110 V 10
3. Urteil vom 22. Februar 1984 i.S. Ausgleichskasse VATI gegen Bürgergemeinde der Stadt Luzern und Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
Regeste (de):
- Art. 47 Abs. 1
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 47
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV)
AHVV Art. 76
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV)
AHVV Art. 76
- - Eine Fürsorgebehörde, die im Hinblick auf erbrachte Vorschussleistungen mit ausdrücklicher Zustimmung des Berechtigten nachzuzahlende Renten entgegennimmt, ist als Drittempfänger im Sinne von Art. 76 Abs. 1
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV)
AHVV Art. 76
- - Rückerstattungspflicht eines solchen Drittempfängers (Erw. 2).
- - Zu Unrecht erfolgte Auszahlung von zwei einfachen Kinderrenten anstelle einer Doppelkinderrente: Die Fürsorgebehörde, welcher die mit der nachzuzahlenden Doppelkinderrente zu verrechnende einfache Kinderrente ausbezahlt wurde, ist nicht rückerstattungspflichtig für die der Versicherten (von einer andern Ausgleichskasse) ausgerichtete zweite einfache Kinderrente (Erw. 3).
Regeste (fr):
- Art. 47 al. 1 LAVS, art. 76 et 78 RAVS.
- - Une autorité d'assistance qui reçoit des rentes arriérées, eu égard à des avances qu'elle a consenties et moyennant l'autorisation expresse de l'ayant droit, doit être considérée comme tiers destinataire au sens de l'art. 76 al. 1 RAVS (consid. 1).
- - Obligation de restitution à charge d'un tel tiers destinataire (consid. 2).
- - Versement indu de deux rentes simples pour enfant au lieu d'une rente double: l'autorité d'assistance à qui l'on a versé la rente simple pour enfant qui doit être compensée avec l'arriéré de la rente double, n'est pas tenue de restituer la seconde rente simple pour enfant allouée (par une autre caisse de compensation) à l'assuré (consid. 3).
Regesto (it):
- Art. 47 cpv. 1 LAVS, art. 76 e 78 OAVS.
- - L'autorità assistenziale, la quale in considerazione di anticipi prestati, con l'esplicito consenso dell'avente causa, percepisce rendite arretrate, è da ritenere terzo destinatario ai sensi dell'art. 76 cpv. 1 OAVS (consid. 1).
- - Obbligo di restituzione per tale terzo (consid. 2).
- - Pagamento eseguito a torto di due rendite semplici per figli in luogo di una doppia rendita: l'autorità assistenziale, la quale ha ricevuto la rendita semplice per figlio che deve essere compensata con l'arretrato della rendita doppia, non è tenuta a restituire la seconda rendita per figlio assegnata all'assicurato da un'(altra) cassa di compensazione (consid. 3).
Sachverhalt ab Seite 11
BGE 110 V 10 S. 11
A.- Irma E. bezog von der Ausgleichskasse VATI ab 1. März 1976 eine halbe und ab 1. März 1981 eine ganze einfache Invalidenrente sowie drei einfache Kinderrenten für die 1965, 1967 und 1968 geborenen Kinder (Verfügungen vom 5. Juli 1976 und 9. Oktober 1981). Ihr geschiedener Mann bezieht seinerseits eine einfache Invalidenrente, welche ihm von der Ausgleichskasse des Kantons Graubünden ausgerichtet wird. Weil er es unterlassen hatte, auf den Rentenbezug der geschiedenen Frau hinzuweisen, wurden dieser mit Wirkung ab 1. April 1980 auch von der Ausgleichskasse des Kantons Graubünden drei ganze einfache Kinderrenten zugesprochen (Verfügung vom 22. Oktober 1981). Die Bürgergemeinde der Stadt Luzern unterstützte Irma E. und deren Kinder in der Zeit vom 1. April 1980 bis 31. Oktober 1981 durch Unterstützungsbeiträge und Alimentenbevorschussung im Betrage von Fr. 10'317.--. Im September 1981 erfuhr die Bürgergemeinde, dass die Ausgleichskasse des Kantons Graubünden beabsichtigte, der geschiedenen Frau Kinderrenten zuzusprechen. Sie gab der Kasse hierauf bekannt, dass Irma E. ihr die Ansprüche u.a. auf rückwirkend zugesprochene Sozialleistungen abgetreten habe, und verlangte die Überweisung des Betrages von Fr. 10'317.-- zur Deckung ihrer Vorschussleistungen. Die Ausgleichskasse des Kantons Graubünden entsprach diesem Begehren und überwies der Bürgergemeinde von den rückwirkend zugesprochenen Kinderrenten von insgesamt Fr. 14'364.-- den Betrag von Fr. 10'317.-- (Verfügung vom 22. Oktober 1981). Am 11. Mai 1982 wurde die Ausgleichskasse VATI von der Zentralen Ausgleichsstelle darauf aufmerksam gemacht, dass die Kinderrenten doppelt zur Ausrichtung gelangten. Die Kasse teilte Irma E. in der Folge mit, dass sie in der Zeit vom 1. April 1980 bis 31. Mai 1982 zu Unrecht Kinderrenten im Betrage von Fr. 17'172.-- bezogen habe und dass sie nach Verrechnung der von der Ausgleichskasse des Kantons Graubünden auszurichtenden Doppelkinderrenten einen Betrag von Fr. 12'828.-- zurückzuerstatten habe (Verfügung vom 1. Juni 1982). Als Irma E. ein Erlassgesuch einreichte, verlangte die Ausgleichskasse VATI mit Verfügung vom 21. Juli 1982 von der Bürgergemeinde Luzern die Rückerstattung des von der Ausgleichskasse des Kantons Graubünden überwiesenen Betrages von Fr. 10'317.--.
