125 II 554
56. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 6. Dezember 1999 i.S. A.H. und B.H. gegen Kantonales Sozialamt Graubünden und Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
Regeste (de):
- Art. 12 Abs. 2
SR 312.5 Bundesgesetz vom 23. März 2007 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG) - Opferhilfegesetz
OHG Art. 12 Beratung - 1 Die Beratungsstellen beraten das Opfer und seine Angehörigen und unterstützen sie bei der Wahrnehmung ihrer Rechte.
1 Die Beratungsstellen beraten das Opfer und seine Angehörigen und unterstützen sie bei der Wahrnehmung ihrer Rechte. 2 Erhalten die Beratungsstellen eine Meldung nach Artikel 8 Absatz 1 oder 2, so nehmen sie mit dem Opfer oder seinen Angehörigen Kontakt auf.12 - Zur Bemessung der Genugtuung nach Art. 12 Abs. 2
SR 312.5 Bundesgesetz vom 23. März 2007 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG) - Opferhilfegesetz
OHG Art. 12 Beratung - 1 Die Beratungsstellen beraten das Opfer und seine Angehörigen und unterstützen sie bei der Wahrnehmung ihrer Rechte.
1 Die Beratungsstellen beraten das Opfer und seine Angehörigen und unterstützen sie bei der Wahrnehmung ihrer Rechte. 2 Erhalten die Beratungsstellen eine Meldung nach Artikel 8 Absatz 1 oder 2, so nehmen sie mit dem Opfer oder seinen Angehörigen Kontakt auf.12 - Von der Regel, wonach die Genugtuung unabhängig von den Lebenshaltungskosten am Wohnsitz des Berechtigten festzusetzen ist, darf nur in besonderen Fällen abgewichen werden (E. 2b).
- Die Genugtuung für ein in der Vojvodina lebendes Opfer darf angesichts der dortigen markant tieferen Lebenshaltungskosten gekürzt werden (E. 3). Die Reduktion darf aber nicht schematisch im gleichen Verhältnis erfolgen, in dem Lebenshaltungskosten am Wohnsitz des Ansprechers tiefer sind als in der Schweiz (E. 4a). Reduktion der Genugtuung um die Hälfte unter den gegebenen Umständen (E. 4b).
Regeste (fr):
- Art. 12 al. 2 LAVI; évaluation de l'indemnité pour tort moral; prise en considération du coût de la vie moins élevé au domicile de la victime à l'étranger.
- Les principes du droit civil sont applicables par analogie à l'évaluation de l'indemnité pour tort moral selon l'art. 12 al. 2 LAVI (consid. 2a).
- On ne peut déroger que dans des cas particuliers à la règle selon laquelle l'indemnité pour tort moral est évaluée indépendamment du coût de la vie au domicile de l'ayant droit (consid. 2b).
- L'indemnité pour tort moral d'une victime domiciliée en Voïvodine peut être réduite, compte tenu du coût de la vie nettement inférieur existant dans cette province yougoslave (consid. 3). La réduction ne peut toutefois pas être effectuée schématiquement, selon le rapport du coût de la vie au domicile du demandeur avec celui de la Suisse (consid. 4a). Dans les circonstances d'espèce, réduction de moitié de l'indemnité (consid. 4b).
Regesto (it):
- Art. 12 cpv. 2 LAV; calcolo dell'importo dovuto a titolo di riparazione morale; considerazione del costo della vita meno elevato al domicilio straniero della vittima.
- Al calcolo dell'importo dovuto a titolo di riparazione morale secondo l'art. 12 cpv. 2 LAV sono applicabili per analogia i principi del diritto civile (consid. 2a).
- Solo in casi particolari è possibile derogare alla regola secondo la quale l'importo dovuto a titolo di riparazione morale è stabilito indipendentemente dal costo della vita al domicilio dell'avente diritto (consid. 2b).
- Tenuto conto del costo della vita nettamente inferiore in Vojvodina, l'importo dovuto a titolo di riparazione morale per una vittima ivi risiedente può essere ridotto (consid. 3). La riduzione non può tuttavia essere effettuata schematicamente secondo il rapporto esistente tra il costo della vita, meno elevato, al domicilio del richiedente e il costo della vita in Svizzera (consid. 4a). In concreto, riduzione di metà dell'importo dovuto a titolo di riparazione morale (consid. 4b).
