114 IV 173
48. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 26. April 1988 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Glarus gegen B. (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste (de):
- Art. 14 VO über die Verhütung von Unfällen bei Arbeiten an und auf Dächern (SR 832.311.15).
- 1. Die Nichteinhaltung der gestützt auf Art. 83
SR 832.20 Bundesgesetz vom 20. März 1981 über die Unfallversicherung (UVG)
UVG Art. 83 Ausführungsvorschriften - 1 Der Bundesrat erlässt nach Anhören der unmittelbar beteiligten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen Vorschriften über technische, medizinische und andere Massnahmen zur Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten in den Betrieben. Er bestimmt, wer die Kosten trägt.
1 Der Bundesrat erlässt nach Anhören der unmittelbar beteiligten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen Vorschriften über technische, medizinische und andere Massnahmen zur Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten in den Betrieben. Er bestimmt, wer die Kosten trägt. 2 Der Bundesrat erlässt Vorschriften über die Mitwirkung von Arbeitsärzten und andern Spezialisten der Arbeitssicherheit in den Betrieben. - 2. Von den Schutzmassnahmen gemäss Art. 14 VO kann nur dann abgesehen werden, wenn keine Arbeiten an der Traufe (wie bspw. das Auswechseln der Dachrinne) bzw. am Dachgesims vorgenommen werden (E. 2b/c, E. 3).
Regeste (fr):
- Art. 14 de l'ordonnance concernant la prévention des accidents dans les travaux de toiture et les travaux exécutés sur les toits (RS 832.311.15).
- 1. Le fait de ne pas respecter les prescriptions techniques fondées sur l'art. 83 LAA et destinées à prévenir les accidents professionnels constitue en règle générale l'indice de la violation du devoir de prudence (consid. 2a).
- 2. On ne peut renoncer aux mesures de protection au regard de l'art. 14 de l'ordonnance précitée que s'il n'est prévu aucun travail sur le chéneau (comme le changement des gouttières) (consid. 2b/c, consid. 3).
Regesto (it):
- Art. 14 dell'ordinanza concernente la prevenzione degli infortuni per lavori di qualsiasi genere inerenti ai tetti (RS 832.311.15).
- 1. L'inosservanza di prescrizioni tecniche fondate sull'art. 83 LAINF e destinate a prevenire gli infortuni professionali costituisce, di regola, l'indizio di una violazione del dovere di diligenza (consid. 2a).
- 2. Può rinunciarsi alle misure di protezione previste dall'art. 14 dell'ordinanza solo se non si effettua alcun lavoro sulla grondaia (come, ad esempio, la sostituzione del canale di gronda) o sul cornicione (consid. 2b/c, consid. 3).
Sachverhalt ab Seite 173
BGE 114 IV 173 S. 173
A.- B. stellte anlässlich des Umbaus eines Geschäftshauses in Glarus am 30. August 1985 für die Vornahme von Spengler- und Dachdeckerarbeiten das Baugerüst auf; wie er wusste, sollte insbesondere
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die Dachrinne ersetzt werden. Da keine Arbeiten auf dem Dach selber auszuführen waren, wurde darauf verzichtet, einen Gerüstgang mit dicht geschlossenem Bretterbelag unterhalb der Dachtraufe zu errichten. Am 4. September 1985 stürzte S., als er im Begriffe stand, einen Eimer mit Werkzeug an einem Seil aussen über das Gerüst zu sich heraufzuziehen, vom obersten Gerüstgang ca. 12 m in die Tiefe und verschied auf der Unfallstelle. Es muss angenommen werden, dass er sich an die horizontale Geländerstange anlehnte und diese aus einer ihrer Fixationen sprang, worauf S. das Gleichgewicht verlor und hinunterstürzte.
B.- Das Polizeigericht des Kantons Glarus verurteilte K., den Arbeitgeber des Verunfallten, wegen fahrlässiger Tötung zu einer Busse von Fr. 500.-- und B. wegen fahrlässiger Tötung und Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde zu einer Busse von Fr. 1'000.--.
C.- Gegen diese Verurteilung wandte sich B. mit Appellation an das Obergericht des Kantons Glarus, welches ihn von Schuld und Strafe freisprach, unter gleichzeitiger Abweisung der Anschlussappellation der Staatsanwaltschaft.
D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Glarus führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichtes aufzuheben und den Fall zur Verurteilung von B. an die Vorinstanz zurückzuweisen.
E.- Der Instruktionsrichter holte beim Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) einen Amtsbericht ein über die Entstehungsgeschichte von Art. 14 der Verordnung über die Verhütung von Unfällen bei Arbeiten an und auf Dächern (SR 832.311.15; nachstehend Verordnung bzw. VO).
