimmung, wonach die Renten so auszubezahlen seien, dass die Gutschrift bis zum 20. Tag des Monates erfolgen könne, der im Gesetz vorgesehenen Ausrichtung der Renten im Voraus widerspreche. Mit Verfügung vom 28. Juli 1998 lehnte die Ausgleichskasse des Kantons Zürich das Begehren ab, wobei sie eine Gesetzwidrigkeit der Verordnungsbestimmung verneinte.
B.- Die von P. hiegegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich unter Hinweis auf die Begründung der Ausgleichskasse mit Entscheid vom 30. März 2000 ab.
C.- P. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde einreichen mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und die Ausgleichskasse sei zu verpflichten, ihr die Rente so auszurichten, dass diese ihrem Konto spätestens am ersten Werktag des Monats gutgeschrieben werde. Während die Ausgleichskasse unter Hinweis auf ihre im kantonalen Verfahren eingereichte Vernehmlassung auf eine Stellungnahme verzichtet, beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
D.- Am 8. Februar 2001 hat das Eidg. Versicherungsgericht eine publikumsöffentliche Beratung durchgeführt.
Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1. a) Das Eidg. Versicherungsgericht hat von Amtes wegen zu prüfen, ob die Sachurteilsvoraussetzungen, die für die Beurteilung der gestellten Rechtsbegehren erfüllt sein müssen, gegeben sind. Hat die Vorinstanz übersehen, dass es an einer Sachurteilsvoraussetzung fehlte, und hat sie materiell entschieden, ist dies im Rechtsmittelverfahren von Amtes wegen zu berücksichtigen mit der Folge,
BGE 127 V 1 S. 3
dass der angefochtene Entscheid aufzuheben ist mit der Feststellung, auf das Rechtsmittel könne mangels Sachurteilsvoraussetzung nicht eingetreten werden (BGE 122 V 322 Erw. 1, 329 Erw. 5, BGE 120 V 29 Erw. 1, BGE 119 V 12 Erw. 1b mit Hinweisen; GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., Bern 1983, S. 73). b) Sachurteilsvoraussetzung bildet unter anderem das Erfordernis, dass die Beschwerde führende Partei durch die angefochtene Verfügung berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung oder Änderung hat (Art. 103 lit. a
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BGE 127 V 1 S. 4
werden kann, weshalb die Eintretensfrage zu bejahen ist. Dennoch rechtfertigt es sich vorliegend - mit Blick darauf, dass der sich aus einer Rentenauszahlung zwischen dem fünften und siebten Werktag ergebende Nachteil als relativ geringfügig bezeichnet werden muss (vgl. STAUFFER/SCHÄTZLE, a.a.O., S. 335 N 1179 ff. und S. 336 N 1184) - darauf hinzuweisen, dass die Rechtsprechung nicht der Beantwortung rein theoretischer Rechtsfragen dient (vgl. BGE 126 II 303 Erw. 2c; GYGI, a.a.O., S. 153; PIERRE MOOR, Droit administratif, Bd. II, Les actes administratifs et leur contrôle, Bern 1991, S. 419 Ziff. 5.6.2.3) und als schutzwürdiges Interesse nur betrachtet werden kann, was ausreichende Veranlassung dazu bildet, die Justiz zu bemühen (GYGI, a.a.O., S. 153).
2. Der Streit um die Frage, wann eine Versicherungsleistung auszubezahlen ist, betrifft ebenso wenig die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen wie der Prozess um die Drittauszahlung einer Rente (BGE 121 V 18 Erw. 2, BGE 118 V 90 Erw. 1a) oder um die Auszahlung an die Post oder eine Bank (in AHI 1993 S. 35 nicht publizierte Erw. 2 des Urteils A. vom 2. September 1992, H 134/91). Bei derartigen Streitigkeiten über den Auszahlungsmodus hat das Eidg. Versicherungsgericht deshalb nur zu prüfen, ob der vorinstanzliche Richter Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132
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3. a) Nach Art. 44 Abs. 1
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b) Ein Blick auf andere Sozialversicherungszweige zeigt, dass die Frage, wann eine Rente auszubezahlen ist, unterschiedlich geregelt ist. Für die Renten der beruflichen Vorsorge ist in Art. 38
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BGE 127 V 1 S. 5
Invalidenversicherung hat der Gesetzgeber im Bereich der Unfallversicherung bestimmt, dass die Renten "in der Regel monatlich und zum Voraus" ausbezahlt werden (Art. 49 Abs. 3
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4. a) Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente, namentlich des Zwecks, des Sinnes und der dem Text zu Grunde liegenden Wertung. Wichtig ist ebenfalls der Sinn, der einer Norm im Kontext zukommt. Vom klaren, d.h. eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut darf nur ausnahmsweise abgewichen werden, unter anderem dann nämlich, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass der Wortlaut nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Grund und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit andern Vorschriften ergeben (BGE 126 II 80 Erw. 6d, BGE 126 III 104 Erw. 2c, BGE 126 V 58 Erw. 3, 105 Erw. 3, je mit Hinweisen). b) Der deutschen Fassung des Art. 44 Abs. 1
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BGE 127 V 1 S. 6
