Urteilskopf

114 V 119

24. Urteil vom 8. April 1988 i.S. M. gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht von Appenzell A.Rh.
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Sachverhalt ab Seite 119

BGE 114 V 119 S. 119

A.- Die 1956 geborene Barbara M., ausgebildete Turnlehrerin, begann am 19. Juli 1982 in der Firma J.B. C. eine dreijährige Lehre als Möbelschreinerin und war daher bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch gegen Betriebs- und Nichtbetriebsunfall versichert. Am 18. Juli 1983 erlitt sie anlässlich eines Verkehrsunfalls eine Doppelfraktur des linken Armes, und am 25. Juli 1984 brach sie sich auf einer Bergtour den linken Vorderarm sowie zwei Finger der rechten Hand. Als Folgen blieben Beweglichkeits- und Sensibilitätsdefizite zurück (kreisärztlicher
BGE 114 V 119 S. 120

Abschlussbericht des Dr. med. C. vom 23. Oktober 1985). Die Versicherte musste daher die Ausbildung am 2. Juli 1984 abbrechen, setzte sie aber am 15. April 1985 in der Firma M. I. AG fort. Nachdem die SUVA ihre gesetzliche Leistungspflicht anerkannt hatte, gewährte sie Barbara M. rückwirkend ab 1. November 1985 eine Invalidenrente, wobei die Anstalt eine durch beide Unfälle bewirkte Erwerbsunfähigkeit von 15% annahm (Verfügung vom 12. Dezember 1985). Barbara M. liess Einsprache erheben und die Ausrichtung einer "der effektiv erlittenen Beeinträchtigung in der Erwerbsfähigkeit" entsprechenden Invalidenrente beantragen. Sie liess geltend machen, durch die unfallbedingte zweijährige Verzögerung der Ausbildung erhalte sie bis am 14. April 1987 nur den Lehrlingslohn von Fr. 600.-- im ersten und Fr. 900.-- im zweiten Jahr; demgemäss betrage die Erwerbseinbusse bis 15. April 1986 82% und hernach bis 14. April 1987 73%; eine 15%ige Einschränkung liege erst nach dem Lehrabschluss vor. Mit Einspracheentscheid vom 4. April 1986 hielt die SUVA an der angefochtenen Verfügung fest, da die Abgeltung des einem Lehrling durch Verzögerung der Ausbildung entstandenen Schadens gesetzlich nicht vorgesehen sei.
B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht von Appenzell A.Rh. mit Entscheid vom 23. Oktober 1986 ab.
C.- Die Versicherte lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Begehren auf Festlegung des "zutreffenden Invaliditätsgrades" und Zusprechung einer entsprechenden Invalidenrente. Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Erwägungen