Erwägungen
Auszug aus den Erwägungen:
2. a) Eine Verurteilung des Beschwerdeführers wegen fahrlässiger Tötung nach Art. 117
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 117 - Wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 229 - 1 Wer vorsätzlich bei der Leitung oder Ausführung eines Bauwerks oder eines Abbruchs die anerkannten Regeln der Baukunde ausser Acht lässt und dadurch wissentlich Leib und Leben von Menschen gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.308 |
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1 | Wer vorsätzlich bei der Leitung oder Ausführung eines Bauwerks oder eines Abbruchs die anerkannten Regeln der Baukunde ausser Acht lässt und dadurch wissentlich Leib und Leben von Menschen gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.308 |
2 | Lässt der Täter die anerkannten Regeln der Baukunde fahrlässig ausser Acht, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe. |
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 117 - Wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
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hätte erkennen können. Bei der Bestimmung des dem Einzelfall zugrunde zu legenden Massstabes des sorgfaltsgemässen Verhaltens kann auf Verordnungen zurückgegriffen werden, die der Unfallverhütung dienen (BGE 106 IV 80; 112 IV 5; MICHEL CARRARD, ZStrR 1987, 284). Dies gilt insbesondere im Bauwesen, wo der Bundesrat gestützt auf Art. 83
SR 832.20 Bundesgesetz vom 20. März 1981 über die Unfallversicherung (UVG) UVG Art. 83 Ausführungsvorschriften - 1 Der Bundesrat erlässt nach Anhören der unmittelbar beteiligten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen Vorschriften über technische, medizinische und andere Massnahmen zur Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten in den Betrieben. Er bestimmt, wer die Kosten trägt. |
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1 | Der Bundesrat erlässt nach Anhören der unmittelbar beteiligten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen Vorschriften über technische, medizinische und andere Massnahmen zur Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten in den Betrieben. Er bestimmt, wer die Kosten trägt. |
2 | Der Bundesrat erlässt Vorschriften über die Mitwirkung von Arbeitsärzten und andern Spezialisten der Arbeitssicherheit in den Betrieben. |
3. a) Die Vorinstanz beruft sich auf das von der SUVA herausgegebene Merkblatt 22024, welches in der Tat für das Auswechseln der Dachrinne eine blosse Seilsicherung genügen lässt (Bilder 6 und 8, ebenso S. 11 2. Bild); dabei fällt allerdings auf, dass auf dessen Abbildungen keinerlei Gerüst vorhanden ist. Es ist daher nicht einzusehen, wie die Vorinstanz in diesem Zusammenhang zum Schluss kommt, dass auch mit einem Gerüst ohne Schutzwand "eine mit einer blossen Seilsicherung vergleichbare
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und gleichwertige Schutzmassnahme auf diese Art und Weise zweifelsohne gegeben" sei. Das Merkblatt geht vielmehr davon aus, dass beim blossen Auswechseln der Dachrinne auf ein Gerüst überhaupt verzichtet werden könne, sofern eine ausreichende Seilsicherung erfolgt. Nun nimmt die Vorinstanz selbst nicht an, dass der Verunfallte mit einem Seil gesichert war. Dann ist aber nicht ersichtlich, weshalb auf die Anforderungen gemäss Art. 14 VO hätte verzichtet werden dürfen. Im Gegenteil: Die Installation eines Gerüstes ohne Schutzwand barg die Gefahr in sich, dass es für Arbeiten benützt würde, für die die Sicherung mittels einer Schutzwand notwendig war.
b) Die Vorinstanz stützt sich weiter auf die Äusserungen des Sachverständigen Vogel, wonach im vorliegenden Fall die Verordnung über die Verhütung von Unfällen bei Bauarbeiten (SR 832.311.141) anwendbar sei und das verwendete Gerüst, soweit er dies beurteilen könne, den darin geforderten Sicherheiten entsprochen habe. Dessen Äusserungen können jedoch, wie die Beschwerdeführerin zu Recht hervorhebt, Sicherheitsvorschriften, wie sie in einer Verordnung niedergelegt sind, nicht ausser Kraft setzen. c) Auch die Entstehungsgeschichte von Art. 14 VO ergibt keine Anhaltspunkte für eine Auslegung der Bestimmung gegen ihren Wortlaut. Im Entwurf vom 19.1.1967 lautete die Überschrift von Abschnitt III noch: "Dachdeckerarbeiten bei Neubauten oder Umdecken von bestehenden Dachflächen". Sowohl diese Überschrift wie auch der Text von Abs. 1 der damaligen Fassung ("beim Eindecken von Neubauten sowie beim Umdecken oder Neueindecken ganzer Dachflächen an bestehenden Bauten") zeigen, dass bei Art. 14 VO zumindest ursprünglich nur an eigentliche Dachdeckerarbeiten gedacht wurde. Die heutige Fassung sowohl der Überschrift von Abschnitt III ("Arbeiten an und auf Dächern") wie auch des Textes von Abs. 1 ("bei Arbeiten an und auf Dächern") geht zurück auf eine im Anschluss an die Vernehmlassung durchgeführte Besprechung vom 5.7.1967 mit interessierten Organisationen; danach wurde die Änderung vorgenommen, um eine "Diskriminierung der Dachdecker zu vermeiden", nachdem diese die Entwurfsfassung kritisiert hatten. Im Antrag des EDI an den Bundesrat betreffend Verabschiedung der VO wird denn auch ausdrücklich differenziert: "Im Abschnitt über die Arbeiten an und auf Dächern werden die Massnahmen umschrieben, welche einerseits zum Schutze der Versicherten
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gegen Absturz über die Dächer hinaus, andererseits gegen Absturz bei Verrichtungen an den Dachtraufen und -rinnen sowie an der Dachuntersicht zu treffen sind."
Daraus erhellt, dass der Wortlaut von Art. 14 VO durchaus den Sinn und Zweck der Bestimmung wiedergibt. Wenn die italienische Fassung von Art. 14 Abs. 1 VO abweichend von der übereinstimmenden deutschen und französischen Fassung lautet "Per lavori di qualsiasi genere sui tetti", so stellt sich dies als blosse redaktionelle Ungenauigkeit heraus, wie schon die Bezeichnung der Verordnung ("Ordinanza concernente la prevenzione degli infortuni per lavori di qualsiasi genere inerenti ai tetti") erkennen lässt. Damit besteht kein Grund, vom Wortlaut der Bestimmung abzuweichen.