BGE-124-IV-114
Urteilskopf
124 IV 114
21. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 30. April 1998 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell A.Rh. gegen H. (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste (de):
- Fahrlässige Störung des Eisenbahnverkehrs (Art. 238 Abs. 2
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 238
- Eine Schnellbremsung und ein Zusammenstoss einer Eisenbahn mit einem Motorfahrzeug begründen nicht ohne weiteres eine erhebliche Gefährdung im Sinne dieser Bestimmung. Massgebend sind die tatsächlichen Umstände des konkreten Einzelfalls.
Regeste (fr):
- Entrave - par négligence - au service des chemins de fer (art. 238 al. 2 CP); sérieuse mise en danger de la vie ou de l'intégrité corporelle de personnes, ou de la propriété d'autrui.
- Le freinage d'urgence d'un train, suivi d'une collision avec un véhicule à moteur, ne crée pas nécessairement un sérieux danger au sens de cette disposition. Les circonstances concrètes du cas sont déterminantes à cet égard.
Regesto (it):
- Perturbamento - per negligenza - del servizio ferroviario (art. 238 cpv. 2 CP); grave esposizione a pericolo della vita o dell'integrità delle persone, o della proprietà altrui.
- La frenata d'urgenza di un treno e il susseguente scontro con un veicolo a motore non creano necessariamente una situazione di grave esposizione a pericolo ai sensi di questa norma. Determinanti sono le circostanze concrete del caso.
Sachverhalt ab Seite 114
BGE 124 IV 114 S. 114
A.- Am 11. August 1995, um ca. 16.35 Uhr, kam es auf dem unbewachten, mit einem einfachen Andreaskreuz versehenen Bahnübergang "Ebni" in Teufen zu einem Zusammenstoss zwischen einer aus Richtung Bühler herannahenden Zugskomposition der Appenzeller Bahnen und dem von H. gelenkten Personenwagen.
BGE 124 IV 114 S. 115
H. wollte in die Hauptstrasse einbiegen und hatte dabei das Vortrittsrecht sowohl der Bahn als auch der auf der Hauptstrasse verkehrenden Fahrzeuge zu beachten. Bei seinem Einbiegemanöver hielt er im Lichtraumprofil der Bahn unmittelbar vor dem Geleise an. Sein Fahrzeug wurde daher im vorderen Bereich von der Eisenbahn erfasst, obschon der Zugführer nach Abgabe eines Pfeifsignals eine Schnellbremsung eingeleitet hatte, und es wurde infolge der Kollision zur Seite geschoben, so dass es nach einer Strecke von ca. 13 Metern neben dem Geleise zum Stehen kam. Der Zug kam rund 30 Meter nach der Kollisionsstelle zum Stillstand. Personen wurden nicht verletzt. Am Zug entstanden Lackschäden im Schadensbetrag von ca. Fr. 1'500.--; der fünfjährige Personenwagen von H. erlitt Totalschaden (Fr. 8'000.--). Der Zug konnte seine Fahrt nach 13 Minuten fortsetzen.
B.- Das Kantonsgericht von Appenzell Ausserrhoden sprach H. am 29. Mai 1997 der fahrlässigen Störung des Eisenbahnverkehrs (Art. 238 Abs. 2

SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 238 |
C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell A.Rh. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der Entscheid des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zur Verurteilung von H. wegen fahrlässiger Störung des Eisenbahnverkehrs (Art. 238 Abs. 2

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Erwägungen
aus folgenden Erwägungen:
1. Wer vorsätzlich den Eisenbahnverkehr hindert, stört oder gefährdet und dadurch wissentlich Leib und Leben von Menschen oder fremdes Eigentum in Gefahr bringt, namentlich die Gefahr eines Zusammenstosses oder einer Entgleisung herbeiführt, wird mit Zuchthaus oder mit Gefängnis bestraft (Art. 238 Abs. 1

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BGE 124 IV 114 S. 116
wenn nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge die Wahrscheinlichkeit oder nahe Möglichkeit der Verletzung des geschützten Rechtsgutes besteht (BGE 123 IV 128 E. 2a S. 130 mit Hinweisen). Art. 238 Abs. 2

