Urteilskopf

120 Ia 217

32. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 31. Mai 1994 i.S. Saddik X. gegen Appellationshof des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde)
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Regesto (it):


Sachverhalt ab Seite 217

BGE 120 Ia 217 S. 217

Saddik X., ein libyscher Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Libyen, liess sich in einer Klinik in Bern in den Jahren 1988 und 1989 dreimal an den Kniegelenken operieren. Diese Operationen brachten nicht das von ihm erhoffte Ergebnis. Nach seiner Auffassung sind insbesondere bei der dritten Operation und der Nachbehandlung Fehler unterlaufen, aus welchen sich eine Haftung des Arztes Dr. Y. ergebe. Mit Eingabe vom 18. November 1993 stellte X. beim Appellationshof des Kantons Bern das Gesuch, es sei ihm im Hinblick auf die Einreichung einer Klage gegen Y. die unentgeltliche Prozessführung zu gewähren. Der Appellationshof wies das Gesuch am 13. Dezember 1993 ab.
BGE 120 Ia 217 S. 218

X. hat gegen den Entscheid des Appellationshofs staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV eingereicht, die vom Bundesgericht gutgeheissen wird.
Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. Der Appellationshof stützt seinen Entscheid in erster Linie auf Art. 77 Abs. 3 ZPO/BE ab. Danach wird Ausländern mit Wohnsitz im Ausland das Recht der unentgeltlichen Prozessführung in der Regel nur dann erteilt, wenn ihr Heimatstaat bernischen Staatsangehörigen die Gleichbehandlung gewährt oder zusichert. Staatsverträge bleiben vorbehalten. Diese Voraussetzungen zur Erteilung der unentgeltlichen Rechtspflege sind im vorliegenden Fall unstreitig nicht gegeben. Der Beschwerdeführer hat indessen bereits im kantonalen Verfahren geltend gemacht, der grundsätzliche Anspruch eines Ausländers mit Wohnsitz im Ausland auf Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ergebe sich unmittelbar aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV. In BGE 76 I 111 E. 2 S. 116 ist diese Frage noch offengelassen worden. In jenem Entscheid wurde zwar ausgeführt, es liege nahe, den Anspruch auch dem im Ausland wohnenden Ausländer zuzugestehen. Zur Begründung wurde darauf hingewiesen, schon das Wesen des modernen Rechtsstaates erfordere die grundsätzliche Gleichstellung des Ausländers mit dem Inländer auf dem Gebiete der Rechtspflege. Dagegen sprach allerdings nach damaliger Auffassung die soziale Funktion des Armenrechts, die mit jener der Armenunterstützung vergleichbar sei, auf die ein Ausländer in der Schweiz unter dem Gesichtspunkt der Rechtsgleichheit keinen Anspruch habe. Mit der damals nicht entschiedenen Frage hat sich das Bundesgericht in späteren veröffentlichten Entscheiden nicht mehr ausdrücklich beschäftigt. Einem Urteil vom 17. August 1982 (BGE 108 Ia 108 ff.), auf das sich der Beschwerdeführer beruft, liegt indessen eindeutig die Auffassung zugrunde, der aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV abgeleitete Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege stehe auch einem Ausländer mit Wohnsitz im Ausland zu. Das kommt denn auch in den Regesten zum Ausdruck, wo unter Bezugnahme auf Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV ausgeführt wird, es sei unzulässig, einem in seinem Heimatstaat lebenden Ausländer, der in der Schweiz nicht über genügend Mittel verfügt, die unentgeltliche Rechtspflege zu verweigern. Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang, dass die Unterstützungsfunktion des Armenrechts, die im zitierten BGE 76 I 111 ff. noch als massgebend betrachtet wurde, in der jetzigen Rechtsprechung
BGE 120 Ia 217 S. 219

des Bundesgerichts in den Hintergrund getreten ist. Betont wird heute vielmehr das Prinzip der "Waffengleichheit", nach dem jede Partei grundsätzlich ohne Rücksicht auf ihre finanzielle Situation unter den durch die Rechtsprechung festgelegten Voraussetzungen Zugang zu den Gerichten und Anspruch auf die Vertretung durch einen Rechtskundigen haben soll (BGE 119 Ia 134 E. 4 S. 135 mit Hinweis). Von diesem Gesichtspunkt aus lässt sich indessen eine unterschiedliche Behandlung je nach Staatsangehörigkeit und Wohnsitz des Gesuchstellers nicht mit sachlichen Gründen rechtfertigen. In der Literatur wird denn auch mehrheitlich die Meinung vertreten, aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV ergebe sich, dass auch ein Ausländer mit Wohnsitz im Ausland grundsätzlich Anspruch auf Gewährung unentgeltlicher Rechtspflege habe (STAEHELIN/SUTTER, Zivilprozessrecht, S. 193 Rz. 20; PATRICK WAMISTER, Die unentgeltliche Rechtspflege, die unentgeltliche Verteidigung und der unentgeltliche Dolmetscher unter dem Gesichtspunkt von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV und Art. 6
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 6 Recht auf ein faires Verfahren - (1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder - soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält - wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.
a  innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;
b  ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
c  sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;
d  Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;
e  unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.
EMRK, Diss. Basel 1983, S. 74 f.; JÖRG PAUL MÜLLER, Die Grundrechte der schweizerischen Bundesverfassung, 2. Aufl., S. 288; HAEFLIGER, Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich, S. 163 f.: mit eventueller Einschränkung auf Länder mit Gegenrecht). Zum Teil wird dieser Anspruch auch aus Art. 6 Ziff. 1
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 6 Recht auf ein faires Verfahren - (1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder - soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält - wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.
a  innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;
b  ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
c  sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;
d  Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;
e  unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.
EMRK abgeleitet (CHRISTIAN FAVRE, L'assistance judiciaire gratuite en droit suisse, Diss. Lausanne 1988, S. 95; vgl. dazu GEORG MÜLLER, Kommentar BV, N. 124 zu Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV). In Übereinstimmung mit diesen Ausführungen ist davon auszugehen, dass der Appellationshof mit der Verweigerung des Armenrechts im vorliegenden Fall gegen Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV verstossen hat, soweit er seinen Entscheid mit dem Hinweis auf den Wohnsitz des Beschwerdeführers und auf das Fehlen eines Staatsvertrages mit Libyen sowie einer Zusicherung der Gleichbehandlung durch diesen Staat begründet hat.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 120 IA 217
Datum : 31. Mai 1994
Publiziert : 31. Dezember 1994
Quelle : Bundesgericht
Status : 120 IA 217
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : Art. 4 BV; verfassungsmässiger Armenrechtsanspruch eines Ausländers mit Wohnsitz im Ausland. Der Anspruch darf nicht vom


Gesetzesregister
BV: 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
EMRK: 6
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 6 Recht auf ein faires Verfahren - (1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder - soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält - wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.
a  innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;
b  ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
c  sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;
d  Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;
e  unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.
BGE Register
108-IA-108 • 119-IA-134 • 120-IA-217 • 76-I-111
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
unentgeltliche rechtspflege • wohnsitz im ausland • bundesgericht • rechtsgleiche behandlung • staatsrechtliche beschwerde • libyen • zusicherung • frage • heimatstaat • staatsvertrag • bundesverfassung • entscheid • bern • begründung des entscheids • wiese • gegenrecht • literatur • arzt • sprache • gesuchsteller • lausanne • kantonales verfahren • sachverhalt • funktion • nachbehandlung
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