120 IV 169
27. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 17. Juni 1994 i.S. B. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste (de):
- Art. 12
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 12 - 1 Bestimmt es das Gesetz nicht ausdrücklich anders, so ist nur strafbar, wer ein Verbrechen oder Vergehen vorsätzlich begeht.
1 Bestimmt es das Gesetz nicht ausdrücklich anders, so ist nur strafbar, wer ein Verbrechen oder Vergehen vorsätzlich begeht. 2 Vorsätzlich begeht ein Verbrechen oder Vergehen, wer die Tat mit Wissen und Willen ausführt. Vorsätzlich handelt bereits, wer die Verwirklichung der Tat für möglich hält und in Kauf nimmt. 3 Fahrlässig begeht ein Verbrechen oder Vergehen, wer die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt oder darauf nicht Rücksicht nimmt. Pflichtwidrig ist die Unvorsichtigkeit, wenn der Täter die Vorsicht nicht beachtet, zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet ist. SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 125 - 1 Wer fahrlässig einen Menschen am Körper oder an der Gesundheit schädigt, wird, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe182 bestraft.
1 Wer fahrlässig einen Menschen am Körper oder an der Gesundheit schädigt, wird, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe182 bestraft. 2 Ist die Schädigung schwer, so wird der Täter von Amtes wegen verfolgt. - Die Haftung unter dem Gesichtspunkt der actio libera in causa erfordert, dass der Täter im Zeitpunkt der vollen Schuldfähigkeit voraussehen konnte, er werde ein bestimmtes Delikt begehen. Der spätere Geschehensablauf muss für den Täter dabei mindestens in seinen wesentlichen Zügen voraussehbar sein. Vorhersehbarkeit des Geschehensablaufs verneint bei einem alkoholisierten Fahrzeugführer, der sich durch das Fehlverhalten eines andern Verkehrsteilnehmers zu einer mit einer Körperverletzung endenden Verfolgungsjagd hat provozieren lassen.
Regeste (fr):
- Art. 12 et 125 CP; lésions corporelles par négligence, actio libera in causa.
- Du point de vue de l'actio libera in causa, la responsabilité n'existe que si l'auteur, au moment où il avait pleine conscience de ses actes, pouvait prévoir qu'il allait commettre une infraction déterminée. La suite ultérieure des évènements doit au moins pour l'essentiel lui être prévisible. Ce caractère prévisible a été nié, s'agissant d'un automobiliste pris de boisson qui s'était laissé entraîner à une chasse- poursuite qui s'était terminée par des lésions corporelles, à cause du comportement fautif d'un autre usager de la route.
Regesto (it):
- Art. 12 e 125 CP; lesioni colpose, actio libera in causa.
- Sotto il profilo dell'actio libera in causa, la responsabilità è data solo se l'agente, al momento in cui era ancora pienamente cosciente dei suoi atti, poteva prevedere che avrebbe commesso un determinato reato. L'ulteriore seguito degli avenimenti doveva poter essere da lui prevista, almeno nei suoi tratti essenziali. Tale prevedibilità è stata negata in un caso in cui un conducente ebbro, irritato dal comportamento illecito di un altro utente della strada, aveva inseguito costui e cagionato lesioni personali.
