108 II 542
100. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 25. November 1982 i.S. B. AG gegen K. und drei Mitbeteiligte (Berufung)
Regeste (de):
- Auslegung einer Dienstbarkeit (Art. 738 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 738 - 1 Soweit sich Rechte und Pflichten aus dem Eintrage deutlich ergeben, ist dieser für den Inhalt der Dienstbarkeit massgebend.
1 Soweit sich Rechte und Pflichten aus dem Eintrage deutlich ergeben, ist dieser für den Inhalt der Dienstbarkeit massgebend. 2 Im Rahmen des Eintrages kann sich der Inhalt der Dienstbarkeit aus ihrem Erwerbsgrund oder aus der Art ergeben, wie sie während längerer Zeit unangefochten und in gutem Glauben ausgeübt worden ist. - Die Auslegung des Erwerbstitels einer Dienstbarkeit hat nach dem Vertrauensprinzip zu erfolgen. Die darin zum Ausdruck gelangenden Willenserklärungen der Parteien sind in dem Sinne massgebend, in dem sie von einem aufmerksamen, sachlich denkenden Menschen nach Treu und Glauben verstanden werden. Individuelle Absichten und Motive der an der Errichtung der Dienstbarkeit Beteiligten, die für einen Dritten nicht erkennbar sind, dürfen bei der Auslegung des Erwerbstitels nicht berücksichtigt werden.
Regeste (fr):
- L'interprétation d'une servitude (art. 738 al. 2 CC).
- L'interprétation du titre d'acquisition d'une servitude doit se faire selon le principe de la bonne foi. Les déclarations des parties qui y sont consignées sont déterminantes dans le sens où elles sont comprises, selon les règles de la bonne foi, par un homme attentif et raisonnant objectivement. Les intentions et les motifs individuels, non reconnaissables pour un tiers, de ceux qui ont pris part à la constitution de la servitude ne sauraient être pris en considération lors de l'interprétation du titre d'acquisition.
Regesto (it):
- Interpretazione di una servitù (art. 738 cpv. 2 CC).
- L'interpretazione del titolo d'acquisto di una servitù va effettuata secondo il principio della buona fede. Le dichiarazioni delle parti ivi espresse sono determinanti nel senso in cui sono comprese, secondo le regole della buona fede, da una persona attenta e che ragiona obiettivamente. Gli intenti e i motivi individuali, non riconoscibili per un terzo, di coloro che hanno partecipato alla costituzione della servitù non possono essere considerati nell'interpretazione del titolo d'acquisto.
Sachverhalt ab Seite 542
BGE 108 II 542 S. 542
A.- L. hatte in X. ein grosses Stück Land erworben, um es zu erschliessen und zu überbauen, bzw. parzellenweise als Bauland zu verkaufen. Bei der Parzellierung seines Grundbesitzes liess er im Jahre 1961 auf den neu gebildeten Grundstücken eine als
BGE 108 II 542 S. 543
Baubeschränkung bezeichnete Grunddienstbarkeit im Grundbuch eintragen, und zwar auf jedem Grundstück gleichzeitig als Last zugunsten und als Recht zulasten der übrigen Parzellen. In dem für die Eintragung massgebenden Grundbuchbeleg wurde diese Baubeschränkung wie folgt umschrieben: "Die jeweiligen Eigentümer der Parzellen Nr. 1920 bis 1931, 1934 bis 1941 und 1943 bis 1951 verpflichten sich gegenseitig dinglich, auf ihren Parzellen Bauten zu erstellen, die lediglich ein Untergeschoss, ein Obergeschoss ( = Parterre) und ein Dachgeschoss enthalten. Die auszuführenden Bauten dürfen keine Flachdächer aufweisen." Nach den Aussagen, die L. im vorliegenden Prozess als Zeuge machte, war äusserer Anlass der Servitutsbegründung die Kritik der einheimischen Bevölkerung gegenüber den Fremden, die mit der Überbauung des betreffenden Landes nach X. kommen sollten. Mit der Servitut hätten der bauliche Charakter, wie er damals in jenem Gebiet vorgeherrscht habe, erhalten und grössere Bauvorhaben verhindert werden wollen. Auf entsprechend häufige Fragen von Bauinteressenten hin habe sodann auf Grund der Dienstbarkeit versichert werden können, dass die Aussicht garantiert sei. Wichtig sei vor allem gewesen, dass bloss kleine Chalets wie im betreffenden Gebiet üblich und keine halben Hotels im Chaletstil gebaut würden. Zweck der Servitut sei demnach gewesen, die Dimension und die Höhe der Häuser zu beschränken.
