Urteilskopf

116 V 12

3. Auszug aus dem Urteil vom 23. Januar 1990 i.S. Ostschweizerische AHV-Ausgleichskasse für Handel und Industrie gegen E. und Rekurskommission des Kantons Thurgau für die AHV
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Erwägungen ab Seite 12

BGE 116 V 12 S. 12

Aus den Erwägungen:

2. a) Nach Art. 47 Abs. 1
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 47
AHVG sind unrechtmässig bezogene Renten und Hilflosenentschädigungen zurückzuerstatten. Bei gutem Glauben und gleichzeitigem Vorliegen einer grossen Härte kann von der Rückforderung abgesehen werden. Eine grosse Härte im Sinne der Gesetzesbestimmung liegt nach der Rechtsprechung vor, wenn zwei Drittel des anrechenbaren Einkommens (und der allenfalls hinzuzurechnende Vermögensteil) die nach Art. 42 Abs. 1
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 42 Bezügerkreis - 1 Anspruch auf eine ausserordentliche Rente haben Schweizer Bürger mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt (Art. 13 ATSG202) in der Schweiz, die während der gleichen Zahl von Jahren versichert waren wie ihr Jahrgang, denen aber keine ordentliche Rente zusteht, weil sie bis zur Entstehung des Rentenanspruchs nicht während eines vollen Jahres der Beitragspflicht unterstellt gewesen sind.203 Der Anspruch steht auch ihren Hinterlassenen zu.
1    Anspruch auf eine ausserordentliche Rente haben Schweizer Bürger mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt (Art. 13 ATSG202) in der Schweiz, die während der gleichen Zahl von Jahren versichert waren wie ihr Jahrgang, denen aber keine ordentliche Rente zusteht, weil sie bis zur Entstehung des Rentenanspruchs nicht während eines vollen Jahres der Beitragspflicht unterstellt gewesen sind.203 Der Anspruch steht auch ihren Hinterlassenen zu.
2    Das Erfordernis des Wohnsitzes und des gewöhnlichen Aufenthalts ist von jedem Versicherten, für den eine Rente ausgerichtet wird, einzeln zu erfüllen.
3    Der Ehegatte, der mit einem obligatorisch versicherten Schweizer Bürger verheiratet ist und im Ausland lebt, aber gemäss internationalem Abkommen oder völkerrechtlicher Übung der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung seines Wohnsitzstaates nicht angehört, ist dem in der Schweiz wohnhaften Ehegatten von Schweizer Bürgern gleichgestellt.
AHVG anwendbare und um 50% erhöhte Einkommensgrenze nicht erreichen. Für die Ermittlung des anrechenbaren Einkommens gelten die Regeln der Art. 56 ff
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV)
AHVV Art. 56 Vorbezug der Altersrente - 1 Die Berechnung der vorbezogenen Rente basiert auf der in Anwendung von Artikel 52 Absatz 1bis ermittelten effektiven Beitragsdauer und dem Einkommen bis zum 31. Dezember vor dem Beginn des Vorbezugs.
1    Die Berechnung der vorbezogenen Rente basiert auf der in Anwendung von Artikel 52 Absatz 1bis ermittelten effektiven Beitragsdauer und dem Einkommen bis zum 31. Dezember vor dem Beginn des Vorbezugs.
2    Bei einer Erhöhung des Rentenanteils während der Vorbezugsdauer gelten dieselben Berechnungsgrundlagen wie zu Beginn des Vorbezugs.
3    Eine Erhöhung des vorbezogenen Anteils der Rente ist über das amtliche Formular zu beantragen. Die Änderung kann frühestens auf den Monat erfolgen, der auf den Monat der Antragstellung folgt.
4    Bei Erreichen des Referenzalters wird die Rente nach den allgemeinen Bestimmungen für die Rentenberechnung nach Artikel 29bis AHVG festgesetzt. Massgebend ist der nach Artikel 51bis Absatz 2 bei Erreichen des Referenzalters ermittelte Aufwertungsfaktor.
. AHVV (BGE 111 V 132 Erw. 3b mit Hinweisen). Massgebend sind die wirtschaftlichen Verhältnisse, wie sie im Zeitpunkt vorliegen, da der Rückerstattungspflichtige bezahlen sollte (BGE 107 V 80 Erw. 3b mit Hinweisen).
3. a) Die Ausgleichskasse hat aufgrund des Umstandes, dass die massgebende Einkommensgrenze um Fr. 5'532.-- überschritten
BGE 116 V 12 S. 13

