116 V 72
14. Auszug aus dem Urteil vom 4. April 1990 i.S. L. gegen Ausgleichskasse der Aargauischen Industrie- und Handelskammer und Versicherungsgericht des Kantons Aargau
Regeste (de):
- Art. 82 Abs. 1
AHVV: Kenntnis des Schadens.
- - Bestätigung der Rechtsprechung, wonach im Falle eines Konkurses der Schaden in der Regel im Zeitpunkt der Auflage des Kollokationsplanes und des Inventars hinreichend bekannt ist; Anforderungen an das Vorgehen der Ausgleichskasse (Erw. 3b).
- - Eine bei der ersten Gläubigerversammlung anhand provisorischer Schatzungswerte gestellte Prognose der Konkursverwaltung über die "stark gefährdeten" Dividendenaussichten für Gläubiger der 2. Klasse begründet ebensowenig eine Kenntnis des Schadens wie etwa die Zustellung eines provisorischen Pfändungsverlustscheines im Sinne von Art. 115 Abs. 2
SR 281.1 Bundesgesetz vom 11. April 1889 über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG)
SchKG Art. 115 - 1 War kein pfändbares Vermögen vorhanden, so bildet die Pfändungsurkunde den Verlustschein im Sinne des Artikels 149.
1 War kein pfändbares Vermögen vorhanden, so bildet die Pfändungsurkunde den Verlustschein im Sinne des Artikels 149. 2 War nach der Schätzung des Beamten nicht genügendes Vermögen vorhanden, so dient die Pfändungsurkunde dem Gläubiger als provisorischer Verlustschein und äussert als solcher die in den Artikeln 271 Ziffer 5 und 285 bezeichneten Rechtswirkungen. 3 Der provisorische Verlustschein verleiht dem Gläubiger ferner das Recht, innert der Jahresfrist nach Artikel 88 Absatz 2 die Pfändung neu entdeckter Vermögensgegenstände zu verlangen. Die Bestimmungen über den Pfändungsanschluss (Art. 110 und 111) sind anwendbar.245
Regeste (fr):
- Art. 82 al. 1 RAVS: Connaissance du dommage.
- - Confirmation de la jurisprudence selon laquelle le créancier a en règle ordinaire une connaissance suffisante de son dommage, en cas de faillite, au moment du dépôt de l'état de collocation et de l'inventaire. Exigences quant aux mesures à prendre par la caisse de compensation (consid. 3b).
- - Pas plus que, par exemple, la remise d'un acte de défaut de biens provisoire au sens de l'art. 115 al. 2 LP, un pronostic émis par l'administration de la faillite lors de la première assemblée des créanciers, fondé sur une estimation provisoire et selon lequel les chances pour les créanciers de la deuxième classe de recevoir un dividende apparaissent "fortement compromises", ne permet d'estimer suffisamment l'étendue du dommage. Pas d'obligation pour la caisse d'agir à titre "préventif" avant le dépôt de l'état de collocation et de l'inventaire (consid. 3c).
Regesto (it):
- Art. 82 cpv. 1 OAVS: Conoscenza del danno.
- - Conferma della giurisprudenza secondo la quale il creditore di principio conosce a sufficienza il danno, in caso di fallimento, nel momento del deposito della graduatoria e dell'inventario. Provvedimenti da prendere da parte della cassa di compensazione (consid. 3b).
- - Un pronostico emesso dall'amministrazione del fallimento, durante la prima assemblea dei creditori, basato su una valutazione provvisoria e secondo cui le aspettative di ricevere un dividendo appaiono "fortemente compromesse" per i creditori di seconda classe non fonda, alla stessa stregua per esempio della consegna di un atto di carenza di beni provvisorio ai sensi dell'art. 115 cpv. 2 LEF, sufficiente conoscenza del danno. Nessun obbligo della cassa di procedere a titolo preventivo prima del deposito della graduatoria e dell'inventario (consid. 3c).
