122 III 316
57. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 11. September 1996 i.S. F. gegen R. (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste (de):
- Art. 274f Abs. 1
Satz 2 OR. Beginn des Laufs der dreissigtägigen Klagefrist.
- Die Klagefrist beginnt zu laufen, sobald die Schlichtungsbehörde das Nichtzustandekommen einer Einigung ausdrücklich festgestellt und diese Feststellung den Parteien mündlich oder schriftlich eröffnet hat (E. 2).
- Folgt einer mündlichen Eröffnung eine schriftliche Mitteilung nach, in der der Beginn des Fristenlaufs unrichtig angegeben wird, ist das Vertrauen darauf zu schützen (E. 3).
- Zeitpunkt, in dem behördliche Mitteilungen als zugestellt zu gelten haben (E. 4).
Regeste (fr):
- Art. 274f al. 1 2ème phrase CO. Début du délai de trente jours pour ouvrir action.
- Le délai pour intenter action commence à courir lorsque l'autorité de conciliation a expressément constaté l'échec de la tentative de conciliation et a communiqué oralement ou par écrit cette constatation aux parties (consid. 2).
- La confiance doit être protégée lorsqu'elle repose sur une confirmation écrite faisant suite à une communication orale et indiquant faussement le début du délai (consid. 3).
- Moment à partir duquel les communications de l'autorité sont réputées notifiées (consid. 4).
Regesto (it):
- Art. 274f cpv. 1 seconda frase CO. Inizio del termine di trenta giorni per promuovere l'azione.
- Il termine per promuovere l'azione principia a decorrere non appena l'autorità di conciliazione accerta espressamente la mancata intesa e comunica oralmente o per iscritto tale accertamento alle parti (consid. 2).
- È da proteggere l'affidamento riposto in una comunicazione scritta - successiva ad una comunicazione orale - che riporta in modo errato l'inizio di decorrenza del termine (consid. 3).
- Momento a partire dal quale le comunicazioni dell'autorità sono reputate notificate (consid. 4).
Sachverhalt ab Seite 317
BGE 122 III 316 S. 317
A.- In einer Mietstreitigkeit zwischen F. als Vermieter und R. als Mieter beraumte die Schlichtungsbehörde Uri auf Begehren des Vermieters auf den 15. Dezember 1995 eine Schlichtungsverhandlung an. Zu dieser Verhandlung erschien der Mieter nicht. In einer schriftlichen Mitteilung an die Parteien vom 21. Dezember 1995 stellte die Schlichtungsbehörde daraufhin das Nichtzustandekommen der Einigung fest. Am 24. Januar 1996 klagte F. beim Landsgerichtspräsidium Ursern gegen R. auf Bezahlung von Fr. 2'371.80. In seinem Urteil vom 25. März 1996 hielt das Landgerichtspräsidium F. vor, die Klagefrist von 30 Tagen gemäss Art. 274f Abs. 1
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B.- Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde von F. gut und hebt das Urteil des Landgerichtspräsidiums auf.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2. Hat in einer Mietstreitigkeit die Schlichtungsbehörde das Nichtzustandekommen der Einigung festgestellt, so muss nach Art. 274f Abs. 1
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BGE 122 III 316 S. 318
dieses bundesrechtlichen Rechtsschutzanspruchs ist die Regelung der Klagefrist in Art. 274f Abs. 1
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BGE 122 III 316 S. 319
Nichtzustandekommen der Einigung nicht bereits in der Schlichtungsverhandlung, sondern erst in einer späteren schriftlichen Mitteilung an die Parteien ausdrücklich fest, so beginnt die dreissigtägige Frist erst mit deren Zustellung zu laufen.
