117 Ib 317
38. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 20. September 1991 i.S. Rocco Grosso gegen Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
Regeste (de):
- Art. 13 lit. f
und h sowie Art. 28 lit. b
der Verordnung vom 6. Oktober 1986 über die Begrenzung der Zahl der Ausländer (BVO, SR 823.21); Ausnahme von der zahlenmässigen Begrenzung der Ausländer infolge eines schwerwiegenden persönlichen Härtefalles.
- Abgrenzung der Härtefallregelungen von Art. 13 lit. f
und Art. 13 lit. h
(in Verbindung mit Art. 28 lit. b
) BVO; für die Anerkennung eines Härtefalles gelten unterschiedliche Voraussetzungen (E. 3).
- Begriff des schwerwiegenden persönlichen Härtefalles nach Art. 13 lit. f
BVO: Bei der Beurteilung des Härtefalles hat eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalles zu erfolgen. Dabei kann ein Gesichtspunkt für die Annahme eines Härtefalles darin liegen, dass eine lange, durch Niederlassung gefestigte, frühere Anwesenheit in der Schweiz unter ausserordentlichen Umständen aufgegeben werden musste (E. 4 und 5).
Regeste (fr):
- Art. 13 let. f et h, 28 let. b de l'ordonnance du 6 octobre 1986 limitant le nombre des étrangers (OLE; RS 823.21); exception aux mesures de limitation en raison d'un cas personnel d'extrême gravité.
- Délimitation des règles du cas d'extrême gravité de l'art. 13 let. f, d'une part, et de l'art. 13 let. h (en relation avec l'art. 28 let. b) OLE, d'autre part; les conditions pour la reconnaissance d'un cas d'extrême gravité sont différentes (consid. 3).
- Notion du cas personnel d'extrême gravité selon l'art. 13 let. f OLE. Pour l'appréciation du cas d'extrême gravité, il y a lieu de tenir compte de l'ensemble des circonstances du cas particulier. A cet égard, un long séjour en Suisse, qui avait antérieurement abouti à une autorisation d'établissement, mais avait dû être interrompu en raison de circonstances extraordinaires, peut justifier l'acceptation d'un cas d'extrême gravité (consid. 4 et 5).
Regesto (it):
- Art. 13 lett. f e h, art. 28 lett. b dell'ordinanza del 6 ottobre 1986 che limita l'effettivo degli stranieri (OLS, RS 823.21); deroga alle misure limitative ove si tratti di un caso personale particolarmente rigoroso.
- Delimitazione tra la disciplina in materia di caso personale particolarmente rigoroso stabilita, da un lato, dall'art. 13 lett. f e, dall'altro, dall'art. 13 lett. h (in relazione con l'art. 28 cpv. 1 lett. b) OLS; le condizioni alle quali può essere ammesso un caso personale particolarmente rigoroso sono differenti (consid. 3).
- Nozione di caso personale particolarmente rigoroso ai sensi dell'art. 13 lett. f OLS. Per stabilire se si tratti di un caso particolarmente rigoroso, si deve tener conto di tutte le circostanze del singolo caso. A questo proposito, un lungo soggiorno anteriore in Svizzera, dove l'interessato aveva addirittura preso domicilio, che ha dovuto essere interrotto a causa di circostanze straordinarie può dar luogo a un caso personale particolarmente rigoroso (consid. 4 e 5).
