111 Ia 169
31. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 16. Oktober 1985 i.S. X. gegen den Gerichtspräsidenten VIII von Bern und die Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste (de):
- Art. 4
SR 101 Constitution fédérale de la Confédération suisse du 18 avril 1999
Cst. Art. 4 Langues nationales - Les langues nationales sont l'allemand, le français, l'italien et le romanche.
- Wenn der Mangel der Unterschrift so rechtzeitig erkannt worden ist, dass die betreffende Partei den Fehler bei entsprechendem Hinweis innert Frist hätte verbessern können, verletzt das Stillschweigen der Behörden Art. 4
SR 101 Constitution fédérale de la Confédération suisse du 18 avril 1999
Cst. Art. 4 Langues nationales - Les langues nationales sont l'allemand, le français, l'italien et le romanche.
Regeste (fr):
- Art. 4 Cst., formalisme excessif; art. 221 al. 2 CPP/BE, opposition à un mandat de répression, défaut de signature.
- Lorsque le défaut de signature est décelé suffisamment tôt pour que la partie concernée puisse être invitée à corriger l'informalité dans le délai légal, la passivité de l'autorité viole l'art. 4 Cst.
Regesto (it):
- Art. 4 Cost., formalismo eccessivo; art. 221 cpv. 2 CPP/BE, assenza della firma nell'atto di opposizione contro un decreto penale.
- Ove l'assenza della firma sia stata rilevata a un momento in cui la parte interessata poteva ancora essere invitata a correggere tale vizio formale prima della scadenza del termine legale, l'attitudine passiva seguita dall'autorità è lesiva dell'art. 4 Cost.
Sachverhalt ab Seite 169
BGE 111 Ia 169 S. 169
X. wurde mit Strafmandat des Richteramtes VIII Bern vom 4. März 1985 wegen verschiedener Verstösse gegen Strassenverkehrsvorschriften
BGE 111 Ia 169 S. 170
mit einer Busse von Fr. 500.-- nebst Kosten belegt. Die auf einem Formular ausgefertigte schriftliche Mitteilung enthielt den Hinweis darauf, dass gegen die Verurteilung innert zehn Tagen beim Richter Einsprache erhoben werden könne. Das Strafmandat wurde X. am 5. März 1985 zugestellt. Am 6. März 1985 richtete dieser an das Richteramt VIII Bern folgendes Schreiben: "Messieurs,
J'accuse réception de votre avis du 4 ct.
Je vous prie de prendre bonne note que je conteste le bien-fondé de cette dénonciation et que j'y forme opposition. Veuillez agréer, Messieurs, mes salutations distinguées."
Das Schreiben enthält keine Unterschrift, doch figurieren Namen und Adresse des Absenders in Maschinenschrift sowohl im Kopf der Eingabe als auch auf dem Briefumschlag. Mit Beschluss vom 19. März 1985 stellte der Gerichtspräsident VIII von Bern fest, die Unterschrift bilde Gültigkeitserfordernis jeder Einsprache; da sie hier fehle, sei das Strafmandat in Rechtskraft erwachsen. Die Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland visierte diese Verfügung am 28. März 1985. Am 29. März 1985 liess X. durch einen bernischen Fürsprecher gegen den genannten Beschluss bei der Anklagekammer des Obergerichtes des Kantons Bern Beschwerde erheben mit den Anträgen, er sei aufzuheben, und der Gerichtspräsident VIII von Bern sei anzuweisen, die Einsprache als gültig zu betrachten und das weitere Verfahren einzuleiten; eventuell sei ihm eine Nachfrist zur Unterzeichnung der Eingabe vom 6. März 1985 anzusetzen. Die Anklagekammer wies die Beschwerde nach Einholung eines Berichtes des Gerichtspräsidenten VIII von Bern am 17. April 1985 ab. X. erhob hiergegen staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4
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Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2. a) Die Anklagekammer hat festgestellt, die Unterschrift des Rechtsmittelklägers auf der Rechtsmittelerklärung stelle ein Gültigkeitserfordernis dar; Art. 221 Abs. 2 des bernischen Gesetzes über das Strafverfahren (StrV/BE), der dies für den Einspruch
BGE 111 Ia 169 S. 171
gegen ein Strafmandat ausdrücklich bestimme, sei keine blosse Ordnungsvorschrift. Die Einhaltung der Form diene der Rechtssicherheit, weshalb nicht davon abgesehen werden könne. Wollte man verlangen, dass die ein Rechtsmittel empfangende Behörde eine Verbesserung veranlassen müsse, dann müsste dies aus Gründen der Rechtssicherheit nicht nur bei Fehlen der Unterschrift, sondern auch bei unklarem Inhalt der Erklärung geschehen. Eine Pflicht zu einer solchen Überprüfung der Rechtsmitteleingaben würde indessen zu weit führen und die Bestimmungen über die Rechtsmittel zu reinen Ordnungsvorschriften machen. Häufig sei auch das Rechtsmittel gar nicht bei der Behörde einzureichen, welche den angefochtenen Entscheid erlassen habe; in diesem Falle sei die Behörde, welcher die Erklärung zugehe, zu deren formeller Kontrolle gar nicht in der Lage. Schliesslich würde es auch von zufälligen Umständen, wie etwa von der Dauer der Beförderung einer Eingabe durch die Post, abhängen, ob die Partei, die einen Formfehler begangen habe, rechtzeitig darauf aufmerksam gemacht werden könnte oder nicht; hierin läge eine rechtsungleiche Behandlung. b) Der Bechwerdeführer hält dem entgegen, er habe nicht verlangt, dass einer Partei eine - über die gesetzliche Frist hinausgehende - Nachfrist zur Behebung des Formmangels angesetzt werde; vielmehr rüge er als überspitzten Formalismus einzig, dass der Gerichtspräsident VIII von Bern die noch zur Verfügung stehende Frist von acht Tagen nicht dazu benützt habe, ihn auf seinen Fehler aufmerksam zu machen. Notwendig sei eine Abwägung zwischen dem erlaubten, die ordnungsgemässe Erledigung eines Verfahrens erst ermöglichenden Formalismus und dem Anspruch des Bürgers, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe durch die dafür eingesetzten Instanzen überprüfen zu lassen. Nach seiner Auffassung hätte hier das letztgenannte Interesse überwogen.