BGE 110 V 10 S. 12
B.- Gegen diese Verfügung beschwerte sich die Bürgergemeinde Luzern im wesentlichen mit der Begründung, dass ihr von der Ausgleichskasse VATI keine Rentenzahlungen überwiesen worden seien, weshalb auch keine Rückerstattungspflicht gegenüber dieser Kasse bestehe; eine Rückforderung für doppelt ausgerichtete Kinderrenten sei bei der Rentenempfängerin Irma E. geltend zu machen. Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern stellte mit Entscheid vom 30. November 1982 fest, dass Irma E. ihre Rentenansprüche kraft Gesetzes nicht rechtskräftig habe abtreten können, so dass der "Abtretungserklärung" vom 29. August 1980 lediglich die Bedeutung einer Inkassovollmacht beigemessen werden könne. Rückerstattungspflichtig seien auch Drittpersonen und Behörden, welchen die Rente gemäss Art. 76 Abs. 1
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) AHVV Art. 76 |
C.- Die Ausgleichskasse VATI erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde sinngemäss mit dem Antrag, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben. Sie macht geltend, die Überweisung der Rentennachzahlung an die Bürgergemeinde sei erfolgt, weil diese aufgrund ihrer Unterhaltsleistungen Anspruch auf die Nachzahlung erhoben habe. Von der Funktion her könne eine Fürsorgestelle, welche Unterstützungsbeiträge leiste, nicht mit einer Inkassostelle (z.B. einer Bank) verglichen werden. Als Rentenempfängerin sei die Bürgergemeinde in vollem Umfange rückerstattungspflichtig.
Die Bürgergemeinde stellt demgegenüber fest, sie habe keinen Einfluss auf das Rentenverhältnis gehabt; auch habe Irma E. sie freiwillig mit dem Inkasso rückwirkend eingehender Sozialleistungen beauftragt; es sei ferner nicht so, dass ihr die Renten überwiesen worden seien, weil deren zweckgemässe Verwendung nicht gewährleistet gewesen sei. Das Bundesamt für Sozialversicherung vertritt die Auffassung, dass die Bürgergemeinde aufgrund ihrer Vorschussleistungen nicht als blosse Inkassostelle zu betrachten und daher als Rentenempfängerin gemäss Art. 78
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) AHVV Art. 76 |
BGE 110 V 10 S. 13
Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1. a) Gemäss Art. 20
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG) AHVG Art. 20 - 1 Der Rentenanspruch ist der Zwangsvollstreckung entzogen.106 |
|
1 | Der Rentenanspruch ist der Zwangsvollstreckung entzogen.106 |
2 | Mit fälligen Leistungen können verrechnet werden: |
a | die Forderungen aufgrund dieses Gesetzes, des IVG107, des Erwerbsersatzgesetzes vom 25. September 1952108 und des Bundesgesetzes vom 20. Juni 1952109 über die Familienzulagen in der Landwirtschaft; |
b | Rückforderungen von Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung; |
c | die Rückforderung von Renten und Taggeldern der obligatorischen Unfallversicherung, der Militärversicherung, der Arbeitslosenversicherung und der Krankenversicherung.110 |
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG) AHVG Art. 45 |
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) AHVV Art. 76 |
SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG) IVG Art. 50 Zwangsvollstreckung und Verrechnung - 1 Der Rentenanspruch ist der Zwangsvollstreckung entzogen. |
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1 | Der Rentenanspruch ist der Zwangsvollstreckung entzogen. |
2 | Für die Verrechnung findet Artikel 20 Absatz 2 AHVG302 sinngemäss Anwendung. |
SR 831.201 Verordnung vom 17. Januar 1961 über die Invalidenversicherung (IVV) IVV Art. 84 |
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) AHVV Art. 76 |
BGE 110 V 10 S. 14
ermächtigt. Als Abtretung der Versicherungsansprüche kann dieser Erklärung keine Rechtswirkungen zukommen (Art. 20 Abs. 1
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG) AHVG Art. 20 - 1 Der Rentenanspruch ist der Zwangsvollstreckung entzogen.106 |
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1 | Der Rentenanspruch ist der Zwangsvollstreckung entzogen.106 |
2 | Mit fälligen Leistungen können verrechnet werden: |
a | die Forderungen aufgrund dieses Gesetzes, des IVG107, des Erwerbsersatzgesetzes vom 25. September 1952108 und des Bundesgesetzes vom 20. Juni 1952109 über die Familienzulagen in der Landwirtschaft; |
b | Rückforderungen von Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung; |
c | die Rückforderung von Renten und Taggeldern der obligatorischen Unfallversicherung, der Militärversicherung, der Arbeitslosenversicherung und der Krankenversicherung.110 |