kann nicht eindeutig entnommen werden, ob sich die Wendung "in der Regel", welche Ausnahmen zulässt, nur auf die monatliche Periodizität oder auch auf die Auszahlung im Voraus bezieht. Mit Blick darauf, dass bei der grammatikalischen Auslegung von der grundsätzlichen Gleichwertigkeit der drei Amtssprachen auszugehen ist (Art. 9 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 21. März 1986 über die Gesetzessammlungen und das Bundesblatt; SR 170.512) und dass diesem Auslegungselement nur untergeordnete Bedeutung zukommt, wenn die drei verschiedenen sprachlichen Versionen nicht vollständig übereinstimmen oder sich gar widersprechen (BGE 126 V 106 Erw. 3a mit Hinweis), ist zu prüfen, wie es sich mit der französischen ("Les rentes et les allocations pour impotents sont payées, en règle générale, mensuellement et d'avance.") und der italienischen Fassung ("Di regola le rendite e gli assegni per grandi invalidi sono pagati in anticipo mese per mese.") verhält. In diesen beiden Versionen bezieht sich der Terminus "in der Regel", was in der französischen Fassung durch die Abtrennung des Satzgliedes "en règle générale" mit Kommas und in der italienischen durch die Voranstellung der Wendung "di regola" ausgedrückt wird, klarerweise auf beide Fragen, d.h. sowohl auf die monatliche Periodizität als auch auf die Auszahlung im Voraus. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Botschaft, in welcher vom "Grundsatz der monatlichen vorschüssigen Rentenauszahlung" die Rede ist (Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung vom 24. Mai 1946, Separatausgabe S. 173 zu Art. 44). Ebenso wenig stehen diesem Auslegungsergebnis, dass die Renten in der Regel sowohl monatlich als auch im Voraus auszurichten sind, Sinn und Zweck oder systematische Gesichtspunkte entgegen. Es stellt sich weiter die Frage, was unter der (auch in Art. 45
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der Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung vom 24. Mai 1946 (Separatausgabe S. 173) noch den Protokollen der parlamentarischen Beratungen (Sten.Bull. 1946 NR 627; Sten.Bull. 1946 SR 408; vgl. auch Komm. NR, Prot. vom 4. Juli 1946, (Band 1), S. 214) entnehmen. Hingegen wurde im Bericht der Eidg. Expertenkommission über die Einführung der Alters- und Hinterlassenenversicherung vom 16. März 1945 (S. 101), in dessen Erstellungszeitpunkt noch eine vorschüssige vierteljährliche statt monatliche Periodizität vorgesehen war, festgehalten, dass die Renten jeweils "zu Beginn" eines Kalenderquartals auszurichten seien. Diese Ausführungen, welche sich ohne weiteres auf die monatliche Rentenauszahlung übertragen lassen, sprechen gegen die enge Auslegung, gemäss welcher die Auszahlung bereits im Vormonat zu erfolgen hätte. Ausser Betracht fällt vom Wortlaut her und gestützt auf den Bericht der Expertenkommission aber auch die Betrachtungsweise der Beschwerdeführerin, wonach die Renten am ersten Werktag des Monates gutzuschreiben seien. Hätte der Gesetzgeber diese Lösung angestrebt, hätte er die Formulierung dahingehend gewählt, dass die Renten nicht nur im Voraus, sondern zusätzlich im Sinne eines Fälligkeitstermines je am ersten Tag des Monates zahlbar seien, wie er dies für den Bereich der Militärversicherung in Art. 45
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5. Zu prüfen ist, ob die Bestimmung des Art. 72
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BGE 127 V 1 S. 8
der dem Bundesrat im Gesetz eingeräumten Befugnisse halten. Wird dem Bundesrat durch die gesetzliche Delegation ein sehr weiter Spielraum des Ermessens für die Regelung auf Verordnungsebene eingeräumt, muss sich das Gericht auf die Prüfung beschränken, ob die umstrittenen Verordnungsvorschriften offensichtlich aus dem Rahmen der dem Bundesrat im Gesetz delegierten Kompetenzen herausfallen oder aus andern Gründen verfassungs- oder gesetzwidrig sind. Es kann jedoch sein eigenes Ermessen nicht an die Stelle desjenigen des Bundesrates setzen und es hat auch nicht die Zweckmässigkeit zu untersuchen. Die vom Bundesrat verordnete Regelung verstösst allerdings dann gegen Art. 8 Abs. 1
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SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 8 Rechtsgleichheit - 1 Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. |
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1 | Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. |
2 | Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung. |
3 | Mann und Frau sind gleichberechtigt. Das Gesetz sorgt für ihre rechtliche und tatsächliche Gleichstellung, vor allem in Familie, Ausbildung und Arbeit. Mann und Frau haben Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit. |
4 | Das Gesetz sieht Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen der Behinderten vor. |
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BGE 127 V 1 S. 9
nur unwesentlich von jener der Unfallversicherer, welche gemäss Art. 62 Abs. 1
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Zusammenfassend ergibt sich, dass, was angesichts des dem Bundesrat durch die gesetzliche Delegation eingeräumten sehr weiten Spielraumes des Ermessens für die Regelung auf Verordnungsebene einzig zu prüfen war, die umstrittene Vorschrift des Art. 72
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6. (Gerichtskosten)