Sachverhalt ab Seite 555
BGE 125 II 554 S. 555
C.H. wurde am 16. Oktober 1994 von der Polizei in ihrer Wohnung tot aufgefunden. Die Untersuchungsbehörden gehen davon aus, dass ein Bekannter sie erdrosselt hat. Das Tötungsdelikt ist jedoch bis heute unaufgeklärt, da der Tatverdächtige nicht gefunden werden konnte. Die Verstorbene hinterliess die beiden Töchter A.H., geboren 1985, und B.H., geboren 1987. E.H., der Ehemann von C.H. und Vater der beiden Töchter, verlor 1992 seine Arbeitsstelle in der Schweiz und lebt seither bei seinen Eltern in Jermenovci in der Vojvodina. Nach dem Tod ihrer Mutter zogen A.H. und B.H. zu ihrem Vater und dessen Eltern.
A.H. und B.H. machten wegen des Todesfalls gestützt auf das Bundesgesetz über die Opferhilfe vom 4. Oktober 1991 (OHG; SR 312.5) beim Kantonalen Sozialamt Graubünden Genugtuungsansprüche geltend. Die beiden Töchter verlangten je Fr. 50'000.--. Das Sozialamt sprach ihnen am 29. Juli 1998 eine Genugtuung von je Fr. 2'500.-- zu. Einen gegen diesen Entscheid erhobenen Rekurs der Gesuchstellerinnen wies das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden am 3. Dezember 1998 ab. A.H. und B.H. haben das Urteil des Verwaltungsgerichts beim Bundesgericht angefochten. Es heisst ihre Verwaltungsgerichtsbeschwerde gut.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2. a) Das Opferhilfegesetz enthält keine Bestimmungen über die Bemessung der Genugtuung gemäss Art. 12 Abs. 2
SR 312.5 Bundesgesetz vom 23. März 2007 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG) - Opferhilfegesetz OHG Art. 12 Beratung - 1 Die Beratungsstellen beraten das Opfer und seine Angehörigen und unterstützen sie bei der Wahrnehmung ihrer Rechte. |
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1 | Die Beratungsstellen beraten das Opfer und seine Angehörigen und unterstützen sie bei der Wahrnehmung ihrer Rechte. |
2 | Erhalten die Beratungsstellen eine Meldung nach Artikel 8 Absatz 1 oder 2, so nehmen sie mit dem Opfer oder seinen Angehörigen Kontakt auf.12 |
BGE 125 II 554 S. 556
zivilrechtlichen Ansprüchen gemäss Art. 47
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 47 - Bei Tötung eines Menschen oder Körperverletzung kann der Richter unter Würdigung der besonderen Umstände dem Verletzten oder den Angehörigen des Getöteten eine angemessene Geldsumme als Genugtuung zusprechen. |
b) Nach der Rechtsprechung sind bei der zivilrechtlichen Bemessung der Genugtuung die Lebenshaltungskosten des Berechtigten an seinem ausländischen Wohnsitz grundsätzlich nicht zu berücksichtigen. Das Bundesgericht hielt in einem neueren Entscheid fest, die Genugtuung stelle im Unterschied zur Schadenersatzleistung nicht einen Ausgleich für eine Vermögensminderung dar. Sie solle vielmehr den Schmerz durch eine Geldsumme aufwiegen. Diese Geldsumme sei nach dem am Gerichtsstand geltenden Recht zu bemessen ohne Rücksicht darauf, wo der Kläger lebe und was er mit dem Geld machen werde (BGE 121 III 252 E. 2b S. 255 f.).
Von der Regel, wonach die Genugtuung nach dem am Gerichtsstand geltenden Recht festzusetzen ist, kann allerdings in besonderen Fällen abgewichen werden. So hat das Bundesgericht erklärt, die Unterschiede in den Lebenshaltungskosten zwischen der Schweiz und dem ausländischen Wohnort des Berechtigten könnten so gross sein, dass ihnen bei der Bemessung der Genugtuung Rechnung getragen werden müsse. Wo die wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten von den hiesigen Verhältnissen markant abwichen, könne die Zusprechung einer Genugtuungssumme in der Höhe, wie sie grundsätzlich nach schweizerischem Recht zu bemessen wäre, zu einer krassen Besserstellung des Ansprechers und somit zu einem Ergebnis führen, das nach Abwägung aller Interessen mit sachlichen Gründen nicht zu rechtfertigen und daher unbillig wäre (BGE 123 III 10 E. 4c/bb S. 14 f.).
