127 I 31
3. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 30. August 2000 i.S. W. und Mitb. gegen K. und Mitb., Gemeinderat Untersiggenthal, Baudepartement und Verwaltungsgericht des Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste (de):
- Art. 9
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 9 Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben - Jede Person hat Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür und nach Treu und Glauben behandelt zu werden.
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 29 Allgemeine Verfahrensgarantien - 1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist. 2 Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör. 3 Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand. - Die Rechtsmittelfrist beginnt sieben Tage nach dem erfolglosen Zustellungsversuch. Es ist nicht überspitzt formalistisch, diesen Grundsatz auch dann anzuwenden, wenn die Post von sich aus eine längere Abholfrist gewährt und die Sendung erst am letzten Tag dieser Frist abgeholt wird (E. 2b). Keine Verletzung des Anspruchs auf Vertrauensschutz im vorliegenden Fall (E. 3b).
Regeste (fr):
- Art. 9 et 29 al. 1 Cst.; formalisme excessif, protection de la bonne foi; computation de délais de recours; notification fictive sept jours après la tentative infructueuse de notification par la poste.
- Le délai de recours commence sept jours après la tentative infructueuse de notification par la poste. Il n'est pas excessivement formaliste d'appliquer ce principe aussi lorsque la poste, de sa propre initiative, accorde un délai de retrait plus long et que l'envoi n'est retiré que le dernier jour de ce délai (consid. 2b). En l'espèce, pas de violation du droit à la protection de la bonne foi (consid. 3b).
Regesto (it):
- Art. 9 e 29 cpv. 1 Cost.; formalismo eccessivo, tutela della buona fede; computo del termine di ricorso; notificazione fittizia sette giorni dopo il tentativo infruttuoso di notificazione da parte della posta.
- Il termine di ricorso inizia a decorrere sette giorni dopo il tentativo infruttuoso di notificazione da parte della posta. L'applicazione di questo principio anche quando la posta, di sua iniziativa, accordi un termine di ritiro più lungo e l'invio venga ritirato solo l'ultimo giorno di questo termine non costituisce formalismo eccessivo (consid. 2b). In concreto non è stato violato il diritto alla tutela della buona fede (consid. 3b).
Sachverhalt ab Seite 32
BGE 127 I 31 S. 32
Vom 13. Juni bis zum 3. Juli 1997 legte der Gemeinderat Untersiggenthal ein Baugesuch von K. und der Firma I. öffentlich auf. Gegen das Vorhaben erhoben unter anderem R.W. und B.W. sowie H.Y. und U.Y. Einsprache. Diese wies der Gemeinderat am 9. Februar 1998 ab, soweit die darin erhobenen Forderungen nicht durch eine angeordnete Projektüberarbeitung erfüllt waren. Dieser am 12. Februar 1998 der Post übergebene Beschluss konnte dem seinerzeitigen Rechtsanwalt der genannten Einsprecher vorerst nicht zugestellt werden. Deshalb legte der Postbote eine Abholeinladung in den Briefkasten des Anwalts, mit welcher dieser aufgefordert wurde, den eingeschriebenen Brief vom 14. bis zum 23. Februar 1998 bei der Hauptpost von Baden abzuholen. Dieser Aufforderung kam der Anwalt am 23. Februar 1998 nach und führte gegen den Beschluss des Gemeinderats am 16. März 1998 (einem Montag) Verwaltungsbeschwerde an das Baudepartement des Kantons Aargau. Am 19. März 1999 entschied das Baudepartement, auf diese Beschwerde einzutreten. Es erwog, dass die Beschwerde zwar zu spät eingereicht worden sei, weil der am 13. Februar 1998 avisierte und ab 14. Februar 1998 auf der Post abholbereite Brief der Gemeinde am letzten Tag der siebentägigen in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Post vorgesehenen Frist, also am 20. Februar 1998 als zugestellt gegolten habe. Die Beschwerdefrist von 20 Tagen habe somit am 21. Februar 1998 begonnen und am 12. März 1998 geendet, womit die Beschwerde vom 16. März 1998 verspätet gewesen sei. Es erscheine jedoch auf Grund des verfassungsmässigen Anspruchs auf Vertrauensschutz gerechtfertigt, die verpasste Frist wiederherzustellen. Der Anwalt habe auf die längere, vom Postboten festgelegte Abholfrist vertrauen dürfen, und diese sei angesichts einer Abweichung von nur zwei bis drei Tagen nicht offensichtlich falsch gewesen. Nachdem es aus diesen Gründen auf die Beschwerde eintrat, wies das Baudepartement diese ab, stellte jedoch fest, dass die Ausnützungsziffer mit dem Bauprojekt überschritten werde.