wird, das Vorliegen einer grossen Härte verneint und das Erlassgesuch bezüglich des gesamten Rückforderungsbetrages von Fr. 24'228.-- abgelehnt. Es fragt sich, ob dieses Vorgehen der gesetzlichen Erlassregelung und dem Grundgedanken der hiezu ergangenen Rechtsprechung, dem gutgläubigen Rückerstattungsschuldner ein Mindesteinkommen zu sichern (vgl. dazu BGE 107 V 81 ff. Erw. 4 und 5), entspricht. Denn die von der Ausgleichskasse angewandte Lösung hat zur Folge, dass bei jeder noch so geringen Überschreitung der massgebenden Einkommensgrenze der Härtefall zu verneinen und die gesamte Rückforderungssumme, unter Umständen in einem das effektive Einkommen übersteigenden Betrag, zurückzuzahlen ist. b) Gemäss Art. 79 Abs. 1
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 47
AHVV ist dem Rückerstattungspflichtigen, der selbst bzw. dessen gesetzlicher Vertreter in gutem Glauben annehmen konnte, die Rente zu Recht bezogen zu haben, die Rückerstattung ganz oder teilweise zu erlassen, wenn sie für den Pflichtigen angesichts seiner Verhältnisse eine grosse Härte bedeuten würde. Diese Regelung stellt eine zulässige Verdeutlichung von Art. 47 Abs. 1
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 47
AHVG dar, indem sie einerseits die gesetzliche "Kann"-Vorschrift präzisiert, und anderseits nebst dem vollständigen auch den teilweisen Erlass der Rückerstattungsforderung vorsieht (vgl. hiezu MÜLLER, Die Rückerstattung rechtswidriger Leistungen als Grundsatz des öffentlichen Rechts, Diss. Basel 1978, S. 92). Das Institut des teilweisen Erlasses einer Rückerstattungsschuld ermöglicht es, dem gesetzlichen Grundsatz, dass unrechtmässig bezogene Leistungen in dem Umfang zurückzuerstatten sind, als es dem Pflichtigen im Hinblick auf seine finanziellen Verhältnisse möglich und zumutbar ist, gerecht zu werden. Es steht ausser Frage, dass die Rückforderung nach Massgabe des die entsprechende Einkommensgrenze übersteigenden Betrages zu begleichen ist; indessen liegt ein Härtefall insoweit vor, als die Rückforderungssumme das massgebliche Einkommen des Rückerstattungspflichtigen tangiert. In diesem Umfang sind die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass der Rückerstattungsforderung erfüllt. c) In BGE 107 V 80 Erw. 3a hatte das Eidg. Versicherungsgericht den Begriff der grossen Härte wie folgt erläutert: "Das (Vorliegen einer grossen Härte) bedeutet mit anderen Worten, dass die Rückforderung unrechtmässig bezogener Renten durch einmaligen oder wiederholten Abzug (bzw. Verrechnung) nur in dem Ausmass realisiert werden darf, dass die erwähnten gesetzlichen
BGE 116 V 12 S. 14

