116 Ia 455
67. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 22. Januar 1990 i.S. X. und Y. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Eheleute Z. und Obergericht des Kantons Thurgau (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste (de):
- Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
- Bei Fahrlässigkeitstaten müssen in der Anklageschrift sämtliche Umstände aufgeführt werden, aus denen sich die Pflichtwidrigkeit des vorgeworfenen Verhaltens sowie die Vorhersehbarkeit und die Vermeidbarkeit des eingetretenen Erfolges ergeben sollen. Eine Verurteilung aufgrund eines von der Anklageschrift abweichenden Sachverhalts verletzt den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn die Anklage nicht rechtzeitig und in hinreichender Weise im Verlaufe des Verfahrens entsprechend ergänzt oder abgeändert wurde.
Regeste (fr):
- Art. 4 Cst.; droit d'être entendu; principe de l'accusation.
- En cas d'infraction commise par négligence, l'acte d'accusation doit indiquer l'ensemble des circonstances faisant apparaître en quoi l'auteur a manqué de diligence dans son comportement, ainsi que le caractère prévisible et évitable du résultat. Une condamnation fondée sur un état de fait différent de celui qui figure dans l'acte d'accusation viole le droit d'être entendu, si cet acte n'a pas été complété ou modifié d'une manière suffisante en temps utile, au cours de la procédure.
Regesto (it):
- Art. 4 Cost.; diritto di essere sentito; principio accusatorio.
- In caso di reato colposo, l'atto di accusa deve indicare l'insieme delle circostanze da cui risultino in che l'agente ha violato con il suo comportamento il dovere di diligenza incombentegli, come pure il carattere prevedibile ed evitabile dell'evento. Una condanna fondata su di una situazione di fatto diversa da quella figurante nell'atto di accusa lede il diritto di essere sentito, ove tale atto non sia stato adeguatamente e tempestivamente completato o modificato nel corso del procedimento.
Sachverhalt ab Seite 455
BGE 116 Ia 455 S. 455
Am 4. Mai 1985 stürzte auf der Allmend Frauenfeld eine junge Erstabspringerin mit dem Fallschirm ab. Y. hatte bei dem Kurs die Funktion eines Instruktors, und X. war für die Bereitstellung der Schirme verantwortlich. Beide wurden durch das Obergericht des Kantons Thurgau am 6. Juni 1989 wegen fahrlässiger Tötung mit sechs Wochen Gefängnis (bedingt) bestraft. Dagegen richtet sich die vorliegende staatsrechtliche Beschwerde der Verurteilten.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3. Die Beschwerdeführer behaupten eine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Sie machen geltend, sie seien erstmals in der vorinstanzlichen Urteilsbegründung mit den beiden Vorwürfen konfrontiert worden, (1) die von ihnen gewählte Absprunghöhe sei zu niedrig gewesen und (2) sie hätten als Notschirm ein Muster ohne
BGE 116 Ia 455 S. 456
barometrische Öffnungsvorrichtung gewählt. Diese Vorwürfe seien nicht Gegenstand der Anklage noch sonst eines Vorhaltes gewesen. Damit habe die Vorinstanz den Anklagegrundsatz verletzt. aa) Auszugehen ist von einer Nettoabsprunghöhe von etwas mehr als 600 m über Grund. Mit keiner tauglichen Rüge wird angefochten, dass gemäss einer Kunstregel von einer seriösen Absprunghöhe nur dann gesprochen werden könne, wenn der Schirm spätestens in einer Höhe von 700-800 m über Grund vollständig und frei entfaltet ist. Die Beschwerdeführer berufen sich nicht auf eine willkürliche Anwendung kantonalen Prozessrechtes (vgl. §§ 148 und 160 StPO/TG). Zu prüfen ist also einzig, ob die aus Art. 4
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BGE 116 Ia 455 S. 457
Mängel verantwortlich zu sein, indem er selbst diese Fehler beim Packen des Fallschirmes gemacht habe. Dem Beschwerdeführer Y. wird vorgeworfen, in pflichtwidriger Unaufmerksamkeit den Haupt- und Notfallschirm zu wenig genau inspiziert und kontrolliert zu haben, so dass er die Verpackungsfehler am Hauptfallschirm nicht festgestellt sowie nicht bemerkt habe, dass beim Notfallschirm die Federzüge vorschriftswidrig nicht eingehakt waren (vgl. Ziff. 4 der oben zitierten Fehler). Aus der Anklageschrift ergibt sich somit eindeutig, dass den Beschwerdeführern weder eine ungenügende Absprunghöhe noch die Wahl eines ungenügenden Notschirmes (fehlende barometrische Öffnungsvorrichtung), sondern nur Fehler im Zusammenhang mit der Verpackung und Kontrolle des Hauptschirmes sowie zusätzlich beim Beschwerdeführer Y. ein Fehler in bezug auf den