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1. a) Streitig und zu prüfen ist vorliegend die Bemessung des Invaliditätsgrades für die Zeit ab 1. November 1985 (Beginn des Rentenanspruchs). b) Gemäss Art. 18 Abs. 2
SR 832.20 Bundesgesetz vom 20. März 1981 über die Unfallversicherung (UVG)
UVG Art. 18 Invalidität - 1 Ist der Versicherte infolge des Unfalles zu mindestens 10 Prozent invalid (Art. 8 ATSG49), so hat er Anspruch auf eine Invalidenrente, sofern sich der Unfall vor Erreichen des Referenzalters50 ereignet hat.51
1    Ist der Versicherte infolge des Unfalles zu mindestens 10 Prozent invalid (Art. 8 ATSG49), so hat er Anspruch auf eine Invalidenrente, sofern sich der Unfall vor Erreichen des Referenzalters50 ereignet hat.51
2    Der Bundesrat regelt die Bemessung des Invaliditätsgrades in Sonderfällen. Er kann dabei auch von Artikel 16 ATSG abweichen.
Satz 2 UVG wird für die Bestimmung des Invaliditätsgrades das Erwerbseinkommen, das der Versicherte nach Eintritt der unfallbedingten Invalidität und nach Durchführung allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihm zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen
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könnte, in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das er erzielen könnte, wenn er nicht invalid geworden wäre.
2. a) Art. 28 Abs. 1
SR 832.202 Verordnung vom 20. Dezember 1982 über die Unfallversicherung (UVV)
UVV Art. 28 Sonderfälle der Bestimmung des Invaliditätsgrades - 1 Konnte der Versicherte wegen einer Invalidität, welche die Folge eines versicherten Unfalles ist, eine nachweislich geplante und seinen Fähigkeiten entsprechende berufliche Ausbildung nicht aufnehmen oder eine begonnene Ausbildung nicht abschliessen, so ist für die Bestimmung des Invaliditätsgrades dasjenige Erwerbseinkommen massgebend, das er ohne die Invalidität in jenem Beruf erzielen könnte.
1    Konnte der Versicherte wegen einer Invalidität, welche die Folge eines versicherten Unfalles ist, eine nachweislich geplante und seinen Fähigkeiten entsprechende berufliche Ausbildung nicht aufnehmen oder eine begonnene Ausbildung nicht abschliessen, so ist für die Bestimmung des Invaliditätsgrades dasjenige Erwerbseinkommen massgebend, das er ohne die Invalidität in jenem Beruf erzielen könnte.
2    Bei Versicherten, die gleichzeitig mehr als eine unselbständige Erwerbstätigkeit ausüben, ist der Invaliditätsgrad entsprechend der Behinderung in sämtlichen Tätigkeiten zu bestimmen. Übt der Versicherte neben der unselbständigen eine nicht nach dem Gesetz versicherte oder eine nicht entlöhnte Tätigkeit aus, so wird die Behinderung in diesen Tätigkeiten nicht berücksichtigt.
3    War die Leistungsfähigkeit des Versicherten aufgrund einer nicht versicherten Gesundheitsschädigung vor dem Unfall dauernd herabgesetzt, so ist für die Bestimmung des Invaliditätsgrades der Lohn, den er aufgrund der vorbestehenden verminderten Leistungsfähigkeit zu erzielen imstande wäre, dem Einkommen gegenüber zu stellen, das er trotz der Unfallfolgen und der vorbestehenden Beeinträchtigung erzielen könnte.59
4    Nimmt ein Versicherter nach dem Unfall die Erwerbstätigkeit altershalber nicht mehr auf oder wirkt sich das vorgerückte Alter erheblich als Ursache der Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit aus, so sind für die Bestimmung des Invaliditätsgrades die Erwerbseinkommen massgebend, die ein Versicherter im mittleren Alter bei einer entsprechenden Gesundheitsschädigung erzielen könnte.
UVV legt fest, welcher hypothetische, ohne gesundheitliche Einschränkung erzielbare Verdienst (Valideneinkommen) für die Invaliditätsbemessung massgeblich ist, wenn der Versicherte eine geplante Ausbildung unfallbedingt nicht aufnehmen konnte oder abbrechen musste. Dagegen wird der - hier vorliegende - Tatbestand der unfallbedingten Verzögerung bzw. Verlängerung der Ausbildung durch Art. 28 Abs. 1