3. Das Verwaltungsgericht gelangte zum Schluss, dass im Lichte der angeführten Rechtsprechung die sehr viel tieferen Lebenshaltungskosten in der Vojvodina im vorliegenden Fall bei der Bemessung der Genugtuung berücksichtigt werden müssten. Die Beschwerdeführerinnen bestreiten dies. Sie werfen dem Verwaltungsgericht vor, die Lebenshaltungskosten in der Vojvodina
BGE 125 II 554 S. 557
offensichtlich unrichtig und unvollständig ermittelt zu haben. Ausserdem halten sie eine Kürzung der Genugtuung auch im Blick auf ihre besondere Beziehung zur Schweiz für unzulässig. a) Nach dem angefochtenen Entscheid ist die Kaufkraft in Jermenovci rund 18-mal grösser als in der Schweiz. Diese Feststellung gründet einerseits auf einer Auskunft der Schweizer Botschaft in Belgrad, wonach der Lohn einer unqualifizierten Arbeitskraft umgerechnet Fr. 120.-- bis Fr. 150.--, maximal Fr. 200.- betrage. Andererseits stützt sie sich auf ein Schreiben von F.X. und G.I.X. an den Rechtsvertreter der Beschwerdeführerinnen. Darin wird ausgeführt, der Durchschnittslohn in Jugoslawien liege bei DM 200.- bis DM 300.-. Das Verwaltungsgericht stellte auf diese beiden voneinander unabhängigen Auskünfte ab, zumal sie im Wesentlichen übereinstimmten, und gelangte unter Annahme eines durchschnittlichen Monatslohns in der Schweiz von Fr. 3'500.-- zur genannten rund 18-mal grösseren Kaufkraft in der Vojvodina. Bei dieser Berechnung handelt es sich offensichtlich nicht um eine exakte Ermittlung der Kaufkraftunterschiede zwischen der Schweiz und der Vojvodina. Das Verwaltungsgericht nahm sie vor, um aufzuzeigen, dass die Lebenshaltungskosten in der Vojvodina jedenfalls so erheblich von jenen in der Schweiz abweichen, dass nach der angeführten Rechtsprechung eine Reduktion der zuzusprechenden Genugtuungen geboten erscheint. Unter diesen Umständen, und weil eine schematische Berücksichtigung des Kaufkraftunterschiedes ohnehin nicht zulässig ist (E. 4 unten), kommt den Einwänden, welche die Beschwerdeführerinnen gegen die Bestimmung des Monatslohnes in der Vojvodina erheben, keine ausschlaggebende Bedeutung zu. Auch wenn mit Blick auf die landwirtschaftliche Selbstversorgung und die Schwarzarbeit die Einkommensverhältnisse in Jermenovci etwas anders aussehen sollten, als es im angefochtenen Entscheid dargelegt wird, vermöchte dies den markanten Kaufkraftunterschied nicht in Frage zu stellen. Der Verweis auf den Entscheid des Zürcher Sozialversicherungsgerichts vom 28. Mai 1996 (ZR 95/1996 Nr. 65) geht schon deshalb fehl, weil in ihm erhebliche Kaufkraftdifferenzen, die eine Reduktion der Genugtuungssummen rechtfertigen, gerade bejaht werden. Im Übrigen bezieht sich der Entscheid auf die Verhältnisse im Kosovo, die nicht ohne weiteres mit jenen in der Vojvodina zu vergleichen sind. Ausserdem enthält der Entscheid keinerlei Hinweise, dass auf Grund der tatsächlichen Verhältnisse ein Schwarzmarktzuschlag von 40% vorgenommen werden müsste. Das
BGE 125 II 554 S. 558
Gericht begnügte sich im genannten Fall lediglich mit einer hypothetischen Berechnung, bei der es dem entsprechenden Antrag des damaligen Beschwerdeführers folgte. Schliesslich bestätigt auch die Liste der Zulagenansätze für Kinder im Ausland des Kantons St. Gallen, welche die Beschwerdeführerinnen eingereicht haben, die erheblichen Kaufkraftunterschiede zwischen der Schweiz und Jugoslawien. Danach erhalten Kinder aus Jugoslawien lediglich einen Viertel der Zulage, die in der Schweiz geschuldet ist. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerinnen kann daraus jedoch nicht abgeleitet werden, dass die Lebenshaltungskosten in Jugoslawien lediglich um das 4-fache geringer seien als in der Schweiz, da die Ausrichtung noch tieferer Zulagen gar nicht vorgesehen ist. Bei dieser Sachlage erscheint die Feststellung des Verwaltungsgerichts, zwischen Jermenovci und der Schweiz bestünden markante Kaufkraftunterschiede, ohne weiters vertretbar und jedenfalls nicht offensichtlich unrichtig im Sinne von Art. 105 Abs. 2