Notfallschirm vorgeworfen werden. Dass die Anklage im Laufe des Verfahrens ergänzt oder abgeändert worden wäre, ist aus den Akten nicht ersichtlich und wird weder vom Obergericht noch von der Staatsanwaltschaft, denen Gelegenheit zur Vernehmlassung geboten wurde, behauptet. Auch aus der im angefochtenen Urteil enthaltenen Zusammenfassung des Plädoyers der Staatsanwaltschaft ergibt sich nicht, dass der Vertreter der Anklage den Fahrlässigkeitsvorwurf anders begründet hätte als in der Anklageschrift. Konkret ist nur die Rede von Verpackungs- und Kontrollfehlern, wie sie in der Anklageschrift enthalten sind. Zwar folgt ein genereller Verweis auf die Akten sowie die Aussagen der Experten. Doch ist darin nicht eine Änderung des Anklagevorwurfes zu erblicken, sondern ein Hinweis auf die Beweisgrundlagen. Folglich ist davon auszugehen, dass eine Änderung des Anklagevorwurfes nicht stattgefunden hat und dass das Obergericht auch nicht einen konkreten Hinweis darauf gemacht hat, der Anklagevorwurf werde gegebenenfalls auch unter den Gesichtspunkten der ungenügenden Absprunghöhe oder der fehlenden barometrischen Öffnungsvorrichtung geprüft. Es wäre im übrigen auch nicht Sache des Bundesgerichtes, derartige Hinweise oder allfällige Änderungen der Anklage aus den Akten herauszusuchen, nachdem Obergericht und Staatsanwaltschaft Gelegenheit hatten, in ihren Vernehmlassungen auf diese Gesichtspunkte hinzuweisen. Zwar ist im Rahmen der Sachverständigeneinvernahmen vom 6. Juni 1989 die Frage der Absprunghöhe diskutiert worden und ebenso, ob eine seriöse Sprunghöhe freie Entfaltung des Schirmes bei 700-800 m gewährleisten müsse. Erörtert wurde auch, wie ein
BGE 116 Ia 455 S. 458
barometrisches Öffnungssystem funktioniert und dass dieses System im Paracentro in Locarno bei Erstabsprüngen stets verwendet werde. Allein die Tatsache, dass diese beiden Gesichtspunkte Gegenstand der Expertenbefragung waren, belegt nicht, dass das Obergericht die Beschwerdeführer darauf hingewiesen hätte, es werde den Anklagevorwurf abweichend von der Anklageschrift (und offenbar auch von dem obergerichtlichen Plädoyer des Staatsanwaltes) unter zwei anderen Gesichtspunkten überprüfen. cc) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes hat der Betroffene einen unbedingten Anspruch, vor Erlass eines Entscheides, der ihn belastet oder belasten könnte, angehört zu werden (BGE 114 Ia 99 E. a; BGE 109 Ia 177 f.; 105 Ia 195, 290/91; BGE 101 Ia 296 ff.; vgl. auch ARTHUR HAEFLIGER, Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich, Bern 1985, S. 137). Der Betroffene hat das Recht, sich zu allen relevanten Aspekten vorgängig des Entscheides zu äussern. Dies gilt für Sachfragen, für ihre rechtliche Beurteilung jedenfalls dann, wenn eine Behörde sich auf juristische Argumente zu stützen gedenkt, die den Parteien nicht bekannt sind und mit deren Heranziehung sie nicht rechnen mussten (vgl. G. MÜLLER, Kommentar BV Art. 4 N. 105). Dieser Grundsatz gilt insbesondere auch im Strafverfahren (vgl. BGE 101 Ia 297; HAUSER, Schweiz. Strafprozessrecht, S. 136; NIKLAUS SCHMID, Strafprozessrecht, S. 42 f.). Wie weit sich dies bereits aus dem Anklagegrundsatz ergibt, kann offenbleiben, da sich dieses Prinzip jedenfalls aus dem durch Art. 4
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BGE 116 Ia 455 S. 459
Anklageschrift aufgeführt werden müssen. Wenn dies wie vorliegend nicht geschehen ist, hätten die Beschwerdeführer rechtzeitig in hinreichender Weise darauf hingewiesen werden müssen, dass das Obergericht gedenke, den Vorwurf der Fahrlässigkeit auch unter Bezugnahme auf diese Umstände zu prüfen. So wird denn auch in § 160 Abs. 2 StPO/TG vorgesehen, dass die Parteien zu Tatumständen, welche nicht Gegenstand der Anklage bildeten, besonders anzuhören seien. In der Literatur zum insoweit teilweise vergleichbaren § 265 der deutschen StPO wird denn auch gesagt, es diene der Sicherung der umfassenden Sachaufklärung und der fairen Prozessgestaltung, wenn zum Schutze vor Überraschungen vom Gericht verlangt werde, die Beteiligten auf entscheidungserhebliche Umstände hinzuweisen, wenn ersichtlich ist, dass sie deren Bedeutung verkannt haben (WALTER GOLLWITZER in LÖWE/ROSENBERG, § 265 N. 5; vgl. auch MIEHSLER/VOGLER, Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Art. 6 N. 349). Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Beschwerde insoweit wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäss Art. 4
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