Sachverhalt ab Seite 170
BGE 120 IV 169 S. 170
A.- B. fuhr am 26. April 1991, um ca. 22.30 Uhr, mit seinem Personenwagen "Mercedes Benz 350 SE" auf der Oberrohrdorferstrasse von Fislisbach in Richtung Oberrohrdorf. In Niederrohrdorf mündete ein unbekannter Personenwagen derart knapp vor ihm rechts auf die Hauptstrasse ein, dass er eine Vollbremsung machen musste. B. wendete sein Fahrzeug unverzüglich und nahm die Verfolgung des unbekannten Personenwagens auf. Er fuhr mit weit übersetzter Geschwindigkeit auf der Oberrohrdorferstrasse zurück in Richtung Baden und missachtete dabei sowohl die zulässige Höchstgeschwindigkeit ausserorts von 80 km/h als auch die signalisierte Höchstgeschwindigkeit innerorts von 60 km/h. Auf der Höhe des Fussballstadions Esp fuhr er mit grosser Heftigkeit auf einen vor ihm fahrenden Personenwagen auf, der wegen der nahen Einmündung in die Badenerstrasse seine Fahrt verlangsamte. Dieser Personenwagen kam aufgrund des Aufpralls von der Strasse ab und kollidierte mit einem Holzlattenzaun. Drei Personen, die sich im vorausfahrenden Auto befanden, erlitten ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule. Zehneinhalb Monate nach dem Unfall befanden sie sich immer noch in ärztlicher Behandlung. Bei einem Opfer besteht die Gefahr einer bleibenden Behinderung im Umfang von 20 Prozent. B. wies zur Zeit der Tat eine Blutalkoholkonzentration von 2,09 - 2,32 Gewichtspromillen auf.
B.- Am 12. März 1992 verurteilte das Bezirksgericht Baden B. wegen fahrlässiger Körperverletzung, Führens eines Motorfahrzeugs in angetrunkenem Zustand und weiterer SVG-Delikte zu 12 Monaten Gefängnis (unbedingt) und Fr. 2'000.-- Busse.
C.- Auf Berufung von B. hin erkannte das Obergericht des Kantons Aargau am 4. November 1993 auf eine Strafe von zehn Monaten Gefängnis (unbedingt) und Fr. 2'000.-- Busse.
D.- B. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2. a) Gemäss Art. 12
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 12 - 1 Bestimmt es das Gesetz nicht ausdrücklich anders, so ist nur strafbar, wer ein Verbrechen oder Vergehen vorsätzlich begeht. |
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1 | Bestimmt es das Gesetz nicht ausdrücklich anders, so ist nur strafbar, wer ein Verbrechen oder Vergehen vorsätzlich begeht. |
2 | Vorsätzlich begeht ein Verbrechen oder Vergehen, wer die Tat mit Wissen und Willen ausführt. Vorsätzlich handelt bereits, wer die Verwirklichung der Tat für möglich hält und in Kauf nimmt. |
3 | Fahrlässig begeht ein Verbrechen oder Vergehen, wer die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt oder darauf nicht Rücksicht nimmt. Pflichtwidrig ist die Unvorsichtigkeit, wenn der Täter die Vorsicht nicht beachtet, zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet ist. |
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 10 - 1 Dieses Gesetz unterscheidet die Verbrechen von den Vergehen nach der Schwere der Strafen, mit der die Taten bedroht sind. |
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1 | Dieses Gesetz unterscheidet die Verbrechen von den Vergehen nach der Schwere der Strafen, mit der die Taten bedroht sind. |
2 | Verbrechen sind Taten, die mit Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren bedroht sind. |
3 | Vergehen sind Taten, die mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bedroht sind. |
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 11 - 1 Ein Verbrechen oder Vergehen kann auch durch pflichtwidriges Untätigbleiben begangen werden. |
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1 | Ein Verbrechen oder Vergehen kann auch durch pflichtwidriges Untätigbleiben begangen werden. |
2 | Pflichtwidrig untätig bleibt, wer die Gefährdung oder Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsgutes nicht verhindert, obwohl er aufgrund seiner Rechtstellung dazu verpflichtet ist, namentlich auf Grund: |
a | des Gesetzes; |
b | eines Vertrages; |
c | einer freiwillig eingegangenen Gefahrengemeinschaft; oder |
d | der Schaffung einer Gefahr. |