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2. Im vorliegenden Fall kam es infolge des Fehlverhaltens des Beschwerdegegners, der seinen Personenwagen im Lichtraumprofil der Bahn angehalten hatte, zur Kollision. Der dabei an der Zugskomposition entstandene Sachschaden im Betrag von ca. Fr. 1'500.-- ist gering, und die Gefahr, die sich damit an fremdem Eigentum verwirklicht hat, war daher keine erhebliche im Sinne von Art. 238 Abs. 2

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BGE 124 IV 114 S. 117
Art. 238 Abs. 2

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3. a) Die Vorinstanz hält unter Hinweis auf BGE 116 IV 44 E. 1 zunächst fest, dass eine Kollision mit einer in Bewegung befindlichen Eisenbahn immer auch eine Gefährdung des Eisenbahnverkehrs darstelle, da in aller Regel Sachschaden entstehe und allenfalls durch eine Schnellbremsung Passagiere verletzt werden können. Daraus ergebe sich indessen, wie das Bundesgericht im zitierten Entscheid erkannt habe, nicht ohne weiteres auch eine erhebliche Gefährdung von Leib und Leben oder fremdem Eigentum. Die Vorinstanz kommt abweichend von der ersten Instanz zum Schluss, dass die Schnellbremsung, welche der Zugführer infolge des Fehlverhaltens des Beschwerdegegners habe einleiten müssen, keine erhebliche Gefährdung im Sinne von Art. 238 Abs. 2

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BGE 124 IV 114 S. 118
nachgewiesener Ruck unmittelbar vor dem Stillstand aufgetreten sein könnte, war nach der Auffassung der Vorinstanz der Bereich des Zumutbaren noch nicht überschritten. Denn in der letzten Phase des Bremsens sei ein allenfalls stehender Zugspassagier auf den Schlussruck gefasst. Das Überraschungsmoment sei in diesem Fall jedenfalls kleiner als etwa beim plötzlichen Auftreten von Schwingungen beim Überfahren von Weichen. Eine Verzögerung von nicht einmal 1 m/sec2 entspreche etwa dem Fall, in dem ein langsam gehender Mensch innert einer Sekunde stillstehe. Demnach sei eine erhebliche Gefährdung im Sinne von Art. 238 Abs. 2

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BGE 124 IV 114 S. 119
Vorinstanz diese Fakten nicht beachtet und eine erhebliche Gefährdung im Sinne von Art. 238 Abs. 2

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Die Antwort auf die Frage, ob nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge die Wahrscheinlichkeit oder nahe Möglichkeit einer Verletzung der geschützten Rechtsgüter im erforderlichen Ausmass bestanden habe, beruht zwar weitgehend auf Mutmassungen. Dabei ist aber von den festgestellten tatsächlichen Ereignissen auszugehen und dürfen nicht auch darüber abweichende Spekulationen angestellt werden. Dies verkennt die Beschwerdeführerin, wenn sie beispielsweise stets von einer "heftigen" Kollision ausgeht und annimmt, dass "mit dem Bremsvorgang und der heftigen Kollision eine ruckartige Bewegung erfolgte, also beispielsweise die Puffer ineinandergeschoben wurden, sich wieder lösten und einen (zusätzlichen) Umkehrschub bewirkten". Damit geht die Beschwerdeführerin in unzulässiger Weise von einem Sachverhalt aus, der im angefochtenen Urteil nicht festgestellt worden ist. Die Kollision war zwar aus der Sicht des Beschwerdegegners heftig, da sein Personenwagen von der Zugskomposition weggeschoben und dabei total beschädigt wurde, wobei die Fahrzeuginsassen aber unverletzt blieben. Dies bedeutet indessen nicht eo ipso, dass der Zusammenstoss auch aus der massgeblichen Sicht der Zugspassagiere "heftig" gewesen sei und sich Rucke sowie Umkehrschübe ereignet hätten, wodurch die Passagiere erheblich gefährdet worden seien.
BGE 124 IV 114 S. 120
Eine Schnellbremsung und eine Kollision können im allein massgebenden konkreten Einzelfall für die durch Art. 238

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4. (Kostenfolgen)
Gesetzesregister
StGB 238
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