Sachverhalt ab Seite 318
BGE 117 Ib 317 S. 318
Der italienische Staatsangehörige Rocco Grosso, geboren 1942, lebte zusammen mit seiner Frau und später seinen Kindern von 1963 bis 1984 in der Schweiz. Er besass die Niederlassungsbewilligung. Am 31. Juli 1984 verliess Rocco Grosso die Schweiz und reiste mit seiner Familie nach Italien, um sich um seine kranken Eltern zu kümmern. Im März 1990 kehrte er mit einer Bewilligung zum Stellenantritt als Saisonnier in den Kanton Bern zurück und arbeitete in diesem Status. Mit Schreiben vom 14. Mai 1990 an das Bundesamt für Ausländerfragen stellte Rocco Grosso ein Gesuch um Verbesserung seines Anwesenheitsstatus, das heisst um Erteilung mindestens einer Jahresaufenthaltsbewilligung. Er verwies auf seine frühere langjährige Anwesenheit in der Schweiz sowie auf den Umstand, dass sein Bruder Pascal Grosso und dessen Familie inzwischen das Schweizer Bürgerrecht erhalten hätten. Das Bundesamt für Ausländerfragen behandelte die Eingabe als Gesuch um Umwandlung einer Saison- in eine Jahresbewilligung aufgrund eines schwerwiegenden persönlichen Härtefalles und lehnte es mit Verfügung vom 3. August 1990 ab. Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement wies eine dagegen gerichtete Beschwerde vom 24. August 1990 mit Entscheid vom 16. November 1990 ab. Am 11. Dezember 1990 reichte Rocco Grosso sinngemäss Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht ein. Nachdem
BGE 117 Ib 317 S. 319
ihm vom Präsidenten der II. öffentlichrechtlichen Abteilung eine Nachfrist zur Verbesserung der Beschwerdeschrift angesetzt wurde, ergibt sich aus seiner ergänzenden Eingabe vom 10. Januar 1991 sinngemäss der Antrag, es sei der Entscheid des Departementes aufzuheben und ihm eine Niederlassungs-, eventualiter eine Jahresaufenthaltsbewilligung zu erteilen. Mit Vernehmlassung vom 19. Februar 1991 schliesst das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement auf Abweisung der Beschwerde. An einer ersten Sitzung vom 17. Mai 1991 setzte das Bundesgericht den Entscheid aus und schlug im Anschluss daran den zuständigen kantonalen und eidgenössischen Behörden vor, Rocco Grosso eine Niederlassungsbewilligung zu erteilen, womit sich seiner Ansicht nach die Frage der Unterstellung unter die Höchstzahlen für Ausländer erledigen würde. Nachdem die Fremdenpolizei des Kantons Bern mit Schreiben vom 31. Mai 1991 dazu ihre Bereitschaft erklärt hatte, schloss das Bundesamt für Ausländerfragen in seiner Antwort vom 18. Juli 1991 eine Zustimmung zu einer Niederlassungsbewilligung nicht grundsätzlich aus, verwies indes darauf, dass nach seinem Dafürhalten auch in diesem Falle vorweg die Unterstellungsfrage zu beantworten sei.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3. a) Mit dem angefochtenen Entscheid hat die Vorinstanz festgestellt, dass bei Rocco Grosso die Voraussetzungen zur Umwandlung der Saison- in eine Jahresaufenthaltsbewilligung gemäss Art. 28
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BGE 117 Ib 317 S. 320
offenbaren, einen gefestigteren Aufenthalt und eine ständige Arbeitsstelle in der Schweiz sowie den Nachzug der Familie zu ermöglichen. Art. 28 Abs. 1 lit. b
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BGE 117 Ib 317 S. 321
Anforderungen als bei der Anwendung von Art. 28 lit. b
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Die Vorinstanz hat zwar nur geprüft, ob ein Härtefall nach Art. 28 Abs. 1 lit. b
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4. a) Bei der Anwendung von Art. 13 lit. f
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BGE 117 Ib 317 S. 322
Anrechnung auf die Höchstzahlen erhalten könnte, spielt dieser Umstand bei der Prüfung des Härtefalles entgegen der Ansicht des Bundesamtes für Ausländerfragen nur eine geringe Rolle. Aus dem Verordnungstext sowie aufgrund des Ausnahmecharakters der Bestimmung ergibt sich allerdings, dass die Voraussetzungen zur Anerkennung eines Härtefalles grundsätzlich restriktiv zu handhaben sind. Erforderlich ist, dass sich der betreffende Ausländer in einer persönlichen Notlage befindet. Das bedeutet, dass seine Lebens- und Daseinsbedingungen gemessen am durchschnittlichen Schicksal von Ausländern in gesteigertem Masse in Frage gestellt sein müssen beziehungsweise die Verweigerung von der Ausnahme der zahlenmässigen Begrenzung für den Betroffenen schwere Nachteile zur Folge hätte. Bei der Beurteilung des Härtefalles sind alle Gesichtspunkte und Besonderheiten des Einzelfalles zu berücksichtigen. Ein Härtefall setzt nicht zwingend voraus, dass sich der Ausländer je hier aufgehalten hat, sofern sich eine Anwesenheit in der Schweiz als unabdingbar zur Vermeidung einer bedrohlichen Notlage entpuppt. Andererseits genügt die bisherige oder eine frühere Anwesenheit für sich allein nicht zur Annahme eines Härtefalles (unveröffentlichtes Urteil vom 7. Februar 1991 in Sachen S.). Wenn der Ausländer allerdings eine besonders enge Beziehung zur Schweiz hat, zum Beispiel weil er während längerer Zeit mit Anwesenheitsrecht hier lebte und gut integriert ist, kann dies die Anforderungen an die Dringlichkeit der Notlage verringern, sofern gerade auch darin eine Härte zu sehen ist, dass er seine Beziehung zur Schweiz nicht oder nicht mehr hier leben kann (vgl. zum Problem der sogenannten Rückkehrer PETER KOTTUSCH, Die Niederlassungsbewilligung gemäss Art. 6
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BGE 117 Ib 317 S. 323
Annahme eines Härtefalles (mit)begründen; durch die Nichtunterstellung unter die Höchstzahlen wird dem Ausländer diesfalls erleichtert, erneut ein Anwesenheitsrecht zu erlangen, obwohl er darauf keinen Anspruch hat (unveröffentlichtes Urteil vom 7. Dezember 1990 in Sachen D. E. 2b).