3. Das Bundesgericht hat in einem Urteil vom 22. Juli 1976 (BGE 102 IV 142) festgestellt, auf eine an die Anklagekammer dieses Gerichtes gerichtete Beschwerde ohne Unterschrift sei nicht einzutreten. Eine Nachfrist könne in solchen Fällen jedenfalls dann nicht angesetzt werden, wenn die Beschwerdefrist bereits abgelaufen sei (Formulierung im französischen Originaltext: "Cela signifie qu'une telle plainte est irrecevable si elle n'est pas revêtue de la signature de son auteur, sans que, le délai de plainte étant échu, il soit possible d'impartir au plaignant un délai supplémentaire
BGE 111 Ia 169 S. 172
pour régulariser l'acte."). Seither hat das Bundesgericht keine Urteile über diese Fragen mehr veröffentlicht. Es ist somit festzuhalten, dass die Unterschrift unter der in einer nach Bundesrecht zu beurteilenden Rechtsmittelerklärung nach wie vor als Gültigkeitserfordernis betrachtet wird und dass demnach eine gleichartige Rechtsprechung zu Rechtsmittelerklärungen des kantonalen Rechtes nicht willkürlich sein kann. Gleich verhält es sich mit der Verbindlichkeit der Rechtsmittelfristen, d.h. mit der Unzulässigkeit, über die gesetzlich bestimmte Dauer hinausgehende Nachfristen anzusetzen. Diese beiden Fragen sind indessen im vorliegenden Falle auch nicht streitig. Zu beurteilen ist einzig, ob es einen Verstoss gegen Art. 4
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BGE 111 Ia 169 S. 173
Bestimmung von Art. 52 Abs. 2
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4. a) In der vorliegenden Sache hat der Gerichtspräsident VIII von Bern in seinem Bericht an die Anklagekammer des Obergerichtes ausgeführt, er wisse nicht mehr, ob ihm die Einsprache des Beschwerdeführers noch am Tage ihres Eingangs bei seiner Kanzlei, d.h. am 7. März 1985, vorgelegt worden sei; er weist in diesem Zusammenhang auf die von ihm um dieselbe Zeit zu behandelnden zahlreichen Geschäfte hin. Hingegen anerkennt der Präsident im folgenden, dass er den Beschwerdeführer aufgrund einer langjährigen Praxis des Obergerichtes nicht auf das Fehlen der Unterschrift aufmerksam gemacht habe. Man kann die Stellungnahme des Gerichtspräsidenten VIII kaum anders verstehen als so, dass er die Eingabe des Beschwerdeführers spätestens am 8. März 1985 zur Kenntnis genommen und dabei auch das Fehlen der Unterschrift bemerkt hat. Da die zehntägige Einsprachefrist erst am 15. März 1985 ablief, hätte somit zweifellos noch genügend
BGE 111 Ia 169 S. 174
Zeit zur Verfügung gestanden, um den Beschwerdeführer einzuladen, den Mangel zu beheben. Somit ist die im erwähnten Urteil i.S. S. vom 22. Oktober 1980 im Sinne eines obiter dictums aufgeworfene Frage, ob unter solchen Umständen nicht eine Pflicht zur Benachrichtigung des Beschwerdeführers bestehe, hier von entscheidender Bedeutung. b) Es ist unbestritten, dass das bernische Prozessrecht eine Pflicht der genannten Art nicht kennt. Es kann sich somit einzig fragen, ob sie sich - wie der Beschwerdeführer geltend macht - unmittelbar aus Art. 4
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Nun ist allerdings nicht zu verkennen, dass die vorstehend dargelegten Erwägungen durch das Interesse des Staates an einem der Rechtssicherheit genügenden Verfahren begrenzt werden, wodurch ein gewisser Interessengegensatz entsteht. So liegt, wie bereits beiläufig bemerkt, ein Verstoss gegen Art. 4
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BGE 111 Ia 169 S. 175
bestanden wird, und es bedeutet auch keine Verletzung von Art. 4
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