SR 832.202 Verordnung vom 20. Dezember 1982 über die Unfallversicherung (UVV)
UVV Art. 28 Sonderfälle der Bestimmung des Invaliditätsgrades - 1 Konnte der Versicherte wegen einer Invalidität, welche die Folge eines versicherten Unfalles ist, eine nachweislich geplante und seinen Fähigkeiten entsprechende berufliche Ausbildung nicht aufnehmen oder eine begonnene Ausbildung nicht abschliessen, so ist für die Bestimmung des Invaliditätsgrades dasjenige Erwerbseinkommen massgebend, das er ohne die Invalidität in jenem Beruf erzielen könnte.
1    Konnte der Versicherte wegen einer Invalidität, welche die Folge eines versicherten Unfalles ist, eine nachweislich geplante und seinen Fähigkeiten entsprechende berufliche Ausbildung nicht aufnehmen oder eine begonnene Ausbildung nicht abschliessen, so ist für die Bestimmung des Invaliditätsgrades dasjenige Erwerbseinkommen massgebend, das er ohne die Invalidität in jenem Beruf erzielen könnte.
2    Bei Versicherten, die gleichzeitig mehr als eine unselbständige Erwerbstätigkeit ausüben, ist der Invaliditätsgrad entsprechend der Behinderung in sämtlichen Tätigkeiten zu bestimmen. Übt der Versicherte neben der unselbständigen eine nicht nach dem Gesetz versicherte oder eine nicht entlöhnte Tätigkeit aus, so wird die Behinderung in diesen Tätigkeiten nicht berücksichtigt.
3    War die Leistungsfähigkeit des Versicherten aufgrund einer nicht versicherten Gesundheitsschädigung vor dem Unfall dauernd herabgesetzt, so ist für die Bestimmung des Invaliditätsgrades der Lohn, den er aufgrund der vorbestehenden verminderten Leistungsfähigkeit zu erzielen imstande wäre, dem Einkommen gegenüber zu stellen, das er trotz der Unfallfolgen und der vorbestehenden Beeinträchtigung erzielen könnte.59
4    Nimmt ein Versicherter nach dem Unfall die Erwerbstätigkeit altershalber nicht mehr auf oder wirkt sich das vorgerückte Alter erheblich als Ursache der Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit aus, so sind für die Bestimmung des Invaliditätsgrades die Erwerbseinkommen massgebend, die ein Versicherter im mittleren Alter bei einer entsprechenden Gesundheitsschädigung erzielen könnte.
UVV nicht erfasst. Insoweit diese Bestimmung nicht zur Anwendung gelangt, gilt rechtsprechungsgemäss jener Verdienst als Valideneinkommen, den der Versicherte ohne versicherte gesundheitliche Beeinträchtigung bei sonst gleichen Verhältnissen wahrscheinlich erzielen würde (ZAK 1985 S. 634 Erw. 3, 1980 S. 511 Erw. 4 mit Hinweis und S. 593, 1961 S. 367 Erw. 3; vgl. auch BGE 99 V 29 Erw. 3a und EVGE 1968 S. 92 Erw. 2a). Im Lichte dieses Grundsatzes, der sich unmittelbar aus Art. 18 Abs. 2
SR 832.20 Bundesgesetz vom 20. März 1981 über die Unfallversicherung (UVG)
UVG Art. 18 Invalidität - 1 Ist der Versicherte infolge des Unfalles zu mindestens 10 Prozent invalid (Art. 8 ATSG49), so hat er Anspruch auf eine Invalidenrente, sofern sich der Unfall vor Erreichen des Referenzalters50 ereignet hat.51
1    Ist der Versicherte infolge des Unfalles zu mindestens 10 Prozent invalid (Art. 8 ATSG49), so hat er Anspruch auf eine Invalidenrente, sofern sich der Unfall vor Erreichen des Referenzalters50 ereignet hat.51
2    Der Bundesrat regelt die Bemessung des Invaliditätsgrades in Sonderfällen. Er kann dabei auch von Artikel 16 ATSG abweichen.
UVG ergibt, kann vorliegend entgegen der Auffassung von Vorinstanz und SUVA, wonach eine Verzögerung der Ausbildung von vornherein keine Konsequenzen für die Invaliditätsbemessung habe, nicht der Lehrlingslohn als Valideneinkommen angenommen werden. Denn nach der Aktenlage ist davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin ohne die erlittenen versicherten Unfälle aller Wahrscheinlichkeit nach seit dem 19. Juli 1985 (dem Datum des geplanten Abschlusses der am 19. Juli 1982 begonnenen Lehre) das Einkommen einer gelernten Schreinerin erzielen würde, welches unbestrittenermassen Fr. 39'773.-- beträgt.
