111 II 313
62. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 5. Dezember 1985 i.S. S. gegen S. und Obergericht des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste (de):
- Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
- Der Vollstreckungsrichter ist nicht befugt, unter genereller Berufung auf das Kindeswohl die Elternrechte neu und abweichend vom Scheidungsurteil zu ordnen. Der Vollstreckungsrichter kann aber die Herausgabe des Kindes an den Elternteil, unter dessen elterliche Gewalt und Obhut es durch das Scheidungsurteil gestellt wurde, verweigern und ein psychiatrisches Gutachten einholen, welches Antwort darauf gibt, ob der vom Scheidungsrichter angeordneten Kindeszuteilung durch Zwangsvollzug Geltung verschafft werden soll, wenn der herausgabeverpflichtete Elternteil das Kind während längerer Zeit betreut hat.
Regeste (fr):
- Art. 4 Cst.; attribution de l'enfant et ordre de le rendre.
- Le juge de l'exécution n'est pas compétent pour régler à nouveau et différemment du jugement de divorce les droits des parents, en invoquant de manière générale l'intérêt de l'enfant. Mais il peut refuser que l'enfant soit rendu au parent auquel le jugement de divorce a attribué l'autorité parentale et la garde, et faire faire une expertise psychiatrique qui réponde à la question de savoir si l'on doit faire respecter par l'exécution forcée l'attribution de l'enfant ordonnée par le jugement de divorce, quand le parent qui est tenu de rendre l'enfant en a pris soin pendant un certain temps.
Regesto (it):
- Art. 4 Cost.; attribuzione del figlio e ordine di restituzione.
- Il giudice dell'esecuzione non è competente a disciplinare i diritti dei genitori in modo nuovo e diverso da quello della sentenza di divorzio, invocando in maniera generale l'interesse del figlio. Egli può tuttavia rifiutare che il figlio sia restituito al genitore a cui la sentenza di divorzio ha attribuito l'autorità parentale e la custodia, e ordinare una perizia psichiatrica sulla questione se debba essere fatta rispettare coercitivamente l'attribuzione del figlio disposta nella sentenza di divorzio, laddove il genitore tenuto a restituire il figlio ne abbia preso cura durante un certo periodo di tempo.
Sachverhalt ab Seite 314
BGE 111 II 313 S. 314
A.- Mit Urteil des Bezirksgerichts Bülach wurde die Ehe der Eheleute S. geschieden. Die 1975 geborene Tochter T. der Parteien wurde unter die elterliche Gewalt der Mutter gestellt. Sie lebt aber, nachdem sich bei der Ausübung des Besuchsrechts Schwierigkeiten ergeben hatten, seit nun mehr als einem Jahr bei ihrem Vater. Im Mai 1985 stellte die Mutter beim Bezirksgericht Bülach das Begehren, es sei die Tochter unverzüglich ihr als Inhaberin der elterlichen Gewalt herauszugeben. Dieses Begehren wurde mit Beschluss der II. Abteilung des Bezirksgerichts Bülach an den Einzelrichter im summarischen Verfahren überwiesen. Der Einzelrichter führte im Juli 1985 mit den Parteien eine mündliche Verhandlung und am folgenden Tag einen Augenschein durch. Er verfügte ferner, es sei bei der Psychiatrischen Universitätspoliklinik für Kinder und Jugendliche ein Gutachten über das Kind einzuholen.