BGE 127 I 31 S. 33
Gegen den Entscheid des Baudepartements vom 19. März 1999 führten sowohl K. und die Firma I. als auch R.W. und B.W. sowie H.Y. und U.Y. kantonale Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Im Rahmen der Instruktion dieser Beschwerden nahm die Post zur Frage der Frist zum Abholen der Baubewilligung Stellung. Dem Postboten seien keinerlei Gründe für eine Verlängerung der Abholfrist auf 10 Tage bekannt. Es müsse sich um ein Versehen bei deren Berechnung handeln. Dem Postboten sei auch nicht bekannt, dass der Anwalt damals um eine Fristverlängerung gebeten hätte. Mit Urteil vom 2. März 2000 beschränkte sich das Verwaltungsgericht auf einen Teilentscheid, in erster Linie zur Frage der Rechtzeitigkeit der Beschwerde an das Baudepartement vom 16. März 1998. Es erwog, dass diese Beschwerde nicht rechtzeitig gewesen sei. Ein Wiederherstellungsgesuch sei nicht rechtzeitig gestellt worden und wäre abzulehnen gewesen, weil den damaligen Vertreter ein Verschulden am Verpassen der Frist getroffen habe. Daher hiess das Verwaltungsgericht die Beschwerde von K. und der Firma I. gut, hob den Entscheid des Baudepartements auf und ersetzte ihn durch den Entscheid, auf die Beschwerde von R.W. und B.W. sowie H.Y. und U.Y. gegen die Baubewilligung nicht einzutreten. R.W. und B.W. sowie H.Y. und U.Y. führen gegen den Teilentscheid des Verwaltungsgerichts staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, diesen aufzuheben. Sie rügen, es sei überspitzt formalistisch, die Rechtsmittelfrist nicht vom letzten auf der Abholeinladung angezeigten Tag der Abholfrist an laufen zu lassen und vom Anwalt zu verlangen, dass er die Berechnung der Abholfrist durch die Post auf ihre Übereinstimmung mit den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Post überprüfe. Jedenfalls ergebe sich aus dem verfassungsmässigen Anspruch auf Vertrauensschutz, dass sich der Anwalt auf die auf der Abholeinladung angegebene Frist verlassen dürfe. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2. Die Beschwerdeführer kritisieren zunächst die Annahme des Verwaltungsgerichts, wonach die Rechtsmittelfrist gegen den gemeinderätlichen Entscheid am siebten Tag der ihrem damaligen Anwalt gesetzten Abholfrist zu laufen begonnen habe und nicht erst am Ende der von der Post gesetzten Abholfrist. Sie rügen, dies sei überspitzt formalistisch.
BGE 127 I 31 S. 34
a) aa) Die Grundsätze, nach denen eine eingeschriebene Sendung als zugestellt gilt, wenn das kantonale Recht diese Frage - wie im Kanton Aargau - nicht regelt, werden von den Beschwerdeführern grundsätzlich anerkannt und richtig wiedergegeben. Wird der Adressat anlässlich einer versuchten Zustellung nicht angetroffen und daher eine Abholeinladung in seinen Briefkasten oder sein Postfach gelegt, so gilt nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung die Sendung in jenem Zeitpunkt als zugestellt, in welchem sie auf der Post abgeholt wird; geschieht das nicht innert der Abholfrist, die sieben Tage beträgt, so gilt die Sendung als am letzten Tag dieser Frist zugestellt, sofern der Adressat mit der Zustellung hatte rechnen müssen (BGE 123 III 492 E. 1 S. 493; BGE 119 V 89 E. 4b S. 94 mit Hinweisen). Die siebentägige Frist war früher in Art. 169 Abs. 1 lit. d und e der Verordnung 1 vom 1. September 1967 zum Postverkehrsgesetz (AS 1967 S. 1462) vorgesehen. Diese Verordnung ist mit Art. 13 lit. a
SR 783.01 Postverordnung vom 29. August 2012 (VPG) VPG Art. 13 Umgang mit Adressdaten - Die Anbieterin hat ihre Kundinnen und Kunden über den Umgang mit Adressdaten und die Widerspruchsmöglichkeiten zu informieren. |
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 29 Allgemeine Verfahrensgarantien - 1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist. |
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1 | Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist. |
2 | Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör. |
3 | Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand. |
BGE 127 I 31 S. 35