Sachverhalt ab Seite 73
BGE 116 V 72 S. 73
A.- Walter L. war Verwaltungsratspräsident der Firma Walter L. AG. Am 9. Dezember 1982 wurde über die Gesellschaft der Konkurs eröffnet. Anlässlich der ersten Gläubigerversammlung vom 2. Februar 1983, bei der u.a. die Firma R. Treuhand AG als ausseramtliche Konkursverwaltung bestellt und ein dreiköpfiger Gläubigerausschuss gewählt wurden, bezeichnete das Konkursamt die Dividendenaussichten für Gläubiger der 2. Klasse anhand "provisorischer Schatzungswerte" als "stark gefährdet" (Zirkular Nr. 1 vom 8. Februar 1983). In der Folge meldete die Ausgleichskasse der Aargauischen Industrie- und Handelskammer mit Eingaben vom 18. Februar 1983 und 29. Mai 1985 der Konkursverwaltung ihre Forderungen an, die aus unbezahlt gebliebenen paritätischen Sozialversicherungsbeiträgen sowie Verwaltungskosten, Verzugszinsen, Betreibungs- und Mahngebühren bestanden. Nachdem bei der 10. Sitzung des Gläubigerausschusses vom 8. April 1987 den Mitgliedern ein "provisorischer Kollokationsplan" vorgelegt worden war, wonach für die Zweitklassgläubiger eine "Konkursdividende von ca. 60%" resultiere, forderte
BGE 116 V 72 S. 74
die Ausgleichskasse mit Verfügung vom 13. Januar 1988 von Walter L. die Bezahlung von Schadenersatz in der Höhe des gesamten Verlustes von Fr. 251'879.65, wobei sie auf die Reduktion der Forderung im Betrage einer allfälligen Konkursdividende hinwies (Abtretung). Der Betroffene erhob gegen diese Verfügung Einspruch.
B.- Am 11. März 1988 reichte die Ausgleichskasse beim Versicherungsgericht des Kantons Aargau gegen Walter L. Schadenersatzklage ein. Im Verlaufe des Prozesses wurden der Kollokationsplan und das Inventar (vom 29. Oktober bis 10. November 1988) sowie Verteilungsliste und Schlussrechnung (vom 17. bis 26. April 1989) aufgelegt. Die Kasse reduzierte darauf ihre Forderung auf Fr. 74'732.70. - Mit Entscheid vom 19. September 1989 hiess das Versicherungsgericht die Klage gut und verpflichtete Walter L. zur Bezahlung des Schadenersatzes im genannten Betrag.
C.- Diesen Entscheid lässt Walter L. mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Eidg. Versicherungsgericht weiterziehen u.a. mit den Anträgen, das vorinstanzliche Urteil sei aufzuheben und es "sei festzustellen, dass die Schadenersatzforderung der Ausgleichskasse verjährt ... ist". Auf die Begründung wird, soweit erforderlich, in den Erwägungen eingegangen. Die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherung schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2. ... Streitig und zu prüfen ist vorliegend namentlich, ob die Schadenersatzforderung der Ausgleichskasse "verjährt", d.h. nicht innerhalb der in Art. 82 Abs. 1
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3. a) Der Beschwerdeführer bringt in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zur Hauptsache vor, die Kasse hätte schon anlässlich der ersten Gläubigerversammlung vom 2. Februar 1983, spätestens aber mit der Zustellung des Zirkulars Nr. 1 am 8. Februar 1983 Kenntnis vom Schaden nehmen müssen, als das Konkursamt die Dividendenaussichten für die Gläubiger der 2. Klasse als "stark gefährdet" bezeichnet habe. Bereits in dem von der Konkursverwaltung zuhanden dieser ersten Gläubigerversammlung erstellten Status seien nämlich die freien Aktiven auf nur ca. 2 Mio. Franken, dagegen die Forderungen der
BGE 116 V 72 S. 75