3. Aus den Akten geht nicht hervor, ob die Schlichtungsbehörde bereits an der Verhandlung vom 15. Dezember 1995 das Nichtzustandekommen der Einigung festgestellt hat oder ob sie diese Feststellung erst in der schriftlichen Mitteilung vom 21. Dezember 1995 ausdrücklich getroffen hat. Aufgrund der besonderen Umstände kann die Frage jedoch im vorliegenden Fall offen bleiben. Entscheidend ist nämlich, dass die Schlichtungsbehörde in der schriftlichen Mitteilung vom 21. Dezember 1995 festgehalten hat, der Beschwerdeführer könne seine Forderung, wenn er sie durchsetzen wolle, innert 30 Tagen beim Präsidium des Landgerichts Ursern geltend machen. Diesen Hinweis durfte der Beschwerdeführer nach Treu und Glauben dahin verstehen, dass die Frist mit der Mitteilung, in der er auf sie aufmerksam gemacht wurde, zu laufen begann. Er durfte daher in guten Treuen davon ausgehen, er habe vom Zeitpunkt der Zustellung der Mitteilung an gerechnet 30 Tage Zeit, um die Klage anzuheben. Und darauf durfte er sich selbst dann verlassen, wenn die Angabe der Schlichtungsbehörde falsch gewesen sein sollte, weil die Feststellung des Nichtzustandekommen der Einigung bereits an der Schlichtungsverhandlung erfolgt war und die Frist gemäss Art. 274f Abs. 1
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4. Damit bleibt zu prüfen, ob der Beschwerdeführer die Frist von 30 Tagen seit der Zustellung der Mitteilung der Schlichtungsbehörde gewahrt hat, indem er die Klage am 24. Januar 1996 eingereicht hat. Das Landgerichtspräsidium verneint dies, weil es davon ausgeht, die Zustellung der Mitteilung sei bereits am 21. Dezember 1995, dem Datum ihrer Postaufgabe, erfolgt. Der Beschwerdeführer rügt diese Auffassung als willkürlich; massgebend sei, dass ihm die Mitteilung erst am 27. Dezember 1995 ausgehändigt worden sei.
a) Ein Verstoss gegen das aus Art. 4
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SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
BGE 122 III 316 S. 320
angefochtene Entscheid nicht nur unrichtig, sondern schlechthin unhaltbar ist, insbesondere wenn er eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt (BGE 120 Ia 369 E. 3a S. 373; BGE 119 Ia 113 E. 3a S. 117, je mit Hinweisen). b) Die kantonalen Verfahrensgesetze regeln gewöhnlich nicht ausdrücklich, in welchem Zeitpunkt eine Gerichtsurkunde als zugestellt gilt. Auch die Zivilprozessordnung des Kantons Uri enthält darüber keine ausdrückliche Regelung. Art. 65 Abs. 5 ZPO/UR bestimmt jedoch immerhin, dass die Zustellung auch dann als erfolgt gilt, wenn der Empfang schuldhaft verhindert wird. Daraus ergibt sich, dass die Zustellung im Normalfall erst vollendet ist, wenn der Adressat die Sendung empfangen hat. Dies entspricht denn heute auch allgemeiner schweizerischer Rechtsauffassung (siehe dazu etwa GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 1979, S. 253; LEUCH/MARBACH/KELLERHALS, Kommentar zur Zivilprozessordnung des Kantons Bern, N. 1 zu Art. 98; HAUSER/HAUSER, Komm. zum Gerichtsverfassungsgesetz des Kantons Zürich, 3. Aufl. 1978, S. 635, N. 2 IV/1/a zu § 190; JEANPRÊTRE, L'expédition et la réception des actes de procédure et des actes juridiques, SJZ 69/1973, S. 349 ff.; RIO KAMBER, Das Zustellungswesen im schweizerischen Zivilprozess, Zürcher Diss., Winterthur 1957, S. 16; vgl. ferner auch BGE 111 V 99 E. 2b S. 101; BGE 83 III 92 E. 1 S. 95 f.; Kantonsgericht SG, in: SJZ 62/1966, S. 275 f.). Massgebend für den Beginn von Fristen, die durch die Zustellung einer Gerichtsurkunde ausgelöst werden, ist daher der Zeitpunkt des Eintreffens im Machtbereich des Adressaten. Diesen in Art. 65 Abs. 5 ZPO/UR stillschweigend vorausgesetzten und zudem heute in der Schweiz allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz verletzt das Landgerichtspräsidium krass, wenn es den Zeitpunkt der Postaufgabe der Mitteilung zum Ausgangspunkt seiner Fristberechnung macht, statt auf den Zeitpunkt ihres Empfangs durch den Beschwerdeführer abzustellen. Wie der Beschwerdeführer mit einer Nachforschung bei der Post nachgewiesen hat, ist ihm die Sendung der Schlichtungsbehörde erst am 27. Dezember 1995 ausgehändigt worden. Die dreissigtägige Klagefrist begann somit erst tags darauf, d.h. am 28. Dezember 1995 zu laufen, weshalb der Beschwerdeführer sie mit der Einreichung der Klage am 24. Januar 1996 gewahrt hat. Der gegenteilige Standpunkt des Landesgerichtspräsidiums ist offensichtlich unhaltbar. Das führt zur Gutheissung der Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.