5. a) Der Beschwerdeführer lebte während mehr als 20 Jahren zusammen mit seiner Frau und teilweise seinen Kindern in der Schweiz und besass die Niederlassungsbewilligung. Alle Familienmitglieder kennen die schweizerischen Verhältnisse bestens, sind hier gut assimiliert und integriert und haben sich, soweit bekannt, immer wohl verhalten. Die Kinder haben einen Grossteil ihrer Schulzeit in der Schweiz absolviert, und es ist beabsichtigt, dass sie hier die Ausbildung abschliessen. Ein Bruder des Beschwerdeführers lebt seit Jahren in der Schweiz und hat inzwischen sogar das Schweizer Bürgerrecht erworben. Der Beschwerdeführer war 1990 bereits wieder als Saisonnier hier tätig, blieb in dieser Zeit allerdings zwangsläufig von seiner Familie getrennt. Mit seiner Rückkehr nach Italien hat der Beschwerdeführer zwar gezeigt, dass er durchaus noch Beziehungen zu seinem Heimatland pflegt, er hatte sich von den italienischen Verhältnissen aber soweit distanziert, dass er unter Anpassungsschwierigkeiten litt. Der Beschwerdeführer hat zweifellos eine besonders enge Beziehung zur Schweiz. Somit erlangen seine heutige persönliche und familiäre Situation sowie die Umstände, unter denen er 1984 die Niederlassungsbewilligung aufgab, umso mehr Bedeutung. Kann der Beschwerdeführer vorerst weiterhin nur als Saisonnier in der Schweiz arbeiten, ist ihm ein Familiennachzug auf Jahre verwehrt. Da ausserdem sein Arbeitgeber nur bereit zu sein scheint, ihn weiter zu beschäftigen, wenn er mindestens über eine Jahresaufenthaltsbewilligung verfügt, ist ihm zumindest erschwert, wenn nicht sogar verunmöglicht, weiterhin als Saisonnier zu arbeiten und damit längerfristig die Voraussetzungen zur Umwandlung einer Saison- in eine Jahresbewilligung nach Art. 28 Abs. 1 lit. a
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BGE 117 Ib 317 S. 324
sich bei ihm nicht um einen eigentlichen Facharbeiter handelt, höchst ungewiss. Diese Zusammenhänge sind zwar an sich nicht aussergewöhnlich, sondern können auf jeden Saisonnier zutreffen. Angesichts der früheren langjährigen und durch Niederlassung gefestigten Anwesenheit des Beschwerdeführers in der Schweiz sowie der Tatsache, dass auch seine ganze Familie hier gelebt hat und mit der Schweiz in besonders enger Beziehung steht, liegt darin jedoch eine gewisse Härte. Der Beschwerdeführer kehrte 1984 mit seiner Familie nach Italien zurück, damit er sich um seine kranken Eltern kümmern konnte. Seinem Bruder hat er dadurch ermöglicht, seinerseits in der Schweiz zu bleiben und so die Voraussetzungen zum Erwerb des Schweizer Bürgerrechts zu erfüllen; eine Möglichkeit, die er sich selber nahm. Der Beschwerdeführer ist somit nicht einfach nach Italien zurückgekehrt, weil sich der Zweck des Arbeitserwerbs in der Schweiz erledigt hatte beziehungsweise dahingefallen war. Nach seiner heutigen Darstellung trug er sich von Anfang an mit der Absicht, wieder in die Schweiz zurückzukommen, sobald es den Eltern besser ginge, was inzwischen eingetreten zu sein scheint. Wie lange dies dauern würde, war damals nicht absehbar, weshalb nicht weiter von Belang ist, ob sich der Beschwerdeführer allenfalls um eine Beibehaltung der Niederlassungsbewilligung bemüht hatte. Da dies gemäss Art. 9 Abs. 3 lit. c
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BGE 117 Ib 317 S. 325
den Höchstzahlen zu Unrecht verweigert und dadurch Bundesrecht verletzt.
6. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist demnach gutzuheissen, soweit darauf eingetreten werden kann, und der angefochtene Entscheid muss aufgehoben werden. Es ist festzustellen, dass der Beschwerdeführer in Anwendung von Art. 13 lit. f
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