Urteilskopf

112 Ia 161

28. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 3. September 1986 i.S. X. gegen Bezirksanwaltschaft Zürich und Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde)
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Sachverhalt ab Seite 162

BGE 112 Ia 161 S. 162

Die Bezirksanwaltschaft Zürich verdächtigt X., zusammen mit Y. in Zürich eine Bankfiliale überfallen zu haben. Bei seiner Verhaftung kurz nach dem Überfall trug der Verdächtigte keinen Bart. In der Untersuchungshaft liess er sich einen Vollbart wachsen. Am 26. Mai 1986 verfügte die Bezirksanwaltschaft Zürich, dass X. die Entfernung seines Bartes zu dulden habe, damit er mit den Augenzeugen des Überfalls konfrontiert werden könne. X. rekurrierte hiegegen an die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, die den Rekurs mit Verfügung vom 18. Juni 1986 abwies. Gegen diesen Entscheid führt X. mit Eingabe vom 24. Juni 1986, ergänzt am 22. August 1986, staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht. Er rügt im wesentlichen eine Verletzung der persönlichen Freiheit, des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit und des Art. 3
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 3 Verbot der Folter - Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
EMRK. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3. Der Beschwerdeführer sieht in der umstrittenen Anordnung, die Entfernung seines Bartes dulden zu müssen, eine Verletzung seines Rechts auf persönliche Freiheit und körperliche Unversehrtheit. a) Die Garantie der persönlichen Freiheit ist ein ungeschriebenes Grundrecht der Bundesverfassung, das nicht nur die Bewegungsfreiheit und die körperliche Integrität, sondern darüber hinaus alle Freiheiten schützt, die elementare Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung darstellen (BGE 109 Ia 279 E. 4a mit Hinweisen). Das Recht der persönlichen Freiheit gilt indessen nicht absolut. Beschränkungen sind zulässig, wenn sie auf gesetzlicher Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sind; zudem darf die persönliche Freiheit weder völlig unterdrückt noch ihres Gehalts als Institution der Rechtsordnung entleert werden (BGE 109 Ia 281 E. 4a mit Hinweisen). b) Im vorliegenden Fall geht es um die zwangsweise Entfernung des Bartes des Beschwerdeführers. Damit steht ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit in Frage (vgl. BVerfGE 47, 239, auch veröffentlicht in: EuGRZ 1978, S. 96 ff.). Ist ein solcher Eingriff in die persönliche Freiheit als schwer zu betrachten, so ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung die Auslegung und Anwendung des kantonalen Rechts frei zu prüfen. Steht dagegen ein leichter Eingriff in Frage, so hat das Bundesgericht Auslegung und
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Anwendung des kantonalen Rechts nur auf Willkür hin zu prüfen (BGE 108 Ia 66 E. 2a; BGE 107 Ia 140 E. 4a, je mit Hinweisen). Die Entfernung des Bartes kann die Erscheinung einer Person stark verändern. Wird sie gegen den Willen des Betroffenen durchgesetzt, so greift die entsprechende Anordnung erheblich in sein Recht auf körperliche Unversehrtheit ein. Gleichwohl kann nicht von einem schweren Eingriff im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung gesprochen werden. Zunächst unterscheidet sich die Bartrasur erheblich vom Kahlscheren des Kopfes; es handelt sich um eine Massnahme der Gestaltung des körperlichen Erscheinungsbildes, wie sie die überwiegende Mehrzahl der Schweizer Männer und zeitweise sogar der Beschwerdeführer selbst auszuführen pflegt. In der Regel wird daher auch kaum von einer Entstellung die Rede sein können, was beim Kahlscheren des Kopfes eher der Fall sein dürfte. Aus diesem Grund vermag die Berufung des Beschwerdeführers auf ein Werk der Strafrechtsliteratur nicht durchzudringen, wonach das "objektiv in erheblichem Masse entstellende Kahlscheren" als Körperverletzung