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 47 - Bei Tötung eines Menschen oder Körperverletzung kann der Richter unter Würdigung der besonderen Umstände dem Verletzten oder den Angehörigen des Getöteten eine angemessene Geldsumme als Genugtuung zusprechen. |
4. Die Beschwerdeführerinnen kritisieren auch den Umfang, in dem die kantonalen Behörden die Genugtuung im Blick auf die
BGE 125 II 554 S. 559
geringeren Lebenshaltungskosten in Jermenovci kürzten. Mit ihrem Eventualantrag verlangen sie die Zusprechung einer um höchstens zwei Drittel reduzierten Genugtuungssumme. In der Beschwerdebegründung dagegen machen sie geltend, ihre Genugtuungen dürften höchstens um die Hälfte gekürzt werden. a) Nach der erwähnten Rechtsprechung sind bei der Festsetzung der Genugtuung die Lebenshaltungskosten am Ort des Berechtigten nur ausnahmsweise - bei besonders grossen Unterschieden zu den hiesigen Verhältnissen - zu berücksichtigen. Die Genugtuung ist in einem solchen Fall so zu bemessen, dass sie nicht zu einer krassen Besserstellung des im Ausland lebenden Ansprechers führt. Die Höhe der Genugtuung soll nach Abwägung aller Interessen den besonderen Umständen entsprechen und nicht unbillig erscheinen (BGE 123 III 10 E. 4b/cc S. 15). Dies bedeutet, dass dort, wo tieferen Lebenshaltungskosten bei der Bemessung der Genugtuung ausnahmsweise Rechnung zu tragen ist, dies nicht schematisch im gleichen oder annähernd gleichen Verhältnis, wie die Lebenshaltungskosten am Wohnsitze des Ansprechers tiefer als in der Schweiz sind, erfolgen darf. Andernfalls würde die Ausnahme zur Regel, was nicht der Sinn der in BGE 123 III 10 weiter entwickelten Rechtsprechung ist. Dort wurde ausdrücklich am Grundsatz der Zusprechung der Genugtuung ohne Rücksicht darauf, wo der Ansprecher lebt und was er mit dem Geld machen wird, festgehalten. Es wurde bei der Beurteilung des konkreten Falles insbesondere auch berücksichtigt, dass die Eltern des Opfers seit jeher in China lebten und dort auch in Zukunft leben würden. Auch der Ansprecher, der in einem Land mit sehr viel niedrigeren Lebenshaltungskosten als in der Schweiz lebt, soll nicht daran gehindert werden, wieder in der Schweiz oder einem Land mit ähnlich hohen Lebenshaltungskosten zu leben (vgl. BGE 121 III 252 E. 2 S. 256). Im vorliegenden Fall haben sich die kantonalen Behörden bei der Reduktion der Genugtuungssumme fast ausschliesslich vom festgestellten Kaufkraftunterschied leiten lassen. Die den Beschwerdeführerinnen zugesprochenen Genugtuungssummen sind 14-mal tiefer als jene, die einem Berechtigten in der Schweiz zustünden, während der vom Verwaltungsgericht festgestellte Kaufkraftunterschied rund das 18-fache beträgt. Diese schematische Kürzung der Genugtuungssummen ist nach dem Gesagten unzulässig. Die Vorinstanz wich damit von den in der Rechtsprechung entwickelten Bemessungsgrundsätzen ab und verletzte daher Bundesrecht. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist aus diesem Grunde gutzuheissen
BGE 125 II 554 S. 560
und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Da die Angelegenheit spruchreif ist, kann das Bundesgericht selbst in der Sache entscheiden und ist diese nicht an die Vorinstanz zu neuer Beurteilung zurückzuweisen (Art. 114 Abs. 2
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 47 - Bei Tötung eines Menschen oder Körperverletzung kann der Richter unter Würdigung der besonderen Umstände dem Verletzten oder den Angehörigen des Getöteten eine angemessene Geldsumme als Genugtuung zusprechen. |