Einkommensgrenzen nicht unterschritten werden." Aus dieser Formulierung hat WIDMER (Die Rückerstattung unrechtmässig bezogener Leistungen in den Sozialversicherungen, Diss. Basel 1984, S. 171 f.) abgeleitet, die Rückerstattungsforderung sei in dem Umfang - "indirekt" - teilweise zu erlassen, als der geschuldete Rückerstattungsbetrag durch wiederholten Abzug im Umfang des die massgebliche Grenze überschreitenden Einkommens nach Ablauf der gesetzlichen Verjährungs- bzw. Verwirkungsfristen nicht gedeckt sei. Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Wird einem gutgläubigen Rückerstattungspflichtigen infolge Vorliegens einer grossen Härte die Rückforderung ganz oder teilweise erlassen, ist die Rückerstattungsschuld im Umfang des Erlasses endgültig erloschen. Es besteht keine Rechtsgrundlage, um in einem späteren Zeitpunkt auf die Forderung zurückzukommen und die Nachzahlung des noch ausstehenden Betrages zu verlangen. Es widerspräche dem Prinzip der rechtsgleichen Behandlung, im Falle, da die Einkommensgrenze durch einen Teil der Rückforderungssumme überschritten wird, anders zu verfahren als bei Vorliegen der Voraussetzungen für den vollständigen Erlass der Rückerstattungsforderung. Wird der Rückerstattungsbetrag demnach im für die Prüfung des Härtefalles massgeblichen Zeitpunkt durch das die massgebliche Einkommensgrenze überschreitende anrechenbare Einkommen nur zu einem Teil gedeckt, so ist die Rückforderung im darüber hinausgehenden Umfang zu erlassen. Sodann ist darauf hinzuweisen, dass der aus BGE 107 V 80 zitierte Satz die Vollstreckung der Rückerstattungsforderung betrifft und nicht die Frage des (teilweisen) Erlasses. Die "Realisierung" einer Rückforderung kommt erst dann und nur in dem Umfang zum Tragen, als die Rückforderung nicht erlassen worden ist. Nach der von WIDMER (a.a.O., S. 171 f.) vorgeschlagenen Lösung ginge der innert der dreijährigen Vollstreckungsfrist gemäss Art. 16 Abs. 2
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 16 Verjährung - 1 Werden Beiträge nicht innert fünf Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, für welches sie geschuldet sind, durch Erlass einer Verfügung geltend gemacht, so können sie nicht mehr eingefordert oder entrichtet werden. In Abweichung von Artikel 24 Absatz 1 ATSG84 endet die Verjährungsfrist für Beiträge nach den Artikeln 6 Absatz 1, 8 Absatz 1 und 10 Absatz 1 erst ein Jahr nach Ablauf des Kalenderjahres, in welchem die massgebende Steuerveranlagung rechtskräftig wurde.85 Wird eine Nachforderung aus einer strafbaren Handlung hergeleitet, für welche das Strafrecht eine längere Verjährungsfrist festsetzt, so ist diese Frist massgebend.
1    Werden Beiträge nicht innert fünf Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, für welches sie geschuldet sind, durch Erlass einer Verfügung geltend gemacht, so können sie nicht mehr eingefordert oder entrichtet werden. In Abweichung von Artikel 24 Absatz 1 ATSG84 endet die Verjährungsfrist für Beiträge nach den Artikeln 6 Absatz 1, 8 Absatz 1 und 10 Absatz 1 erst ein Jahr nach Ablauf des Kalenderjahres, in welchem die massgebende Steuerveranlagung rechtskräftig wurde.85 Wird eine Nachforderung aus einer strafbaren Handlung hergeleitet, für welche das Strafrecht eine längere Verjährungsfrist festsetzt, so ist diese Frist massgebend.
2    Die gemäss Absatz 1 geltend gemachte Beitragsforderung erlischt fünf Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres, in welchem sie rechtskräftig wurde.86 Während der Dauer eines öffentlichen Inventars oder einer Nachlassstundung ruht die Frist. Ist bei Ablauf der Frist ein Schuldbetreibungs- oder Konkursverfahren hängig, so endet die Frist mit dessen Abschluss. Artikel 149a Absatz 1 des Bundesgesetzes vom 11. April 188987 über Schuldbetreibung und Konkurs ist nicht anwendbar.88 Bei Entstehung des Rentenanspruches nicht erloschene Beitragsforderungen können in jedem Fall gemäss Artikel 20 Absatz 389 noch verrechnet werden.
3    Der Anspruch auf Rückerstattung zuviel bezahlter Beiträge erlischt mit Ablauf eines Jahres, nachdem der Beitragspflichtige von seinen zu hohen Leistungen Kenntnis erhalten hat, spätestens aber fünf Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Beiträge bezahlt wurden. Für Beiträge nach den Artikeln 6 Absatz 1, 8 Absatz 1 und 10 Absatz 1 endet die Frist in Abweichung von Artikel 25 Absatz 3 ATSG in jedem Fall erst ein Jahr nach Ablauf des Kalenderjahres, in welchem die massgebende Steuerveranlagung rechtskräftig wurde. Sind Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge von Leistungen bezahlt worden, die der direkten Bundessteuer vom Reingewinn juristischer Personen unterliegen, so erlischt der Anspruch auf Rückerstattung in Abweichung von Artikel 25 Absatz 3 ATSG ein Jahr nach Ablauf des Kalenderjahres, in welchem die Steuerveranlagung rechtskräftig wurde.90
AHVG (BGE 105 V 74; ZAK 1982 S. 117) nicht einforderbare Restbetrag der rechtskräftig angeordneten Rückerstattung durch Verwirkung unter. Dieselbe Rechtsfolge tritt bei Bösgläubigkeit des Leistungsempfängers ein sowie im Falle, da kein Erlassgesuch gestellt wird. In der Tatsache, dass die durch Zeitablauf erloschene Restforderung bei Gutgläubigkeit des Rückerstattungsschuldners höher ausfällt als im Falle der Bösgläubigkeit, wo nur das betreibungsrechtliche Existenzminimum zu berücksichtigen ist, kann kein Teilerlass erblickt werden.
BGE 116 V 12 S. 15

Schliesslich ist festzustellen, dass diese Lösung auch aus Gründen der Praktikabilität abzulehnen ist. Sie würde bedingen, dass die Verwaltung den die massgebende Einkommensgrenze übersteigenden Betrag zur Festsetzung der Abschlagszahlungen jedes Jahr neu zu ermitteln hätte. d) Aufgrund dieser Überlegungen ist der teilweise Erlass einer Rückerstattungsforderung in dem Umfange zu gewähren, als die Rückforderung im für die Prüfung des Härtefalles massgebenden Zeitpunkt durch das die massgebliche Einkommensgrenze übersteigende Einkommen nicht gedeckt ist. Im vorliegenden Fall bedeutet dies, dass die Rückerstattungsforderung von gesamthaft Fr. 24'228.-- im Fr. 5'532.-- übersteigenden Betrag, somit im Umfang von Fr. 18'696.-- zu erlassen ist. Die Summe von Fr. 5'532.-- hat der Beschwerdegegner zurückzuerstatten...
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 116 V 12
Date : 23. Januar 1990
Published : 31. Dezember 1991
Source : Bundesgericht
Status : 116 V 12
Subject area : BGE - Sozialversicherungsrecht (bis 2006: EVG)
Subject : Art. 47 Abs. 1 AHVG, Art. 79 Abs. 1 AHVV: Rückerstattung unrechtmässig bezogener Leistungen. Umfang des Erlasses, wenn die


Legislation register
AHVG: 16  42  47
AHVV: 56  79
BGE-register
105-V-74 • 107-V-79 • 111-V-130 • 116-V-12
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