nach den anwendbaren Bestimmungen der Post auch noch länger möglich ist, etwa in Folge eines Zurückbehaltungsauftrags (BGE 123 III 492 E. 1 S. 493 mit Hinweis). Auch andere Abmachungen mit der Post können den Eintritt der Zustellfiktion nicht hinausschieben. Bisher wurden zwar nur Fälle entschieden, in denen der Postkunde für die Verlängerung der Abholfrist verantwortlich war, während im vorliegenden Fall die Post spontan die Abholfrist verlängerte. Es ist jedoch nicht überspitzt formalistisch, auch im letzteren Fall die Zustellfiktion unabhängig von der postalischen Abholfrist eintreten zu lassen. Die beiden Fristen dienen, obwohl die eine historisch auf die andere zurückgeht und regelmässig mit ihr übereinstimmt, wie eingangs erwähnt verschiedenen Zwecken. Für die Festlegung des Zeitpunkts der Zustellfiktion ist eine klare, einfache und vor allem einheitliche Regelung notwendig (BGE 123 III 492 E. 1 S. 493 f. mit Hinweis). Dies ist auch für die verfügenden Behörden, allfällige Gegenparteien und die Rechtsmittelbehörden wichtig. Gerade weil die Post heute unternehmerische Freiheit geniesst und ihre Mitarbeiter nicht mehr wie Beamte direkt an die Grundsätze staatlichen Handelns gebunden sind, darf sich der Eintritt der Zustellfiktion nicht an kundenfreundlichen oder irrtümlichen Anpassungen der Abholfrist im Einzelfall orientieren. In diesem Umfeld ist es nicht überspitzt formalistisch, die Zustellfiktion - unabhängig von der konkreten durch die Post gewährten Abholfrist - immer sieben Tage nach dem erfolglosen Zustellversuch eintreten zu lassen. Dies muss auch dann gelten, wenn der letzte Tag der siebentägigen Frist auf einen Samstag oder einen anerkannten Feiertag fällt. Am siebten Tag endet normalerweise die Abholfrist; auf Grund der Zustellfiktion markiert dieser Tag zugleich den Beginn der Rechtsmittelfrist; für deren Berechnung spielt es keine Rolle, ob sie an einem Werktag oder an einem Samstag bzw. einem anerkannten Feiertag beginnt (vgl. im Übrigen zur Berechnung und Einhaltung von Fristen ganz allgemein Art. 32
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 29 Allgemeine Verfahrensgarantien - 1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist. |
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1 | Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist. |
2 | Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör. |
3 | Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand. |
3. Die Beschwerdeführer rügen weiter, es verstosse gegen das verfassungsmässige Gebot des Vertrauensschutzes, die Zustellfiktion nach sieben Tagen eintreten zu lassen, wenn die Post von sich aus eine längere Abholfrist gewähre. Dies insbesondere, wenn diese Abholfrist nicht offensichtlich zu lange sei.
BGE 127 I 31 S. 36
a) Das in Art. 9
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 9 Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben - Jede Person hat Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür und nach Treu und Glauben behandelt zu werden. |
BGE 127 I 31 S. 37
hervorgegangen. Die auf dieser vom Postboten unter der Rubrik "Datum der Vorweisung" gemachte Eintragung kann als "18.2.98" gelesen werden. In der Beschwerde wird dies beiläufig erwähnt. Es ist jedoch fraglich, ob die Beschwerdeführer damit behaupten, sie hätten auf den 18. Februar 1998 als Datum des die siebentägige Frist auslösenden Zustellversuchs vertraut. Selbst wenn diese Rüge vorgebracht und in der von Art. 90 Abs. 1 lit. b
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 9 Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben - Jede Person hat Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür und nach Treu und Glauben behandelt zu werden. |
Für die Bestimmung des Datums des Zustellversuchs muss auf die Angaben auf der Abholeinladung abgestellt werden. Die Beschwerdeführer haben jedoch im kantonalen Verfahren anerkannt, dass der Zustellversuch am 13. Februar 1998 erfolgte. Sie führen auch in ihrer staatsrechtlichen Beschwerde aus, der Postbote hätte die siebentägige Frist "mit dem Tag der erfolglosen Zustellung, also dem 13. Februar" beginnen lassen müssen. Ausserdem bezeichnet die Abholeinladung eindeutig den 14. Februar 1998 als Beginn der Abholmöglichkeit. Diese kann bestimmungsgemäss nicht vor dem erfolglosen Zustellversuch beginnen. Die kantonale Beschwerde wäre daher verspätet gewesen, auch wenn man wegen der unklaren Angaben über das Datum des Zustellversuchs zu Gunsten der Beschwerdeführer davon ausgehen würde, der die Frist auslösende Zustellversuch sei erst am 14. Februar 1998 erfolgt. Die siebentägige Frist hätte diesfalls am 21. Februar 1998 und die 20-tägige Rechtsmittelfrist am 13. März 1998 geendet (vgl. Art. 32 Abs. 1
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 9 Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben - Jede Person hat Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür und nach Treu und Glauben behandelt zu werden. |
dd) Aus dem verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz ergibt sich somit nicht, dass die Beschwerde gegen die gemeinderätliche Baubewilligung als rechtzeitig erhoben angesehen werden musste.