B.- Eine der aus der Parzellierung des Landes von L. hervorgegangenen Parzellen (Grundbuchblatt-Nr. 1938) war von I. erworben worden. Dieser stellte am 22. April 1977 ein Baugesuch zur Erstellung eines Mehrfamilienhauses auf seinem Grundstück. Verschiedene Eigentümer von Nachbargrundstücken bekämpften dieses Projekt und fochten die Baubewilligung vor sämtlichen kantonalen Instanzen an. Diesen Bemühungen blieb indessen der Erfolg versagt. Mit Urteil vom 27. April 1981 wies letztinstanzlich das Verwaltungsgericht des Kantons Bern die Beschwerde der Nachbarn gegen die Bestätigung der Baubewilligung durch den Regierungsrat ab. Inzwischen war das Eigentum am betreffenden Grundstück von I. auf die B. AG übergegangen, die anstelle des bisherigen Eigentümers in das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht eingetreten war. Die B. AG reichte am 19. April 1982 gestützt auf Baupläne vom 18. und 30. November 1981 ein Gesuch um Abänderung des ursprünglichen Projektes ein, das sie mit einem Entgegenkommen gegenüber den Nachbarn begründete. Die abgeänderten Pläne
BGE 108 II 542 S. 544
sehen eine Reduktion der Gebäudehöhe um ca. 0,95 m und eine solche der Gebäudebreite um 2 m vor.
C.- Am 27. April 1981 erhoben vier Eigentümer von Nachbargrundstücken der B. AG beim Appellationshof des Kantons Bern Klage gegen diese. Sie verlangten die Feststellung, dass das Bauprojekt der Beklagten die Baubeschränkungsservitut verletze (Klagebegehren Ziff. 1), und beantragten, es sei der Beklagten die Erstellung des geplanten Mehrfamilienhauses unter Strafandrohung zu verbieten (Klagebegehren Ziff. 2). Nachdem die Beklagte das ursprüngliche Projekt am 19. April 1982 abgeändert hatte, beantragten die Kläger im Sinne einer Klageänderung neu, es sei festzustellen, dass auch das Projekt gemäss Abänderungsgesuch der Beklagten die Dienstbarkeit verletze, und es sei der Beklagten unter der gleichen Androhung zu verbieten, auf ihrem Grundstück ein Haus nach den abgeänderten Plänen zu bauen. Die Beklagte erhob keine Einwendungen gegen die Klageänderung und erklärte, sich den Rechtsbegehren Ziffern 1 und 2 der Klage zu unterziehen. Mit Urteil vom 19. Mai 1982 nahm und gab der Appellationshof davon Akt, dass sich die Beklagte der Klage mit Bezug auf die Klagebegehren Ziffern 1 und 2 unterzogen habe (Ziffer 1 des Dispositivs). Sodann stellte er fest, dass auch das Projekt der Beklagten gemäss Abänderungsgesuch vom 19. April 1982, das sich auf die Pläne vom 18. und 30. November 1981 stützte, die zulasten des Grundstücks der Beklagten und zugunsten der Grundstücke der Kläger im Grundbuch eingetragene Baubeschränkungsservitut verletze (Ziffer 2 des Dispositivs). Schliesslich verbot der Appellationshof der Beklagten, ein Mehrfamilienhaus nach den erwähnten Plänen auf Parzelle Nr. 1938 zu erstellen, unter Androhung der Straffolgen gemäss Art. 403 der Zivilprozessordnung für den Kanton Bern im Widerhandlungsfall (Ziffer 3 des Dispositivs). Die Ziffern 4 und 5 des Urteilsdispositivs regelten die Kostentragungs- und Entschädigungspflicht.