B.- Gegen diese Verfügung erhob die Mutter Nichtigkeitsbeschwerde beim Obergericht des Kantons Zürich. Dieses wies die Nichtigkeitsbeschwerde ab, soweit darauf eingetreten wurde. Hierauf gelangte die Mutter mit staatsrechtlicher Beschwerde an das Bundesgericht, welchem sie beantragte, "es seien die vorinstanzlichen Entscheide aufzuheben und die verlangte Herausgabe
BGE 111 II 313 S. 315
zu befehlen". Das Bundesgericht wies die staatsrechtliche Beschwerde ab mit folgenden
Erwägungen
Erwägungen:
4. Nach der Auffassung des Obergerichts des Kantons Zürich steht die Vollstreckung des Scheidungsurteils generell unter dem Vorbehalt des Kindesinteresses, insofern durch das Urteil das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern geregelt wird. Unter Hinweis auf Lehre und Rechtsprechung (STRÄULI/MESSMER, N. 4 f. zu § 222 ZPO; BGE 107 II 301 ff.) führt das Obergericht aus, das Kindesinteresse sei oberste Richtschnur, deshalb bedürfe es keiner besonderen gesetzlichen Grundlage, um dem Richter zu erlauben, bei Auseinandersetzungen um Kinder grundsätzlich im Interesse und zum Wohl des Kindes zu entscheiden. Grundsätzlich zu Recht wendet sich die Beschwerdeführerin dagegen, dass dem Vollstreckungsrichter aufgrund eines solchen allgemeinen Vorbehaltes die Befugnis eingeräumt wird, von sich aus neu über die Kindeszuteilung zu befinden. Ist es unbestritten, dass für den Scheidungsrichter, welcher gestützt auf Art. 156 Abs. 1
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SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
BGE 111 II 313 S. 316
Art. 157
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5. Wie dargelegt, sind mit dem Scheidungsurteil grundsätzlich endgültige und dauerhafte Anordnungen zu treffen. Dennoch ist nicht auszuschliessen, dass von den Betroffenen den Anordnungen des Scheidungsrichters nicht oder nur teilweise nachgelebt wird. So mag es - wie im vorliegenden Fall - vorkommen, dass dem Inhaber der elterlichen Gewalt die Obhut über das Kind faktisch entzogen bleibt. Nimmt der Elternteil, dem das Kind zugesprochen wurde, diesen Zustand über längere Zeit hin, so wird sich das Kind psychisch auf die tatsächliche Situation einstellen. Jedenfalls das Kind, welches bezüglich der Herausgabe ein eigenes Urteil hat, darf deshalb - selbst gestützt auf ein Scheidungsurteil - nicht einer Sache dergestalt gleichgestellt werden, dass die Herausgabe mittels Zwangsvollzug durchgesetzt wird (HEGNAUER, N. 88 zu Art. 273 aZGB). Aus dieser Sicht hat deshalb der Vollstreckungsrichter in angemessener Weise dem Kindeswohl Rechnung getragen, wenn er ein
BGE 111 II 313 S. 317
Gutachten veranlasst hat, durch welches abzuklären ist, ob der vom Scheidungsrichter getroffenen Anordnung - d.h. der Unterstellung der Tochter T. unter die elterliche Gewalt ihrer Mutter - durch Zwangsvollzug Geltung verschafft werden kann. Die Mutter hat erst neun Monate, nachdem ihr die Obhut über das Kind entzogen worden war, den Vollstreckungsrichter angerufen. Während all dieser Zeit hat sich die jetzt zehnjährige T. bei ihrem Vater aufgehalten; sie fühlt sich, nach den Feststellungen der kantonalen Instanzen, dort wohl. Eine vom Vollstreckungsrichter befohlene Herausgabe des Kindes an die Mutter ist möglicherweise geeignet, diesem Schaden zuzufügen. Um dem vorzubeugen, hat der Vollstreckungsrichter - vollauf im Kindesinteresse - das Gutachten bei der Psychiatrischen Universitätspoliklinik für Kinder und Jugendliche in Auftrag gegeben. Der Erledigungsbeschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, mit welchem die Nichtigkeitsbeschwerde der Mutter abgewiesen und damit die Anordnung eines Gutachtens durch den Einzelrichter im summarischen Verfahren des Bezirksgerichts Bülach geschützt wurde, kann deshalb nicht als willkürlich bezeichnet werden. Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass der Vollstreckungsrichter in seinem Auftrag an den Experten u.a. gefragt hat, ob die elterliche Gewalt dem Vater zu übertragen oder der Mutter zu belassen sei - eine Frage, die nicht Gegenstand des von der Beschwerdeführerin angestrengten Vollstreckungsverfahrens sein kann.