BGE-108-II-375
Urteilskopf
108 II 375
72. Urteil der II. Zivilabteilung vom 10. Juni 1982 i.S. X. (Berufung)
Regeste (de):
- Tod des Inhabers der elterlichen Gewalt bei einem Kind geschiedener Eltern; Übertragung der elterlichen Gewalt auf den überlebenden Elternteil.
- 1. Zuständig, ein Kind geschiedener Eltern nach dem Tod des Inhabers der elterlichen Gewalt unter die elterliche Gewalt des überlebenden Elternteils zu stellen, ist nicht nur der Richter (Art. 157
ZGB), sondern auch die Vormundschaftsbehörde (Ergänzung der Rechtsprechung; E. 2).
- 2. Hat jedoch die Vormundschaftsbehörde gestützt auf Art. 368 Abs. 1
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 368 - 1 Sind die Interessen der auftraggebenden Person gefährdet oder nicht mehr gewahrt, so trifft die Erwachsenenschutzbehörde von Amtes wegen oder auf Antrag einer nahestehenden Person die erforderlichen Massnahmen.
Regeste (fr):
- Mort du détenteur de l'autorité parentale dans le cas d'un enfant de parents divorcés; transfert de l'autorité parentale au parent survivant.
- 1. La compétence de soumettre l'enfant de parents divorcés, après la mort du détenteur de l'autorité parentale, à l'autorité parentale du parent survivant appartient non seulement au juge (art. 157 CC), mais également à l'autorité tutélaire (complément à la jurisprudence; consid. 2).
- 2. Lorsque cependant l'autorité tutélaire, se fondant sur l'art. 368 al. 1 CC, a déjà pourvu l'enfant d'un tuteur et rejeté une première demande du parent survivant tendant à être investi de l'autorité parentale, il ne reste plus à ce dernier que la voie de l'action en modification du jugement de divorce pour faire valoir son droit (consid. 3).
Regesto (it):
- Morte del detentore dell'autorità parentale nel caso di un figlio di genitori divorziati; trasferimento dell'autorità parentale al genitore superstite.
- 1. Competente a porre il figlio di genitori divorziati, dopo la morte del detentore dell'autorità parentale, sotto l'autorità parentale del genitore superstite non è soltanto il giudice (art. 157 CC), ma anche l'autorità tutoria (completamento della giurisprudenza; consid. 2).
- 2. Ove tuttavia l'autorità tutoria, fondandosi sull'art. 368 cpv. 1 CC, abbia già sottoposto il figlio a tutela e respinto una prima domanda del genitore superstite tendente ad ottenere l'autorità parentale, rimane a tale genitore aperta solo la via di un'azione diretta alla modifica del giudizio di divorzio (consid. 3).
Sachverhalt ab Seite 376
BGE 108 II 375 S. 376
Die am 1. Februar 1970 geborene A. X. wurde bei der Scheidung ihrer Eltern unter die elterliche Gewalt der Mutter gestellt. Nachdem diese gestorben und das Mädchen unter Vormundschaft gestellt worden war, reichte der Vater B. X. bei der zuständigen Vormundschaftsbehörde das Begehren ein, die Vormundschaft sei aufzuheben und das Mädchen sei unter seine elterliche Gewalt zu stellen. Die Vormundschaftsbehörde wies das Begehren am 9. November 1979 ab, und der Regierungsstatthalter bestätigte diesen Entscheid am 10. Juni 1980/5. Februar 1981. B. X. zog die Sache an den Regierungsrat weiter, der am 26. Mai 1981 entschied, auf die Beschwerde werde nicht eingetreten. Gleichzeitig überwies der Regierungsrat die Akten an das kantonale Obergericht. Mit Entscheid vom 12. Oktober 1981 anerkannte dieses die Zuständigkeit der Zivilgerichte, und am 22. Dezember 1981 entschied der Appellationshof (II. Zivilkammer),
BGE 108 II 375 S. 377
auf die Appellation werde nicht eingetreten, da es an einem erstinstanzlichen richterlichen Entscheid fehle. Gegen das Urteil des Appellationshofes hat B. X. beim Bundesgericht sowohl staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4

SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Strittig ist, wer bezüglich eines Kindes geschiedener Eltern zu einer Übertragung der elterlichen Gewalt auf den überlebenden Elternteil zuständig sei, wenn der Elternteil, dem der Scheidungsrichter das Kind zugewiesen hatte, gestorben ist. Während die Vorinstanz dafür hält, eine solche Anordnung könne nicht von der Vormundschaftsbehörde getroffen werden, sondern falle ausschliesslich in die Kompetenz des Richters, der mit einer Klage auf Abänderung des Scheidungsurteils anzurufen sei, stellt sich der Berufungskläger auf den Standpunkt, der Richter brauche in einem solchen Fall nicht von Anfang an mit der Sache befasst zu sein; es genüge, wenn - in Analogie zur Entziehung der elterlichen Gewalt (Art. 314 Ziff. 1

SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 314 - 1 Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar. |

SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 315a - 1 Hat das Gericht, das für die Ehescheidung oder den Schutz der ehelichen Gemeinschaft zuständig ist, die Beziehungen der Eltern zu den Kindern zu gestalten, so trifft es auch die nötigen Kindesschutzmassnahmen und betraut die Kindesschutzbehörde mit dem Vollzug.452 |

BGE 108 II 375 S. 378
Entscheid eine ausschliessliche Zuständigkeit des Abänderungsrichters ableiten zu können. Die Frage einer allfälligen konkurrierenden Zuständigkeit der Vormundschaftsbehörde bleibt daher zu prüfen.
2. a) Gemäss Art. 315a Abs. 3

SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 315a - 1 Hat das Gericht, das für die Ehescheidung oder den Schutz der ehelichen Gemeinschaft zuständig ist, die Beziehungen der Eltern zu den Kindern zu gestalten, so trifft es auch die nötigen Kindesschutzmassnahmen und betraut die Kindesschutzbehörde mit dem Vollzug.452 |

SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 315a - 1 Hat das Gericht, das für die Ehescheidung oder den Schutz der ehelichen Gemeinschaft zuständig ist, die Beziehungen der Eltern zu den Kindern zu gestalten, so trifft es auch die nötigen Kindesschutzmassnahmen und betraut die Kindesschutzbehörde mit dem Vollzug.452 |

SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 307 - 1 Ist das Wohl des Kindes gefährdet und sorgen die Eltern nicht von sich aus für Abhilfe oder sind sie dazu ausserstande, so trifft die Kindesschutzbehörde die geeigneten Massnahmen zum Schutz des Kindes. |

SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 307 - 1 Ist das Wohl des Kindes gefährdet und sorgen die Eltern nicht von sich aus für Abhilfe oder sind sie dazu ausserstande, so trifft die Kindesschutzbehörde die geeigneten Massnahmen zum Schutz des Kindes. |

SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 368 - 1 Sind die Interessen der auftraggebenden Person gefährdet oder nicht mehr gewahrt, so trifft die Erwachsenenschutzbehörde von Amtes wegen oder auf Antrag einer nahestehenden Person die erforderlichen Massnahmen. |
BGE 108 II 375 S. 379
gestorben war. Zu prüfen ist nun, ob daraus der Schluss gezogen werden darf, die Vormundschaftsbehörde wäre auch befugt gewesen, das Kind statt dessen unter die elterliche Gewalt seines Vaters, des Berufungsklägers, zu stellen oder in diesem Sinne auf ihren ursprünglichen Entscheid zurückzukommen. Die Antwort darauf hängt auch ihrerseits von der Tragweite des Art. 157



SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 298 - 1 In einem Scheidungs- oder Eheschutzverfahren überträgt das Gericht einem Elternteil die alleinige elterliche Sorge, wenn dies zur Wahrung des Kindeswohls nötig ist. |

SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 298 - 1 In einem Scheidungs- oder Eheschutzverfahren überträgt das Gericht einem Elternteil die alleinige elterliche Sorge, wenn dies zur Wahrung des Kindeswohls nötig ist. |
BGE 108 II 375 S. 380
Abänderungsrichter das Begehren stellen kann, es sei die im Scheidungsurteil dem nunmehr verstorbenen Elternteil zugesprochene elterliche Gewalt auf ihn zu übertragen. In dieser Frage ist die Zuständigkeit des Abänderungsrichters mithin nicht eine ausschliessliche. Sie bleibt jedoch in jedem Fall vorbehalten (BGE 107 II 104 f.). Unterbleibt aber ein Antrag des überlebenden Elternteils, hat die Vormundschaftsbehörde von Amtes wegen dafür zu sorgen, dass das minderjährige Kind nicht ohne gesetzlichen Vertreter bleibt.
3. Die Vormundschaftsbehörde der Stadt Y. hätte dennoch auf das im Jahre 1979 gestellte Begehren des Berufungsklägers auf Übertragung der elterlichen Gewalt nicht mehr eintreten dürfen. Dadurch, dass nach dem Tode der im Scheidungsurteil zur Inhaberin der elterlichen Gewalt bestimmten Mutter im Jahre 1973 von Amtes wegen ein Vormund bestellt worden war, wurde die im Zusammenhang mit dem Scheidungsurteil aufgetretene Lücke geschlossen. Die Anordnung einer Vormundschaft bedeutete aber - wie es auch die Abweisung eines gleich nach dem Tod der früheren Ehefrau gestellten Begehrens um Übertragung der elterlichen Gewalt bedeutet hätte - eine Bestätigung der scheidungsrichterlichen Kindeszuteilung. Dies allerdings in einschränkender Weise, weil aus einem solchen vormundschaftlichen Entscheid auch der Schluss zu ziehen ist, dass der Berufungskläger nicht für geeignet gehalten wird, seine Tochter zu pflegen und zu erziehen. Ist aber ein Scheidungsurteil in dieser Weise durch die Vormundschaftsbehörde bestätigt worden und will sich der überlebende der geschiedenen Ehegatten damit nicht abfinden, so kann er nur noch Klage auf Abänderung des Scheidungsurteils erheben. Dadurch allein lässt sich ein der Rechtssicherheit abträglicher konkurrierender Instanzenzug vermeiden. Nach dem von Amtes wegen getroffenen Entscheid der Vormundschaftsbehörde, der in die Zeit vor der Änderung des Kindesrechts fällt, musste daher dem Berufungskläger auch unter neuem Recht ein erneuter Zugang zur Vormundschaftsbehörde verschlossen bleiben. Auch unter neuem Recht bleibt in diesem Fall nur die Abänderung des Scheidungsurteils offen. Aus dem Gesagten erhellt somit, dass sich die Vorinstanz im Ergebnis zu Recht für unzuständig betrachtet hat, das Begehren des Berufungsklägers materiell zu beurteilen. Ist nach dem Gesagten gegen einen ein Scheidungsurteil im Ergebnis bestätigenden Entscheid der Vormundschaftsbehörde betreffend die Übertragung der elterlichen Gewalt auf den
BGE 108 II 375 S. 381
überlebenden von zwei geschiedenen Ehegatten nur eine Abänderungsklage gemäss Art. 157


SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 ZGB Art. 314 - 1 Die Bestimmungen über das Verfahren vor der Erwachsenenschutzbehörde sind sinngemäss anwendbar. |
Gesetzesregister
BV 4
ZGB 156ZGB 157
ZGB 298
ZGB 307
ZGB 314
ZGB 315 a
ZGB 368
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
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