3 | Wer pflichtwidrig untätig bleibt, ist gestützt auf den entsprechenden Tatbestand nur dann strafbar, wenn ihm nach den Umständen der Tat derselbe Vorwurf gemacht werden kann, wie wenn er die Tat durch ein aktives Tun begangen hätte. |
4 | Das Gericht kann die Strafe mildern. |
BGE 120 IV 169 S. 171
Zustande die strafbare Handlung zu verüben. Das Gesetz umschreibt damit die vorsätzliche sogenannte actio libera in causa (d.h. das verantwortliche Ingangsetzen des Geschehensablaufs). Der Grundsatz ist aber auch anwendbar bei der fahrlässigen actio libera in causa: Die Verminderung der Zurechnungsfähigkeit ist unbeachtlich, wenn der Täter in diesem Zustand eine fahrlässige Straftat begeht und die Tat für ihn zur Zeit, als er noch voll zurechnungsfähig war, bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit voraussehbar war (vgl. BGE 117 IV 292 E. 2 mit Hinweisen). b) Die Vorinstanz hat in bezug auf das Fahren in angetrunkenem Zustand die volle Verantwortlichkeit des Beschwerdeführers unter dem Gesichtspunkt der actio libera in causa zu Recht und unangefochten bejaht. Zu prüfen ist somit einzig, ob für ihn zur Zeit, als er noch voll zurechnungsfähig war, bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit voraussehbar war, er werde sich durch das Fehlverhalten eines andern Verkehrsteilnehmers zu einer mit einer Körperverletzung endenden Verfolgungsjagd provozieren lassen. c) Für die Haftung unter dem Gesichtspunkt der actio libera in causa genügt es nicht, wenn für den Täter nur die Möglichkeit irgendeines nicht näher konkretisierten Deliktes vorauszusehen war. Die Haftung erfordert vielmehr, dass der Täter im Zeitpunkt der vollen Schuldfähigkeit voraussehen konnte, er werde ein bestimmtes Delikt begehen (STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil I, § 11 N. 44). Dabei ist nicht notwendig, dass der Täter den späteren Geschehensablauf in allen seinen Einzelheiten voraussehen konnte. Mindestens in seinen wesentlichen Zügen musste er für ihn aber voraussehbar sein, da er sonst nicht die Pflicht haben konnte, sich darauf einzustellen (STRATENWERTH, a.a.O., § 16 N. 17; NOLL/TRECHSEL, Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil I, 3. Aufl., S. 223). d) Die Vorinstanz legt dar, der Beschwerdeführer sei emotional unausgeglichen gewesen und habe zu Gefühlsausbrüchen und Unbeherrschtheiten geneigt. Mit diesem allgemeinen Hinweis lässt sich die Vorhersehbarkeit des hier zu beurteilenden Geschehensablaufs nicht begründen. Der Beschwerdeführer ist durch das Fehlverhalten eines unbekannten Verkehrsteilnehmers zu einer Vollbremsung gezwungen worden. Ein solches Fehlverhalten war zwar nicht ausgeschlossen, aber es war nicht so naheliegend, dass der Beschwerdeführer zur Zeit, als er zu trinken begann, bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit damit hätte rechnen müssen. Die Vorinstanz stützt sich bei der Beurteilung der Frage, ob für den Beschwerdeführer seine Reaktion auf das Fehlverhalten des unbekannten
BGE 120 IV 169 S. 172
Fahrzeuglenkers voraussehbar war, im übrigen auf keine konkreten Anhaltspunkte. Sie legt nicht dar, dass der Beschwerdeführer, betrunken oder nüchtern, bereits einmal in einer Art wie hier kurzschlüssig reagiert hätte. Sie stellt insbesondere nicht fest, dass sich in einem der Fälle, die zu seinen Vorstrafen wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand geführt haben, etwas Vergleichbares zugetragen hätte. Unter diesen Umständen ist der Vorwurf, der Beschwerdeführer hätte zur Zeit, als er noch voll zurechnungsfähig war, bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit den zur Auffahrkollision führenden Geschehensablauf voraussehen müssen, nicht begründet. Die Vorinstanz verletzt Bundesrecht, wenn sie unter Rückgriff auf eine actio libera in causa insoweit eine Verminderung der Zurechnungsfähigkeit verneint. e) Die Beschwerde ist daher gutzuheissen. Die Vorinstanz wird bei der Neubeurteilung der Sache zu prüfen haben, ob und inwieweit die Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers im Zusammenhang mit den auf der Verfolgungsjagd begangenen Straftaten vermindert war. Gestützt darauf wird sie neu zur Strafzumessung Stellung nehmen müssen.