b) Es stellt sich weiter die Frage, ob der von der Beschwerdeführerin effektiv erzielte Monatslohn von Fr. 600.-- im ersten und Fr. 900.-- im zweiten Lehrjahr als Invalideneinkommen zu betrachten und der Invaliditätsbemessung zugrunde zu legen ist, was die Vorinstanz mit der Argumentation verneint, es fehle am Erfordernis der stabilen Verhältnisse. Wenn der Verdienst, den ein Versicherter in einem zufälligen Zeitpunkt erzielt, für sich allein grundsätzlich kein genügendes Kriterium für die Bestimmung der Erwerbsunfähigkeit bildet, so kann das Mass der tatsächlichen Erwerbseinbusse mit dem Umfang der Erwerbsunfähigkeit unter Umständen doch übereinstimmen. Dies trifft dann zu, wenn - kumulativ - besonders stabile Arbeitsverhältnisse eine Bezugnahme auf den allgemeinen Arbeitsmarkt praktisch erübrigen, wenn der Versicherte eine Tätigkeit
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ausübt, bei der anzunehmen ist, dass er die ihm verbleibende Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpft (BGE 109 V 27 Erw. 3c), und wenn das Einkommen aus der Arbeitsleistung als angemessen und nicht als Soziallohn (BGE BGE 104 V 90) erscheint.
Die am 15. April 1985 aufgenommene zweite Lehre in der Firma M. I. AG kann durchaus als stabiles Arbeitsverhältnis im Sinne dieser Rechtsprechung gelten. Ferner erscheint auch das Arbeitsentgelt von Fr. 600.-- (im ersten Lehrjahr) bzw. Fr. 900.-- (im zweiten Lehrjahr) als angemessener Leistungslohn eines Lehrlings. Zu prüfen ist aber, ob die Beschwerdeführerin durch diese Tätigkeit die ihr verbleibende Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpft oder ob ihr eine bessere Verwertung der Restarbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt durch Wiederaufnahme des ursprünglich erlernten Turnlehrerinnenberufes zumutbar ist. Dies ist angesichts der gesundheitlichen Einschränkungen wie auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die am 19. Juli 1982 begonnene Schreinerlehre bereits recht weit vorangeschritten war, als sie unfallbedingt abgebrochen werden musste, zu verneinen. Somit erweist sich die Entlöhnung im Rahmen der am 15. April 1985 neu aufgenommenen Ausbildung von Fr. 600.-- bzw. Fr. 900.-- als zumutbares Invalideneinkommen während der Lehrzeit. Der Invaliditätsgrad ist demnach ab 1. November 1985 durch Vergleich des Lehrlingslohnes mit dem Verdienst eines ausgelernten Schreiners festzulegen.
c) Der SUVA bleibt eine revisionsweise Änderung des Invaliditätsgrades gemäss Art. 22 Abs. 1
SR 832.20 Bundesgesetz vom 20. März 1981 über die Unfallversicherung (UVG)
UVG Art. 22 Revision der Rente - In Abweichung von Artikel 17 Absatz 1 ATSG63 kann die Rente ab dem Monat, in dem die berechtigte Person eine ganze AHV-Rente nach Artikel 40 Absatz 1 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 194664 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG) vorbezieht, spätestens jedoch ab Erreichen des Referenzalters nach Artikel 21 Absatz 1 AHVG nicht mehr revidiert werden.
UVG auf den 15. April 1987, das Datum des Lehrabschlusses, vorbehalten.
Dispositiv

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts von Appenzell A.Rh. vom 23. Oktober 1986 und der Einspracheentscheid vom 4. April 1986 aufgehoben, und es wird die Sache an die SUVA zurückgewiesen, damit diese im Sinne der Erwägungen über den Rentenanspruch neu verfüge.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 114 V 119
Date : 08. April 1988
Published : 31. Dezember 1988
Source : Bundesgericht
Status : 114 V 119
Subject area : BGE - Sozialversicherungsrecht (bis 2006: EVG)
Subject : Art. 18 Abs. 2 Satz 2 UVG, Art. 28 Abs. 1 UVV: Massgebliches Validen- bzw. Invalideneinkommen für die Bemessung der Invalidität


Legislation register
UVG: 18  22
UVV: 28
BGE-register
104-V-90 • 109-V-25 • 114-V-119 • 99-V-28
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