bezeichnet wird (GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil, Band 1, Bern 1973, S. 58). Sodann hat die zwangsweise Bartrasur lediglich vorübergehenden Charakter; nach durchgeführter Gegenüberstellung des Beschwerdeführers mit den Augenzeugen des Banküberfalls wird er den Bart ohne weiteres wieder wachsen lassen können. Es wird von ihm lediglich verlangt, für kurze Zeit wieder so aufzutreten, wie er es früher schon freiwillig getan hat. Die streitige Anordnung bewirkt somit lediglich einen relativ geringfügigen Eingriff (vgl. BVerfGE 47, 248, auch veröffentlicht in: EuGRZ 1978, S. 97/98). Hieran ändert auch die Befürchtung des Beschwerdeführers nichts, dass er mit grosser Wahrscheinlichkeit bei der zwangsweisen Rasur verletzt werde. Eine sachgerechte Entfernung des Bartes ist erfahrungsgemäss ohne Verletzung möglich. Sollte der Beschwerdeführer jedoch deshalb verletzt werden, weil er sich handgreiflich der Rasur entziehen möchte, so hätte er sich das entgegen seiner Ansicht selbst zuzuschreiben. Ebenfalls zu keiner andern Beurteilung der Intensität des Eingriffs führen die Behauptungen des Beschwerdeführers, die Anordnung der Bartrasur mache ihn lächerlich, erniedrige ihn, habe Prangerwirkung und bedeute für ihn eine psychische Schmach. Ob ein Eingriff als schwer oder als leicht zu werten ist, entscheidet sich nach objektiven Kriterien. Wie die vorstehenden Ausführungen
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zeigen, kann von derart schwerwiegenden Nebenwirkungen der streitigen Anordnung nicht ernsthaft die Rede sein. Abgesehen davon dürfte der Beschwerdeführer auch subjektiv nicht übermässig unter der Anordnung leiden, ist er doch noch vor kurzer Zeit selbst freiwillig ohne Bart aufgetreten. Nicht zu Gunsten eines schweren Eingriffs spricht schliesslich die Annahme des Beschwerdeführers, die streitige Anordnung wiege mindestens gleich schwer wie die Blutprobe. So hat das Bundesgericht im Jahre 1984 festgestellt, bei der Blutentnahme könne offensichtlich nicht von einem schweren Eingriff in die persönliche Freiheit gesprochen werden (unveröffentlichtes Urteil vom 18. Mai 1984 i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft und Anklagekammer des Kantons St. Gallen, E. 2a).
4. a) Der Beschwerdeführer sieht zunächst darin eine Verletzung des Grundrechts der persönlichen Freiheit, dass sich die umstrittene Anordnung zur Bartrasur nicht auf eine gesetzliche Grundlage zu stützen vermöge. Wie es sich damit verhält, ist nach dem Gesagten nur auf Willkür hin zu prüfen (E. 3). Die Staatsanwaltschaft erblickt die gesetzliche Grundlage der streitigen Anordnung in § 145 StPO. Jedenfalls sinngemäss sieht sie diese auch in § 146 StPO. Diese beiden Vorschriften lauten: § 145. Müssen dem Zeugen zum Zwecke der Anerkennung Personen vorgestellt oder Sachen vorgelegt werden, so ist er vorher aufzufordern, sie so gut als möglich zu beschreiben. § 146. Zur Hebung von Widersprüchen kann jeder Zeuge dem anderen oder dem Angeschuldigten gegenübergestellt werden. Es versteht sich von selbst, dass die Vorschriften von §§ 145 und 146 StPO bei der Gegenüberstellung von Angeschuldigtem und Zeugen zum Zweck der Erkennung nur dann sinnvoll anwendbar sind, wenn der Angeschuldigte dabei so erscheint, wie er zur Zeit der ihm vorgeworfenen Tat vermutlich ausgesehen hat. Wäre es anders, könnte der Angeschuldigte den Zweck der Gegenüberstellung vereiteln, indem er sein Aussehen verändern würde. Gestatten aber die §§ 145 und 146 StPO die Gegenüberstellung ausdrücklich, so durften die Zürcher Behörden ohne Willkür in diesen Vorschriften auch die gesetzliche Grundlage sehen, den Beschwerdeführer zur Duldung der Bartrasur zu verpflichten, trug er doch bei seiner Verhaftung kurze Zeit nach der Tat keinen Bart. Verhält es sich so, braucht auf die Ausführungen des Beschwerdeführers zu den § 26, 31 sowie 156 StPO und zu § 41 KV nicht näher eingegangen zu werden.
