115 IV 4
2. Urteil des Kassationshofes vom 9. Februar 1989 i.S. K. gegen Kriminalkammer des Kantons Thurgau (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
Regeste (de):
- Art. 38 Ziff. 1
und 4
StGB, Art. 2 Abs. 5
VStGB 1; bedingte Entlassung; Reststrafe.
- 1. Art. 38 Ziff. 4
StGB verlangt nicht, dass die Reststrafe vollständig zu verbüssen ist (E. 4).
- 2. Keine Überschreitung der Rechtsetzungskompetenz durch Art. 2 Abs. 5
VStGB 1, der festlegt, dass auch eine Reststrafe bei der Bestimmung des frühesten Zeitpunktes der bedingten Entlassung angemessen berücksichtigt werden darf (E. 1 und 5).
Regeste (fr):
- Art. 38 ch. 1 et 4 CP, art. 2 al. 5 OCP 1; libération conditionnelle; solde de peine.
- 1. L'art. 38 ch. 4 CP n'impose pas que le solde de peine soit purgé entièrement (consid. 4).
- 2. L'art. 2 al. 5 OCP 1, selon lequel même un solde de peine doit entrer dans le calcul servant à fixer la première date de libération conditionnelle ne constitue pas un excès de compétence dans l'application de la loi (consid. 1 et 5).
Regesto (it):
- Art. 38 n. 1 e 4 CP, art. 2 cpv. 5 OCP 1; liberazione condizionale; pena residua.
- 1. L'art. 38 n. 4 CP non esige che la pena residua sia scontata interamente (consid. 4).
- 2. L'art. 2 cpv. 5 OCP 1, secondo cui, per calcolare il termine minimo per la liberazione condizionale, può essere tenuto conto adeguatamente anche di una pena residua, non costituisce un eccesso di competenza normativa (consid. 1 e 5).
Sachverhalt ab Seite 5
BGE 115 IV 4 S. 5
K. verbüsst neben mehreren Freiheitsstrafen, welche in den Jahren 1979, 1983 sowie 1987 ausgefällt wurden, aufgrund einer früheren Verurteilung auch eine Reststrafe von 20 Monaten Zuchthaus, nachdem die ihm diesbezüglich gewährte bedingte Entlassung durch die Justizdirektion des Kantons Zürich widerrufen wurde. Am 9. Juli 1988 stellte K. ein Gesuch um bedingte Entlassung, welches die Kriminalkammer des Kantons Thurgau mit Beschluss vom 6. Dezember 1988 abwies. Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 3. Januar 1989 beantragt K., den Entscheid der Kriminalkammer abzuweisen und das Gesuch um bedingte Entlassung gutzuheissen, eventuell die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Kriminalkammer des Kantons Thurgau verzichtet auf eine Vernehmlassung und beantragt, die Beschwerde abzuweisen.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1. Hat der zu Zuchthaus oder Gefängnis Verurteilte zwei Drittel der Strafe verbüsst, so kann ihn die zuständige Behörde bedingt entlassen, wenn sein Verhalten während des Strafvollzuges nicht dagegen spricht und anzunehmen ist, er werde sich in Freiheit bewähren (Art. 38 Ziff. 1 Abs. 1
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BGE 115 IV 4 S. 6
2. a) Die Vorinstanz lässt offen, ob die Voraussetzungen für die bedingte Entlassung hier erfüllt seien, da bereits die grundsätzliche Frage, ob Art. 38 Ziff. 1 Abs. 1
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3. Die Frage der richtigen Auslegung und Anwendung von Bundesrecht überprüft das Bundesgericht im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren frei (Art. 104 lit. a
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4. Es ist zunächst zu prüfen, ob die Vorinstanz Art. 38 Ziff. 4 Abs. 1
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BGE 115 IV 4 S. 7
allgemeinen Teil des Strafrechts, 2. Band, Bern 1982, S. 61; SCHWANDER, Das Schweizerische Strafgesetzbuch, Freiburg 1963, S. 177, Nr. 355). Diese Lösung drängt sich insbesondere im Hinblick auf lange Freiheitsstrafen auf (LOGOZ/SANDOZ, Commentaire du Code Pénal Suisse, Partie Générale, 2. Auflage, Art. 38 N. 6c; vgl. auch THORMANN/V. OVERBECK, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Allgemeiner Teil, Zürich 1940, S. 164 N. 20), da sich in solchen Fällen nach erfolgter Rückversetzung die Verhältnisse so ändern können, dass es sich rechtfertigt, die Reststrafe erneut zu berücksichtigen; bei kurzen Freiheitsstrafen wird die wiederholte bedingte Entlassung schon aus zeitlichen Gründen in der Praxis kaum in Betracht fallen. Auch in der Bundesrepublik Deutschland wird von Lehre und Rechtsprechung die Meinung vertreten, der Widerruf schliesse eine erneute Aussetzung des Strafrestes nicht aus (SCHÖNKE/SCHRÖDER/STREE, Strafgesetzbuch, 23. Auflage, § 57 N. 33 mit Hinweisen). In der schweizerischen Doktrin wird einzig durch HAFTER (Lehrbuch des schweizerischen Strafrechts, Allgemeiner Teil, Bern 1946, S. 339) - allerdings ohne Begründung - die Auffassung vertreten, es sei der ganze Strafrest zu verbüssen.
Indem die Vorinstanz - nach dem Gesagten zu Unrecht - davon ausgeht, gemäss Art. 38 Ziff. 4
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5. Der Vorinstanz kann auch nicht gefolgt werden, soweit sie ihre Auffassung auf die fehlende Kompetenz des Bundesrates zum Erlass von Art. 2 Abs. 5
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6. Aus diesen Gründen ist die Beschwerde gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. ...