D.- Die Beklagte hat gegen das Urteil des Appellationshofes des Kantons Bern Berufung an das Bundesgericht erhoben. Sie beantragt, es seien die Ziffern 2 bis 5 des Dispositivs dieses Urteils aufzuheben und die Klage sei insoweit abzuweisen. Das Bundesgericht heisst die Berufung gut, hebt die Ziffern 2 bis 5 des Dispositivs des angefochtenen Urteils auf und weist die Klage ab.
BGE 108 II 542 S. 545
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2. Nach Art. 738 Abs. 1
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SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 738 - 1 Soweit sich Rechte und Pflichten aus dem Eintrage deutlich ergeben, ist dieser für den Inhalt der Dienstbarkeit massgebend. |
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1 | Soweit sich Rechte und Pflichten aus dem Eintrage deutlich ergeben, ist dieser für den Inhalt der Dienstbarkeit massgebend. |
2 | Im Rahmen des Eintrages kann sich der Inhalt der Dienstbarkeit aus ihrem Erwerbsgrund oder aus der Art ergeben, wie sie während längerer Zeit unangefochten und in gutem Glauben ausgeübt worden ist. |
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SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 733 - Der Eigentümer ist befugt, auf seinem Grundstück zugunsten eines andern ihm gehörigen Grundstückes eine Dienstbarkeit zu errichten. |
BGE 108 II 542 S. 546
Willensbildung der Parteien bestimmend waren, nicht berücksichtigt werden" dürfen. Auch seiner Meinung nach sind die im Erwerbstitel zum Ausdruck gelangenden Willenserklärungen jedoch in dem Sinne massgebend, "in welchem sie von einem aufmerksamen, sachlich denkenden Menschen nach Treu und Glauben verstanden werden". (LIVER, 2. Aufl., N. 94 zu Art. 738
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SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 738 - 1 Soweit sich Rechte und Pflichten aus dem Eintrage deutlich ergeben, ist dieser für den Inhalt der Dienstbarkeit massgebend. |
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1 | Soweit sich Rechte und Pflichten aus dem Eintrage deutlich ergeben, ist dieser für den Inhalt der Dienstbarkeit massgebend. |
2 | Im Rahmen des Eintrages kann sich der Inhalt der Dienstbarkeit aus ihrem Erwerbsgrund oder aus der Art ergeben, wie sie während längerer Zeit unangefochten und in gutem Glauben ausgeübt worden ist. |
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SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 738 - 1 Soweit sich Rechte und Pflichten aus dem Eintrage deutlich ergeben, ist dieser für den Inhalt der Dienstbarkeit massgebend. |
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1 | Soweit sich Rechte und Pflichten aus dem Eintrage deutlich ergeben, ist dieser für den Inhalt der Dienstbarkeit massgebend. |
2 | Im Rahmen des Eintrages kann sich der Inhalt der Dienstbarkeit aus ihrem Erwerbsgrund oder aus der Art ergeben, wie sie während längerer Zeit unangefochten und in gutem Glauben ausgeübt worden ist. |
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SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag OR Art. 18 - 1 Bei der Beurteilung eines Vertrages sowohl nach Form als nach Inhalt ist der übereinstimmende wirkliche Wille und nicht die unrichtige Bezeichnung oder Ausdrucksweise zu beachten, die von den Parteien aus Irrtum oder in der Absicht gebraucht wird, die wahre Beschaffenheit des Vertrages zu verbergen. |
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1 | Bei der Beurteilung eines Vertrages sowohl nach Form als nach Inhalt ist der übereinstimmende wirkliche Wille und nicht die unrichtige Bezeichnung oder Ausdrucksweise zu beachten, die von den Parteien aus Irrtum oder in der Absicht gebraucht wird, die wahre Beschaffenheit des Vertrages zu verbergen. |
2 | Dem Dritten, der die Forderung im Vertrauen auf ein schriftliches Schuldbekenntnis erworben hat, kann der Schuldner die Einrede der Simulation nicht entgegensetzen. |