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) AHVV Art. 76 |
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) AHVV Art. 76 |
2. a) Nach Art. 47 Abs. 1
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG) AHVG Art. 47 |
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) AHVV Art. 76 |
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) AHVV Art. 76 |
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG) AHVG Art. 47 |
SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG) IVG Art. 49 Durchführung von Eingliederungsmassnahmen - Der Entscheid über die Durchführung von Eingliederungsmassnahmen (Art. 28 Abs. 1 Bst. a) hat spätestens zwölf Monate nach Geltendmachung des Leistungsanspruchs nach Artikel 29 Absatz 1 ATSG300 zu erfolgen. |
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) AHVV Art. 76 |
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) AHVV Art. 76 |
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) AHVV Art. 76 |
BGE 110 V 10 S. 15
nach Rz. 1092 RWL denn auch schriftlich zu verpflichten, der Ausgleichskasse die erforderlichen Meldungen zu machen und allenfalls zu Unrecht bezogene Renten zurückzuerstatten. Anders verhält es sich bei Dritten (z.B. einer Bank), welche die Leistungen im Auftrag des Berechtigten lediglich als Inkasso- oder Zahlstelle entgegennehmen. Solche Stellen haben keine eigenen Rechte und Pflichten (insbesondere keine Meldepflicht) aus dem Rentenverhältnis, weshalb es sich auch nicht rechtfertigen lässt, sie als rückerstattungspflichtig zu erachten. Insofern bedarf Rz. 1174 RWL, wonach jeder Dritte rückerstattungspflichtig ist, dem eine Rente oder Hilflosenentschädigung ohne Rechtsgrund ausbezahlt worden ist, der Präzisierung. Die Bürgergemeinde Luzern hat der Versicherten aufgrund des Reglementes über Bevorschussung und Inkasso von Unterhaltsleistungen für unmündige Kinder vom 26. Juni 1979 Vorschussleistungen erbracht und dadurch den mit den nachgezahlten Kinderrenten angestrebten Unterhaltszweck vorläufig sichergestellt. Die Leistungen erfolgten unter dem Vorbehalt der Verrechnung mit rückwirkend zur Ausrichtung gelangenden Sozialleistungen, womit sich die Versicherte ausdrücklich einverstanden erklärt hat. Die Bürgergemeinde kann unter diesen Umständen nicht als blosse Inkasso- oder Zahlstelle betrachtet werden, welche die Rente für die Versicherte in deren Auftrag entgegengenommen hat. Sie ist nach dem Gesagten vielmehr als Drittempfängerin der Rente im Sinne von Art. 76
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) AHVV Art. 76 |
3. Im erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren machte die Bürgergemeinde geltend, sie sei schon deshalb nicht rückerstattungspflichtig, weil ihr von der Ausgleichskasse VATI keine Rentenzahlungen überwiesen worden seien, so dass auch keine Rückerstattungspflicht gegenüber dieser Kasse bestehe. Diesbezüglich ist davon auszugehen, dass die einfachen Kinderrenten beider Ausgleichskassen für die Zeit ab 1. April 1980 zu Unrecht ausgerichtet worden sind. Die Ausgleichskasse des Kantons Graubünden konnte indessen keine Rückforderung geltend machen, sondern hatte eine Nachzahlung für Doppelkinderrenten (unter Verrechnung der einfachen Kinderrenten) zu erbringen. Dagegen hatte die Ausgleichskasse VATI die zu Unrecht ausgerichteten einfachen Kinderrenten zurückzufordern. Empfängerin dieser Renten war aber nicht die Bürgergemeinde, sondern die Versicherte gewesen,
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von welcher die Renten auch zurückzufordern sind. Bei den zu Unrecht ausgerichteten Renten handelt es sich zwar um gleichartige Leistungen, welche den gleichen Rentenberechtigten zustanden. Dies allein vermag eine Rückerstattungspflicht der Bürgergemeinde für die von der Ausgleichskasse VATI an Irma E. ausgerichteten Renten jedoch nicht zu begründen. Auch im Hinblick auf die Erlassfrage ist nicht unerheblich, welche Renten der Bürgergemeinde überwiesen wurden. Würde die Bürgergemeinde zur Rückerstattung der von der Ausgleichskasse VATI ausbezahlten Renten verpflichtet, entfiele die Möglichkeit eines Erlasses der Rückforderung, weil sich Behörden nicht auf eine grosse Härte im Sinne von Art. 47 Abs. 1
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG) AHVG Art. 47 |
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG) AHVG Art. 47 |
Dispositiv
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.