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b) Der Beschwerdeführer erachtet die umstrittene Anordnung zur Entfernung seines Bartes sodann als unverhältnismässig. Er begründet diese Rüge im wesentlichen damit, dass es an einem dringenden Tatverdacht fehle, dass die Täter des Banküberfalls laut einem Zeitungsbericht maskiert gewesen seien, weshalb die beabsichtigte Gegenüberstellung von vornherein zwecklos sei, und dass ein Täterbild existiere, das sich von ihm wesentlich unterscheide. Aus den polizeilichen Ermittlungen ist zu schliessen, dass jedenfalls einer der Täter nicht während der ganzen Dauer des Banküberfalls maskiert gewesen ist. Sodann haben einzelne Augenzeugen des Überfalls bei der Fotokonfrontation den Beschwerdeführer als allenfalls möglichen Täter bezeichnet. Es kann daher nicht gesagt werden, dass ein Täterbild existiere, das sich wesentlich von der Erscheinung des Beschwerdeführers unterscheide. Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer, der sich selbst als mittellos bezeichnet, bei seiner Verhaftung rund Fr. 100'000.-- auf sich getragen hatte. Dieser Betrag liegt in der Grössenordnung der beim Überfall erlangten Beute. All diese Umstände rechtfertigen die Annahme des dringenden Tatverdachts. Die umstrittene Anordnung bezweckt, die Strafuntersuchung durch eine persönliche Gegenüberstellung zwischen Beschwerdeführer und Augenzeugen des Banküberfalls zu ergänzen. Der Beschwerdeführer, der als der eine - bartlose - Täter verdächtigt wird, trug bei seiner Verhaftung kurze Zeit nach dem Überfall keinen Bart. Könnte er mit Vollbart an der beabsichtigten Gegenüberstellung teilnehmen, hätte die Konfrontation offensichtlich keinen Sinn. Die Anordnung der Bartrasur geht somit nicht weiter, als es der Zweck der Gegenüberstellung gebietet. Sie dient der Aufklärung eines schweren Verbrechens, woran ein gewichtiges öffentliches Interesse besteht. Von einem unverhältnismässigen Eingriff in die persönliche Freiheit des Beschwerdeführers kann daher keine Rede sein. c) Die umstrittene Anordnung durfte somit ohne Willkür auf die §§ 145 und 146 StPO gestützt werden. Sie erweist sich im weitern als verhältnismässig. Da der Beschwerdeführer mit Recht nicht geltend macht, ihr fehle das öffentliche Interesse und sie wahre den Kerngehalt des Grundrechts nicht, erweist sich die Rüge der Verletzung der persönlichen Freiheit als unbegründet.
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5. Der Beschwerdeführer rügt schliesslich eine Verletzung von Art. 3
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 3 Verbot der Folter - Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
EMRK, da er die zwangsweise Entfernung seines Bartes als erniedrigende Behandlung empfindet. Diese Rüge ist offensichtlich unbegründet. Die umstrittene Anordnung ist in keiner Weise erniedrigend. Sie verfolgt auch nicht im entferntesten den Zweck, den Beschwerdeführer in irgendeiner Art zu demütigen. Sie dient ausschliesslich dem Ziel, eine zur Aufklärung eines schweren Verbrechens erforderliche und nicht anders durchführbare Gegenüberstellung des Beschwerdeführers mit den Augenzeugen der Tat zu ermöglichen. Schliesslich kann die angeordnete Bartrasur um so weniger als erniedrigend bezeichnet werden, als der Beschwerdeführer schon früher freiwillig keinen Bart getragen hat.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 112 IA 161
Datum : 03. September 1986
Publiziert : 31. Dezember 1987
Quelle : Bundesgericht
Status : 112 IA 161
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : Persönliche Freiheit; Art. 3 EMRK. Zwangsrasur. Die Anordnung der Bartrasur zwecks Konfrontation des Beschuldigten mit Zeugen


Gesetzesregister
EMRK: 3
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 3 Verbot der Folter - Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
BGE Register
107-IA-138 • 108-IA-64 • 109-IA-273 • 112-IA-161
Stichwortregister
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