Erstklassgläubiger auf rund 1,6 Mio. Franken sowie jene der Zweitklassgläubiger auf rund 600'000 Franken beziffert worden. Da keinerlei Masseverbindlichkeiten wie z.B. die erheblichen Honorare der ausseramtlichen Konkursverwaltung passiviert gewesen seien, hätte die Ausgleichskasse bei Analyse des erwähnten Status ihren Verlust unschwer errechnen können. Die Kasse habe indessen nicht "aktiv" gehandelt und sich auch sonst nicht um ihre Rechte gekümmert, weshalb nicht mit der Vorinstanz eine Kenntnis des Schadens erst anlässlich der 10. Sitzung des Gläubigerausschusses vom 8. April 1987 (mit der Auflage eines provisorischen Kollokationsplanes) angenommen werden könne. Die Kasse hält diesen Ausführungen in der Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde - wie u.a. bereits im erstinstanzlichen Verfahren - entgegen, dass sie sich mehrfach bei der Konkursverwaltung über die Bearbeitung des Falles erkundigt habe, welche sich indes stark in die Länge gezogen habe. Die Schadenersatzverfügung sei dann vor allem im Hinblick auf den Bundesgerichtsentscheid in ZAK 1987 S. 568 "vorsorglich" erlassen worden, um einer allfälligen Verwirkungsgefahr zu entgehen. Sie habe frühestens im April 1987 nach der 10. Sitzung des Gläubigerausschusses Kenntnis vom Schaden nehmen können, während die - laut vorinstanzlichem Entscheid für den Beginn des Fristenlaufs massgebende - Kollokationsplanauflage erst am 29. Oktober 1988 erfolgt sei. b) Kenntnis des Schadens im Sinne von Art. 82 Abs. 1
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BGE 116 V 72 S. 76
vielmehr praxisgemäss in der Regel bereits dann ausreichende Kenntnis des Schadens, wenn die Kollokation der Forderungen eröffnet bzw. der Kollokationsplan (und das Inventar) zur Einsicht aufgelegt wird. In diesem Zeitpunkt ist oder wäre der Gläubiger im allgemeinen in der Lage, den Stand der Aktiven, die Kollokation seiner Forderung und die voraussichtliche Dividende zu kennen (BGE 113 V 182 Erw. 2 mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung ist die Ausgleichskasse nicht befugt, mit der Geltendmachung ihrer Schadenersatzforderung zuzuwarten bis zu jenem Zeitpunkt, in welchem sie das - grundsätzlich erst bei Abschluss des Konkursverfahrens feststehende - absolut genaue Ausmass ihres Verlustes kennt. Vielmehr wird von ihr verlangt, dass sie von dem Zeitpunkt an, in dem sie alle tatsächlichen Umstände über die Existenz, die Beschaffenheit und die wesentlichen Merkmale des Schadens kennt, sich über die Einzelheiten eines allfälligen Schadenersatzanspruches informiert. Kann dabei im Zeitpunkt der Auflegung des Kollokationsplanes und des Inventars die Schadenshöhe infolge ungewisser Konkursdividende nicht bzw. auch nicht annähernd genau ermittelt werden, so ist die Schadenersatzverfügung derart auszugestalten, dass die Belangten zum Ersatz des ganzen der Ausgleichskasse entgangenen Betrages gegen Abtretung einer allfälligen Konkursdividende verpflichtet werden. Dieses auch auf den Gebieten des Zivilrechts und des öffentlichen Rechts (BGE 111 II 164; vgl. auch BGE 108 Ib 97) gewählte Vorgehen ist vom Eidg. Versicherungsgericht aus Gründen der Verfahrensökonomie und der Rechtssicherheit sowie unter dem Gesichtspunkt der Zielsetzung des Schadenersatzrechts auf Forderungen gemäss Art. 52
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SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG) AHVG Art. 52 Haftung - 1 Fügt ein Arbeitgeber durch absichtliche oder grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften der Versicherung einen Schaden zu, so hat er diesen zu ersetzen. |
|
1 | Fügt ein Arbeitgeber durch absichtliche oder grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften der Versicherung einen Schaden zu, so hat er diesen zu ersetzen. |