3. Im vorliegenden Fall ergab sich für die Beklagte aus dem als Erwerbsgrund dienenden Grundbuchbeleg, dass die im Grundbuch
BGE 108 II 542 S. 547
als Recht und gleichzeitig als Last eingetragene Baubeschränkung in einer Begrenzung der zulässigen Geschosse auf ein Untergeschoss, ein Obergeschoss und ein Dachgeschoss sowie im Verbot von Flachdächern bestand. An diese Umschreibung des Servitutsinhalts durfte sie sich halten. Sie war nicht verpflichtet, den für die Errichtung dieser Baubeschränkung massgebenden Beweggründen weiter nachzuforschen, indem sie z.B. L. über die von ihm mit der Dienstbarkeit verfolgten Absichten befragte. Der in der Berufungsantwort hervorgehobene Umstand, der Beklagten sei anlässlich des Erwerbs der belasteten Liegenschaft bekannt gewesen, dass verschiedene Nachbarn das Bauprojekt als mit der Dienstbarkeit in Widerspruch stehend bekämpften, ist für die Frage des Umfangs der Baubeschränkung ohne Bedeutung. Nachdem im Erwerbstitel keine weitergehende Beschränkung der Baufreiheit vorgesehen war als die Begrenzung der Geschosszahl und das Verbot von Flachdächern, durfte die Beklagte ungeachtet der von den Nachbarn vertretenen Auffassung davon ausgehen, dass sich der Inhalt der Dienstbarkeit darin erschöpfe. Auch die bisherige Art der Quartierüberbauung gab ihr keinen Anlass, die Dienstbarkeit anders zu verstehen, als sie im Erwerbstitel formuliert war. Wenn die andern Grundeigentümer ihre Parzellen baulich nicht stärker genutzt hatten, musste, von der Geschosszahl abgesehen, der Grund hiefür entgegen der Auffassung der Kläger nicht in der Baubeschränkungsservitut gesucht werden, die auf jedem Grundstück lastete. Die Beklagte durfte vielmehr davon ausgehen, dass sie unabhängig von der Bauweise der Nachbarn berechtigt sei, auf ihrem Grundstück ein Gebäude zu errichten, das der Umschreibung der Dienstbarkeit im Erwerbstitel entspreche. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Zweck der Dienstbarkeit, den die Beklagte auf Grund des Wortlauts des Errichtungsaktes in guten Treuen als massgebend betrachten durfte. Die von L. mit der Servitutsbegründung verfolgten Absichten haben im Erwerbstitel nur insoweit ihren Niederschlag gefunden, als die Zahl der zulässigen Baugeschosse und die Art der Dachgestaltung beschränkt wurden. Als Zweck der Dienstbarkeit liess sich daraus in keiner Weise eine allgemeine Beschränkung des Bauvolumens und insbesondere keine solche des Gebäudegrundrisses ableiten, sondern höchstens eine solche der Gebäudehöhe und der Dachgestaltung. Aber auch die Höhenbegrenzung war bloss eine ungefähre, da sie sich nur in unbestimmter Weise aus der Beschränkung der Geschosszahl ergab.
BGE 108 II 542 S. 548
Dadurch, dass die Vorinstanz auf Grund der Zeugenaussagen von L. der Servitut einen weit über ihren Wortlaut hinausreichenden Inhalt beilegte, hat sie die sich aus dem Bundesrecht ergebenden Grundsätze über die Auslegung der Dienstbarkeiten verletzt. Ungeachtet der vom Urheber der Baubeschränkung verfolgten Absichten kann als Zweck der Dienstbarkeit nicht eine allgemeine Beschränkung der äusseren Dimensionen der Bauten auf den Dienstbarkeitsparzellen anerkannt werden. Dass das Bauprojekt der Beklagten hinsichtlich der Gebäudelänge und -breite erheblich von den übrigen Gebäuden in diesem Gebiet abweicht und ein wesentlich grösseres Bauvolumen als diese aufweist, verstösst deshalb nicht gegen die Servitut. Auf die subjektiven Vorstellungen von L. kann es im Gegensatz zur Auffassung der Vorinstanz und der Kläger nicht ankommen. Unmassgeblich ist auch, von welchen Überlegungen sich die übrigen Grundeigentümer bei der Überbauung ihrer Parzellen haben leiten lassen. Entscheidend ist allein, dass sich dem zu den Grundbuchbelegen gehörenden Errichtungsakt keine weitergehende Beschränkung der Baufreiheit als die Begrenzung der Geschosszahl und das Verbot von Flachdächern entnehmen lässt.