2 | Handelt es sich beim Arbeitgeber um eine juristische Person, so haften subsidiär die Mitglieder der Verwaltung und alle mit der Geschäftsführung oder Liquidation befassten Personen. Sind mehrere Personen für den gleichen Schaden verantwortlich, so haften sie für den ganzen Schaden solidarisch.293 |
3 | Der Schadenersatzanspruch verjährt nach den Bestimmungen des Obligationenrechts294 über die unerlaubten Handlungen.295 |
4 | Die zuständige Ausgleichskasse macht den Schadenersatz durch Erlass einer Verfügung geltend.296 |
5 | In Abweichung von Artikel 58 Absatz 1 ATSG297 ist für die Beschwerde das Versicherungsgericht des Kantons zuständig, in welchem der Arbeitgeber seinen Wohnsitz hat. |
6 | Die Haftung nach Artikel 78 ATSG ist ausgeschlossen. |
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BGE 116 V 72 S. 77
den Vorbringen des Beschwerdeführers - aktiv um die Schadenskenntnis bemüht (ZAK 1986 S. 524) und damit auch der ihr obliegenden Erkundigungspflicht genügt hat (BGE 114 V 81 Erw. 3b). Mit dem Erlass der Schadenersatzverfügung am 13. Januar 1988 hat die Ausgleichskasse die einjährige Verwirkungsfrist des Art. 82 Abs. 1
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BGE 116 V 72 S. 78
Schadenersatzverfügung (und eine hernach erfolgte Klageeinreichung) noch vor der Auflegung des Kollokationsplanes und des Inventars kein Anlass besteht. Erst bei einem solchen verfrühten Vorgehen könnten nämlich die z. T. in der Literatur befürchteten "Schattenprozesse" erforderlich sein (CADOTSCH, Wann hat die AHV-Ausgleichskasse Kenntnis des im Konkurs eines Arbeitgebers erlittenen Schadens? - Kritische Bemerkungen zur neuesten Rechtsprechung des EVG über die Verjährung des Schadenersatzanspruches gemäss Art. 52
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SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG) AHVG Art. 52 Haftung - 1 Fügt ein Arbeitgeber durch absichtliche oder grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften der Versicherung einen Schaden zu, so hat er diesen zu ersetzen. |
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1 | Fügt ein Arbeitgeber durch absichtliche oder grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften der Versicherung einen Schaden zu, so hat er diesen zu ersetzen. |
2 | Handelt es sich beim Arbeitgeber um eine juristische Person, so haften subsidiär die Mitglieder der Verwaltung und alle mit der Geschäftsführung oder Liquidation befassten Personen. Sind mehrere Personen für den gleichen Schaden verantwortlich, so haften sie für den ganzen Schaden solidarisch.293 |
3 | Der Schadenersatzanspruch verjährt nach den Bestimmungen des Obligationenrechts294 über die unerlaubten Handlungen.295 |
4 | Die zuständige Ausgleichskasse macht den Schadenersatz durch Erlass einer Verfügung geltend.296 |
5 | In Abweichung von Artikel 58 Absatz 1 ATSG297 ist für die Beschwerde das Versicherungsgericht des Kantons zuständig, in welchem der Arbeitgeber seinen Wohnsitz hat. |
6 | Die Haftung nach Artikel 78 ATSG ist ausgeschlossen. |
Besteht aufgrund der vorstehenden Ausführungen keine Veranlassung, von der in Erw. 3b hievor dargelegten Rechtsprechung abzugehen, so kann es für die Kenntnis des Schadens im Sinne von Art. 82 Abs. 1
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BGE 116 V 72 S. 79
und Inventar erlassenen Schadenersatzverfügung jedenfalls die fragliche Einjahresfrist gewahrt. Von einer Verwirkung des Schadenersatzanspruchs der Ausgleichskasse gegenüber dem Beschwerdeführer kann deshalb keine Rede sein.